„Die Frage nach dem Konzertformat steht immer im Raum.“ – MATTHIAS KRANEBITTER (BLACK PAGE ORCHESTRA) IM MICA-INTERVIEW

Der Komponist MATTHIAS KRANEBITTER feiert heuer mit seinem BLACK PAGE ORCHESTRA das zehnjährige Bestehen: mit einem Jubiläumskonzert beim unsafe+sounds Festival und mit der Veröffentlichung des ersten Albums (Eigen-Label: Black Page Records). Vom Start im ehemaligen Artspace OBEN, Konzerten in der Arena Wien bis zu einem Zyklus im Musikverein reicht die erstaunliche Entwicklung dieser formatsprengenden Formation. Ruth Ranacher und Michael Franz Woels trafen MATTHIAS KRANEBITTER zwischen den Proben für gleich zwei Performancestücke, die aktuell im Rahmen von Wien Modern präsentiert werden, und für die der Komponist mit einem Faible für sehr verdichtete Sounds ganz unterschiedliche Zugänge verfolgt.

Ursprünglich hast du das Blach Page Orchestra parallel mit dem unsafe+sounds gegründet, einem Festival, das du ab 2015 gemeinsam mit Shilla Strelka kuratiert hast – seit 2020 liegt die Kuratierung alleine bei Shilla Strelka – um diese experimentierfreudige, kompromisslose Musik überhaupt aufführen zu können.

Matthias Kranebitter: Gegenüber vom Semper Depot [Anm.: Atelierhaus der Akademie der bildenden Künste Wien] gab es ein leerstehendes Dachgeschoss, in das Büros reingebaut wurden. Diese „Oben“ genannten Räumlichkeiten waren nicht einmal eine offizielle Zwischennutzungs-Location. Ich habe davon über einen Freund erfahren, der dort damals Technopartys und Clubbings veranstaltet hat.

Von einer temporären Party-Location bis hin zu einem Zyklus im Musikverein. Wie würdest du die Entwicklung von Black Page Orchestra von damals bis heute beschreiben?

Matthias Kranebitter: Auf jeden Fall nicht so linear, wie sie vielleicht wirkt. Zumindest ist alles nicht so linear gedacht und geplant gewesen, so nach dem Motto: „Wir wollen als Ensemble irgendwie in die großen Institutionen. Über welche Ecken kommen wir dort hin?“ Vieles hat sich auch zufällig ergeben. Mein erster Impuls für das Black Page Orchestra kam tatsächlich eben über diesen Kontakt zu ganz anderen musikalischen Szenen, zum experimentellen und elektronischen Underground. Deshalb eben auch die Gründung des unsafe+sounds Festivals. Und das hat tatsächlich dann auch für unser Ensemble Bekanntheit generiert.

Die Konzerte im Musikverein waren wirklich ein Zufallsding: Ein paar von unseren Musiker:innen haben dort bei Kinder-Musikprojekten gespielt. Andrea Wolowiec, die Kuratorin der neuen Säle im Musikverein, hat sich dann aus Interesse nach den anderen Projekten der Musiker:innen erkundigt, und so ist sie auf unser Black Page Orchestra zugekommen und hatte gleich Interesse, es mit einem Zyklus zu probieren. Gleichzeitig haben wir im ersten Pandemie-Jahr gestartet. Die Planung war dadurch schwierig und die Entwicklung schwer abzuschätzen. Dann gab es doch eine zweite Saison. Und es hat sich publikumsmäßig ganz gut eingespielt, vor allem dann auch mit den Kooperationskonzerten mit Wien Modern, die wir jetzt schon zum dritten Mal haben.

Und ja, das Interesse von Seiten des Musikvereins ist gestiegen. So kamen mit der Zeit immer bessere Bedingungen für uns zustande. Denn anfangs war dieser Abonnement-Zyklus mit drei Eigenveranstaltungen pro Jahr eigentlich für unser Gesamtjahresbudget zu viel. Das hat sich jetzt geändert, die letzten zwei Male hatten wir immer ein Event in Ko-Produktion mit dem Musikverein.  Die aktuelle, bei Wien Modern präsentierte Produktion „O! A Biografie“, die jetzt im Tanzquartier Wien stattfindet, läuft in diesem Musikverein-Zyklus und ist eine Kooperation mit dem Musikverein. Wir planen gerade den Zyklus für 2025 und 2026, diesmal wieder mit drei Konzerten, die im „Gläsernen Saal“ stattfinden werden.

