Die PHILHARMONIKER spielen Stille, das KLANGFORUM spielt Grafiken und PHACE spielt zu einem Film, der schon zehn Jahre vor der Machtergreifung die Shoah hellgesehen hatte. Das alles passiert jetzt gerade in Wien. Ein Festival ist dafür verantwortlich, das nach außen ein wenig sektiererisch wirken konnte, aber das ändert sich. WIEN MODERN entwickelt sich unter der Leitung von BERNHARD GÜNTHER rasant, noch nie wurde so viel gratis veranstaltet und draußen in den Bezirken und auch in den schönen Häusern der hohen Kunst wird groß gedacht und groß inszeniert. Stefan Niederwieser sprach mit BERNHARD GÜNTHER, der das mit viel Selbstbewusstsein geschafft hat, indem er Stiftungsgelder angezapft und Rückkopplungen verstärkt hat.
Haben Sie die „Stadt ohne Juden” schon gesehen?
Bernhard Günther: Den Film kenne ich, die Musik nicht, beziehungsweise nur die Partitur. Das Stück ist mehrdeutig und schillernd, eine Öffnung des musikalischen Raums. Olga Neuwirth geht mit einer gewissen Ironie ans Werk, aber auch mit Wut.
„Österreich war immer wieder ein Nährboden für Fremdenfeindlichkeit“
Olga Neuwirth äußert sich oft politisch, in ihren Werken ist das nicht ganz so deutlich. Das könnte hier anders sein.
Bernhard Günther: „Stadt ohne Juden” und „The Outcast” sind durchaus politisch, beide Stücke sind Zeitaussagen mit einer historischen Tiefendimension. Hugo Bettauer hat seinen visionären Roman in den 1920er-Jahren geschrieben und ihm den Untertitel „Roman von übermorgen“ gegeben. Er spielt darin gedanklich die Vertreibung der Juden und deren Folgen durch. Olga Neuwirth kannte den Roman und die Verfilmung, trotzdem hat sie lange gezögert, den Auftrag anzunehmen, weil sie sich der enormen Verantwortung bewusst war. Österreich war immer wieder ein Nährboden für Fremdenfeindlichkeit, schon in den 1880er-Jahren, als Karl Lueger mit Antisemitismus auf Stimmenfang ging, man findet das auch heute. Olga Neuwirth reagiert darauf, auch in der Musik.
Und „The Outcast”?
Bernhard Günther: Die „Hommage an Herman Melville“ ist aktueller, als man meinen könnte. Die Familie von Melville, dem Autor von „Moby Dick“, ist beim Börsencrash am berüchtigten Black Friday 1869 verarmt, menschliche Habsucht und Gier haben ihn immer beschäftigt. Schon 1851 hat er seinen absolut visionären Roman geschrieben – Klaus Nüchtern meinte einmal, habe man „Moby Dick“ gelesen, finde man „Ulysses” nicht mehr so beeindruckend. Zu Lebzeiten wurde Melville missverstanden, am Ende ist er verarmt und einsam gestorben. All das hat Olga Neuwirth inspiriert. Sie stellt Melville als Opernfigur neben seine Figuren auf die Bühne. Wir erleben also einerseits eine wilde Action-Geschichte mit einem furiosen Untergang, andererseits revoltieren die Figuren gegen den, der sie erfunden hat. Die Geschlechterrollen wechseln, ein Mann steckt in einer Frauenrolle und spielt in der Oper einen Mann, der Erzähler und einzige Überlebende Ishmael wird bei Olga Neuwirth zu Ishmaela. Es geht um Machtmissbrauch und um Gier.
Was ist zu Gottfried von Einem zu sagen, was noch nicht gesagt wurde?
Bernhard Günther: „Der Prozess“ ist sehr spröde, auch sehr radikal und sehr schön. Wir finden darin eine künstlerische Reaktion auf die McCarthy-Ära. Gegen diese radikale Ausgrenzungspolitik äußerte sich um 1950 künstlerischer Protest. Auch wenn das Stück zurückhaltend ist – man sieht die Vorboten gesellschaftskritischen Denkens. Die Gesellschaft in Österreich war in der Nachkriegszeit noch sehr autoritär, musikalisch konservativ, der Underground fand tatsächlich im Keller statt, langsam entwickelte sich das zu einer ästhetischen Befreiung. Von Einem war damals als relativ junger Komponist schon im Direktorium der Salzburger Festspiele, die Uraufführung ist eingeschlagen wie eine Bombe.