Es ist also eine Konstante, dass ihr mit vielen verschiedenen Partner:innen zusammenarbeitet?

Matthias Kranebitter: Genau. Ich find eben diese Offenheit in alle Richtungen spannend. Dass wir das Glück haben, momentan ein „Zuhause“ im Musikverein gefunden zu haben, soll ja nicht bedeuten: „So, jetzt machen wir es uns gemütlich und verbringen damit unsere nächsten Jahrzehnte.“ Es hat ja eben auch alles Vor- und Nachteile. Und unsere Zehnjahres-Feier des Black Page Orchestra haben wir dann auch bewusst wieder ins unsafe+sounds Festival gelegt. Dort haben wir heuer zum ersten Mal seit drei Jahren wieder gespielt. Natürlich zum einen, weil das gemeinsam vor zehn Jahren gegründet wurde, aber zum anderen auch, weil ich diese Off-Locations und diese Szene vermisst habe. Der Vorteil beim Musikverein ist natürlich, dass eine gute Infrastruktur da ist. Wenn ich jetzt an das erste Konzert im Artspace OBEN denke – da musste wirklich jeder Stromverteiler hingetragen und danach alles selbst geputzt werden.

Black Page Orchestra (c) Igor Ripak
Black Page Orchestra (c) Igor Ripak

„RÜCKBLICKEND STELLE ICH FEST: DIE MEISTEN VERANSTALTUNGSORTE, AN DENEN WIR GESPIELT HABEN, EXISTIEREN NICHT MEHR.“

Angenommen, du würdest heuer ein Projekt wie das Black Page Orchestra starten. Was hat sich sozusagen an der Situation von Räumlichkeiten in der Stadt geändert? Glaubst du, hättest du heute ähnliche Startbedingungen?

Matthias Kranebitter: Ich muss natürlich zugeben, dass ich durch diesen Konzertzyklus im Musikverein momentan wenig am „Location-Scouting“ bin, da wir glücklicherweise darauf gerade nicht angewiesen sind. Ich bin aber immer sehr interessiert, wenn ich eine Einladung zu einem Ort bekomme, an dem ich noch nie war und da schaue ich auch nach wie vor gerne hin. Rückblickend stelle ich fest: Die meisten Veranstaltungsorte, an denen wir gespielt haben, existieren nicht mehr. Zum Beispiel waren das der Blumenhof im zweiten Bezirk, die Nordbahnhalle, dann eben der Artspace OBEN vom allerersten Mal. Der Kulturverein Mo.ë ist auch weggefallen.

Wie schätzt du generell euer Stammpublikum ein?

Matthias Kranebitter: Es kommt, glaube ich, immer drauf an, wo man die Konzerte veranstaltet. Aber das Publikum mischt sich auch viel. Das ist ja auch das, was wir natürlich immer anstreben. Ich habe eigentlich immer das Gefühl, dass auch sehr viele Leute zu unseren Konzerten kommen, die sonst nicht in den Musikverein gehen. Aber wir haben dort schon auch ein für uns neues, älteres Publikum gewonnen, das dann wiederum zum Beispiel zu unserer Zehnjahresveranstaltung oder zu anderen Konzerten, die dann außerhalb in Off-Spaces stattfinden, kommt. So richtig analytisch betrachten und werten wir die Zielgruppen und unser Publikum jetzt noch nicht aus.

Als Komponist beschäftigst du dich oft mit Aspekten der Medienkunst und -nutzung. Welche gesellschaftlichen Entwicklungen oder Phänomene interessieren oder beschäftigen dich zur Zeit vor allem?

Matthias Kranebitter: Ich will jetzt nicht zu zukunftspessimistisch klingen, aber meine grundlegende Frage war immer: Was machen all diese Datenmengen mit unserem Gehirn?  Evolutionär betrachtet war unser Gehirn eigentlich eher ein Filter, der Informationen weglassen musste, weil die umgebende Welt ja immer schon zu viele Informationen beinhaltet hat. Jetzt werden diese Informationen über digitale Kanäle so extrem verdichtet, verstärkt durch diesen kapitalistischen Wettbewerb nach Aufmerksamkeit. Eine brutale Attacke auf unser Gehirn, die natürlich auch gesellschaftspolitische Auswirkungen hat.

Von der ästhetischen Seite her interessieren mich psychologische Phänomene wie die Clustering-Illusion. Bei einer extrem hohen Dichte an Informationen versucht das Gehirn, darin Muster zu entdecken. Ein Beispiel wäre ein flimmernder Fernsehbildschirm, in dem das Gehirn plötzlich Figuren oder Gestalten zusammenzufassen versucht, die eigentlich gar nicht vorhanden sind. Auch bei hohen akustischen Reizen kann es passieren, dass scheinbar plötzlich irgendwelche Stimmen hörbar werden, die eigentlich nicht da sind.

„VOR ZWEI JAHREN HABE ICH EIN ORCHESTERSTÜCK GESCHRIEBEN, BEI DEM ICH MIT MACHINE LISTENING SYSTEMEN IN IRONISCHER ART UND WEISE GEARBEITET HABE.“

Mich fasziniert dabei, dass dadurch eigentlich klar wird, dass es keine objektive „Realität“ außerhalb von uns und getrennt von unserer Wahrnehmung gibt, beziehungsweise dass man gar keine klare Grenze zwischen dem „Innen“ und „Außen“ setzen kann. Und die gesellschaftspolitischen Folgen, wenn man es negativ betrachtet, sind natürlich Gefahren wie jenes Phänomen, das gemeinhin mit „Fake News“ betitelt wird – Manipulationen und Konstruktionen von „Realitäten“, die dann verkauft und konsumiert werden. Für mich gibt es aber auch viele technologische Entwicklungen, die ich äußerst spannend finde. Vor zwei Jahren habe ich das Orchesterstück „60 Auditory Scenes for Investigating Cocktail Party Deafness“ geschrieben, bei dem ich mit Machine-Listening-Systemen in ironischer Art und Weise gearbeitet habe.

Dieses Phänomen, dass das menschliche Gehirn aus einem Chaos, aus einer dichten Struktur Informationen relativ gut rausholen kann, finde ich sehr interessant, den sogenannten Cocktail-Party-Effekt: Man kann einem Gegenüber, einer einzelnen Stimme akustisch folgen, obwohl ein Computer in dieser Gesamtklangmasse nichts raushören kann, weil einfach zu viele verschiedene Schallwellen präsent sind. Die Erklärung ist möglicherweise eine Art von Gewohnheit beim räumlichen Hören: Die Ohrmuschel ermöglicht extrem minimale Filterunterschiede und damit die Art, wie wir Raum wahrnehmen. Als weitere mögliche Erklärung dient auch die Art und Weise, wie das Gehirn zum Beispiel Gesichter erkennt. Es ist gewohnt, die Informationen und Unterschiede extrem stark wahrzunehmen. Mittlerweile ist dieser Aspekt der Gesichtserkennung für einen Computer auch relativ gut gelöst. Beim Cocktailparty-Effekt weiß ich nicht genau, wie die letzten Jahre jetzt entwicklungstechnisch bei der Computererkennung gelaufen sind, aber da gibt es natürlich auch sehr viel Interesse von Seiten der Industrie und deshalb passieren auf dem Gebiet wohl momentan bestimmt auch große Fortschritte.

Uns interessiert dein Zugang zur „Enthierarchisierung und Relativierung“ von kompositorischen Dogmen und Tabus. Bitte um ein paar Beispiele deines konzeptionellen Ansatzes.

Matthias Kranebitter: Ich muss sagen, dass sich diese Aspekte auf mein erstes Statement über meine Musik auf meiner Webseite beziehen. Es war mein allererster persönlicher Ansatz im Bezug auf neue Musik, heute sehe ich das nicht mehr ganz so und bin auch nicht sicher, ob es so etwas wie eine abgeschlossene „Neue Musik“ überhaupt noch gibt, da mir diese ganzen Ränder eigentlich schon sehr aufgebrochen scheinen. Formuliert habe ich diesen Satz damals vor wahrscheinlich fünfzehn Jahren. Bei meinen ersten Stücken habe ich mit ganz billigen Midi-Klängen gearbeitet und bewusst mit Material aus Alltagsgeräuschen, die hochkulturell nichts Besonderes hatten. Das war mein „karnevalistischer Ansatz“ im Sinne Michail Bachtins, die Enthierarchisierung, die Mesalliance des Niedrigen mit dem vermeintlich Hohen, wie im mittelalterlichen Karneval. Ich baue oft Texturen mit einer großen Anzahl an Samples, in denen der einzelne Sound wenig Gewicht hat. Da greifen algorithmische, stochastische Regeln, die die großen Mengen an Klängen steuern, quasi Klangschwärme, wo kompositorische Entscheidungen dann auch nur auf der Makroebene relevant sind, eben statistische Klänge.

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Ihr macht euch bezüglich der einzelnen Formate bei Veranstaltungen auch viele Gedanken. Wie hat sich euer Zugang verändert?

Matthias Kranebitter: Die Frage nach dem Konzertformat steht immer im Raum. Es ist natürlich meist sehr ortsspezifisch gedacht. Den Gläsernen Saal im Musikverein zum Beispiel wollten wir letztes Jahr bei Wien Modern unter dem Motto „Immersion“ mit einer möglichst dezentralen Ausrichtung des Raumes bespielen. Dabei sind wir allerdings dann eigentlich an der Architektur des Raumes gescheitert, da wir letztlich feststellen mussten, dass, wenn man die klassische Bühnensituation verlässt, man mit wahnsinnig vielen Sichteinschränkungen im Publikumsbereich konfrontiert wird. Nächstes Jahr im Mai wollen wir gemeinsam mit Marino Formenti ein neues Projekt im Musikverein präsentieren, The Morricone Project, über die Musik bzw. jegliche mögliche Assoziation zu dem legendären Filmkomponisten Ennio Morricone. Es wird auch wieder darum gehen, einen gesamtdramaturgischen Abend zu planen, diesmal gemeinsam mit einem Regisseur. Idealerweise soll es weit über das übliche Konzertformat hinausgehen. Viel verraten kann ich da noch nicht, da wir noch in der Konzeptentwicklung sind, denn es muss ja auch einen schlüssigen künstlerischen Grund dafür geben, das klassische Setup aufzulösen. Es geht darum, dass man das bis an die Grenzen denkt.

Kommen wir jetzt wieder zu den aktuellen Produktionen im Rahmen von Wien Modern.

Matthias Kranebitter: Wir gehen Kooperationen mit vielen Institutionen, mit vielen Künstler:innen ein, Wien Modern ist absolut ein wichtiger, zentraler Publikumsmagnet. Die Produktion „O! A Biography“ habe ich mit Eva-Maria Schaller schon seit ein paar Jahren in Planung. Wir haben dann glücklicherweise eine Förderung von der MA7 dafür bekommen.

Dann sind wir – neben Bettina Kogler vom Tanzquartier Wien – auch an Bernhard Günther [Anm.: künstlerischer Leitung Wien Modern] herangetreten und haben ihn zusätzlich als Ko-Produktionspartner gewinnen können. Die andere Produktion mit Anne Juren hat sich tatsächlich aus einer Initiative von Bernhard Günther selbst ergeben. Er hat mir vorletztes Jahr bei Wien Modern Anne Juren vorgestellt. Sie war auf der Suche nach einem Komponisten für ihr neues Werk, das sie im Rahmen von Wien Modern machen wollte.

Zu den beiden Stücken bei Wien Modern. Musik, Bild, Bewegung. Es geht um das Bauen von Welten. Konkurrieren die miteinander?

Matthias Kranebitter: Schon allein vom Zugang, von der Arbeitsweise her sind die Stücke unterschiedlich und führen so für mich auch zu unterschiedlichen musikalischen Resultaten. Bei „O! A Biography“ mit Eva-Maria Schaller gibt es ein größeres Tanz-Ensemble, dem auch ein größeres Musiker:innen-Ensemble gegenübersteht. Nicht nur aufgrund des größeren Orchesterapparats, auch da bei dem Stück konzeptuell gleich sehr klar war, was musikalisch in den unterschiedlichen Szenen passieren soll, musste ich einfach mit einer klar definierten Partitur von Anfang bis Ende arbeiten. Es geht um Evas persönliche Biografie als Tänzerin und ihre Erinnerungen an Bühnenrollen, die sie in ihrer Entwicklung als Tänzerin verkörperte und welche sie geprägt haben. Dadurch gibt es in jeder Szene schon ganz klare musikhistorische Referenzen. Das heißt also, es gibt ein musikalisches Konzept, an dem ich mich orientiere – in den verschiedensten Musikstilen versuche ich in einem Abstraktionsprozess etwas zu finden, eine Art Samenkorn, aus dem ich dann meine eigene Musik wachsen lasse. Das kann einerseits formal „mathematisch“ sein, also Algorithmen aus der historischen Musik zu destillieren, andererseits aber auch direkt intuitiv/assoziativ, wie beispielsweise der Zusammenhang zwischen Mozart’schen Melodiebögen und den Regeln der Gravitation.

„ICH WEISS NOCH, WIR HATTEN EINE SITZUNG MIT EINEM OSTEOPATHEN UND FÜR MICH HAT SICH WIRKLICH EINE NEUE WELT AUFGETAN.“

Und bei „We are all mothers WAAM“ von Anne Juren wiederum gab es einen medizinischen Zugang zum Körper. Ich weiß noch, wir hatten eine Sitzung mit einem Osteopathen und für mich hat sich wirklich eine neue Welt aufgetan. Das Stück hat sich dann langsam aus der Arbeit mit den Performer:innen, die später dazukamen, herausgeschält. Im September hatten wir eine intensive zweiwöchige Probenphase mit den vier Musiker:innen sowie den Performer:innen. Es wurde anfangs viel aus Improvisationen heraus entwickelt, woraus ich dann bestimmte musikalische Ideen übernehmen konnte. Daraus habe ich wiederum die Elektronik entwickelt und Teile des Stücks sind nun doch durchkomponiert, allerdings muss es hier auch gewisse Freiheiten für die Musiker:innen geben, da sie selber auch in der Performance aktiv mitmachen.

Das wäre meine nächste Frage: Sind die Musiker:innen auch Performer:innen?

Matthias Kranebitter: Bei dem Stück „We are all mothers WAAM“sind sie wirklich im Geschehen: nur an ein paar Stellen im Stück können wir mit Notenständern arbeiten, da bekommen sie dann gleich mehr Noten, und wenn sie in Bewegung auf der Bühne sind, dann muss man vorher klare Anweisungen machen, die ihnen aber auch Freiheiten erlauben. Es gibt diese vier Abschnitte, in denen es immer um einen der Körper geht, und jede:r Performer:in ein körperliches Trauma erzählt. Bei Anne Juren war es ein Moment, als sie einmal ohnmächtig wurde, stürzte und ein Blackout hatte. Vorübergehende Stummheit durch die Umstellung auf ein anderes Land und eine andere Sprache ist ein anderes Trauma-Thema; Das Nicht-Sprechen-Wollen beziehungsweise das Nicht-Sprechen-Können. Oder auch Asymmetrien im Hören. Reale Biografien werden umgesetzt als kollektive Erfahrungen.

Ihr nennt die Arbeit ja bewusst auch musikalisch-choreografische Komposition. Also ist beides gleichwertig?

Matthias Kranebitter: Ausgehend von einem gemeinsamen Kern entwickeln wir musikalisches und choreografisches Material zu vier verschiedenen Trauma-Themen. Das kann manchmal auch parallel einherlaufen, muss es aber nicht.Die Entwicklung war wirklich sehr prozesshaft. Dann hatten wir im September die Arbeit direkt mit den Musiker:innen, wo ich ihnen anfangs lediglich Anleitungen zum Improvisieren gab. Nach diesen Proben im September wurde der Gesamtablauf  formal konkreter und detaillierter, auch die Übergänge zwischen den vier Blöcken und die zeitlichen Abläufe, die dann eine gesamtdramaturgische Strukturgestalt annehmen.

Wie wichtig ist die visuelle Ebene für dich? Inwiefern beeinflusst sie die Wahrnehmung von zeitgenössischer Musik?

Matthias Kranebitter:In der Kunst inspirieren mich vor allem Experimentalfilme, wie beispielsweise von Michael Snow, Stan Brakhage oder Morgan Fisher. Also die visuelle Ebene spielt für mich immer eine Rolle. Auch bei reinen konzertanten Kompositionen suche ich oft eine narrative Ebene, mich interessiert das „Geschichtenerzählen“, und ich suche mir gerne auch außermusikalische Themen, die ich versuche, kompositorisch zu verhandeln. Anfang dieses Jahres habe ich „Investigating Gravitation“ geschrieben – für Viola, Akkordeon, Elektronik und Video. Der Zusammenhang zwischen unserem Gefühl von Musikalität und unserer Wahrnehmung von Gravitation beschäftigte mich dabei. Hier habe ich auch selbst das Video in dem Stück gemacht, also die visuelle Ebene mitkomponiert. Es geht bei der Suche nach dem Narrativen bei der Themensetzung schon immer auch um den Zusammenhang von Musik und Klang, also ein quasi „musik-immanentes“ Thema zu finden – wie beispielsweise eben auch die Komposition mit dem Machine-Listening-Test in meinem vorher bereits genannten Orchesterstück, oder Stücken zu unterschiedlichen Frequenzen, wie in meiner „Encyclopedia of Pitch and Deviation“. Narrative Musik im Sinne einer romantischen Programmmusik, Lautmalerisches wie zum Beispiel bei einer idyllischen Pastorale interessieren mich jetzt weniger.

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Und jetzt, bei den aktuellen Arbeiten, ist natürlich auch die Musik schon von vornherein so gedacht, dass es dazu Tanz gibt. Bei diesen Kompositionen ist bemerkbar, dass das Musik ist, die die tanzenden Körper in gewisser Weise schon mitdenkt. Es gibt oft klare rhythmische Entwicklungen und organische, musikalischen Gesten, ein Anschwellen und  Abschwellen, um sich körperliche Bewegungen oder körperliche Gesten – auch wieder in Bezug zu unserer planetaren Gravitation –dazu denken zu können.

„… ICH HÖRE DADURCH DANN MEINE MUSIK PLÖTZLICH VON EINEM GANZ ANDEREN HÖRWINKEL AUS, WAS OFT SEHR HILFREICH IST IM WEITEREN ARBEITSPROZESS.“

2022 gab es bei mica – music austria die Serie „Musikleben mit Kindern“. Wenn ich sehr persönlich fragen darf: Du hast eine kleine Tochter, wie hat sich dadurch dein Leben als Komponist geändert?

Matthias Kranebitter: Ja, es ist schon anders, weil man versucht, seine verbleibende Zeit konzentrierter zu gestalten. Unsere Tochter ist Ende 2019 geboren, dann kam auch die Pandemie. Ich habe jetzt schon das Gefühl, dass einige meiner Stücke fokussierter sind. Aber das ist vielleicht auch Zufall, oder auch nur, weil ich älter geworden bin. Was mir auch aufgefallen ist: Ich bin beim Komponieren langsamer geworden, aber das ist vielleicht auch einfach eine Alterserscheinung. Ich spiele meiner Tochter die Musik auch manchmal vor. Dann tanzt sie irgendwas dazu, was intuitiv sehr logisch und richtig erscheint und ich höre dadurch meine Musik plötzlich von einem ganz anderem „Hörwinkel“ aus, was im weiteren Arbeitsprozess oft sehr hilfreich ist. Auch bei Stücken, die nicht für Tanzprojekte vorgesehen sind. Ja, es ist schon immer interessant: Wie wird das von ihr wahrgenommen? Im Moment interessiert es mich besonders, denn für 2026 habe ich den Auftrag für ein Kinder-Musiktheater bekommen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Ruth Ranacher, Michael Franz Woels

Termine im Rahmen von Wien Modern:
Eva-Maria SchallerMatthias KranebitterO! A biography. Opéra-ballet mit Ensemble und Elektronik
Freitag, 15. und Samstag, 16. November 2024
Tanzquartier Wien, Halle G

Anne Juren / Matthias Kranebitter: WAAM – WE ARE ALL MOTHERS
28.–30. November 2024 und 1. Dezember 2024
Brut Nordwest

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Black Page Orchestra
Black Page Orchestra (Bandcamp)
Black Page Orchestra (music austria Musikdatenbank)
Matthias Kranebitter
Matthias Kranebitter (music austria Musikdatenbank)
„[…] dass jedes Konzert […] zu einer Grenzerfahrung wird.“ – Matthias Kranebitter (Black Page Orchestra) im mica-Interview