„Natürlich hat es seit 9/11 eine ganz besondere Aktualität bekommen, es hat ja nahezu eine Fetischisierung stattgefunden.“
Sollte man sich im Vorfeld von Wien Modern mit Thomas Hobbes beschäftigen, der die Ambivalenz von Sicherheit – dem heurigen Leitmotiv – philosophisch im „Leviathan” formuliert hat?
Bernhard Günther: Unser Katalog war letztes Jahr sehr philosophisch, man kann und soll heuer einfach ins Konzert gehen können, ohne zu wissen, wie man „Philosophie“ buchstabiert – wobei es auch nicht schadet. „Sicherheit“ reizt mich, weil es ein ewiges Thema ist. Natürlich hat es seit 9/11 eine ganz besondere Aktualität bekommen, es hat ja nahezu eine Fetischisierung stattgefunden. Die Kunst war dazu immer schon ein Gegenbild. Das wollen wir sinnlich spürbar machen. Niemand will in ein Konzert, das auf Nummer sicher geht, das wäre furchtbar langweilig. Der Funke springt über, wenn man merkt, dass etwas gewagt wird.
Unter dem Intendanten Berno Odo Polzer gab es beim Festival viel Musik der elektronischen Avantgarden, die üblicherweise nicht in Konzerthäusern stattfinden. In ihrer Zeit in Luxemburg waren sie auch für solche Sparten zuständig. Im Programm von Wien Modern ist das aber kaum sichtbar.
Bernhard Günther: Elektronik ist längst in den Bestand der Instrumente integriert. Es gibt solche Stücke auch immer wieder, mit dem duo-mono-lith wird es etwa ein hochgradig technologisches Projekt geben, bei dem Iris-Scanner die Live-Elektronik steuern. Der Mix wird von Jahr zu Jahr anders sein, ich muss dabei keine Liste abhaken à la „Haben wir Elektronik, Klanginstallationen, interaktive Performances etc.?“
Nun ist es so, dass diese Musikformen beim Donaufestival oder bei den Festwochen einen fixen Platz haben. Inwieweit spricht man sich ab?
Bernhard Günther: Es gibt mit der Viennale einen Austausch und mit vielen Institutionen. Mit den Festwochen war es nicht sehr intensiv, auch weil die Festivals zeitlich so weit voneinander stattfinden. Wien kann durchaus einige Festivals vertragen, die der Gegenwartskunst gewidmet sind. Die freie Musikszene ist in Wien sehr groß und kreativ, aber lange noch nicht so sichtbar, wie sie sein könnte.
„Zeitgenössische Musik ist (…) sehr schlecht in der Nachwuchsarbeit, da wollen und müssen wir viel mehr tun.“
Was konnte man in drei Jahren noch nicht umsetzen?
Bernhard Günther [überlegt lange]: Das Feld, in dem ein Konzert aufhört und andere Formate anfangen, wird von Jahr zu Jahr größer. Nun hat ein Festival wie Wien Modern eine begrenzte Produktionslogik. Wenn man diese verlässt, wird es schnell sehr aufwendig. „The Outcast“ sprengt eigentlich alle Möglichkeiten – das Konzerthaus steht für eine einzige Aufführung drei Tage lang still. In einem Opernhaus ist das nicht ungewöhnlich, im Konzerthaus ist das sehr viel. Ich bin sehr stolz, dass wir das heuer umsetzen können. Mein Ziel ist es, dass Wien Modern dorthin kommt, diese unglaublich inspirierende Vielfalt noch besser zeigen können. Zeitgenössische Musik ist außerdem sehr schlecht in der Nachwuchsarbeit, da wollen und müssen wir viel mehr tun. Ich bin wahnsinnig froh, dass wir von der Art Mentor Foundation Lucerne für drei Jahre Mittel bekommen, um uns darum besser kümmern zu können. Das ist die größte private Förderung, die Wien Modern je bekommen hat. Wir haben ein treues Stammpublikum, das ich liebe, wir müssen aber auch an die Zukunft denken.
Wäre es nicht ein Riesenprojekt, Wien Modern weiblicher zu machen?
Bernhard Günther: Ich finde, es hat sich erfrischend viel getan. Es gibt beispielsweise heuer einen neuen Komponistinnenpreis, der österreichweit ausgeschrieben war. Dabei habe ich selbst einige Komponistinnen kennengelernt, die ich nicht kannte. Es kann heute niemand mehr behaupten, dass es viel weniger Frauen gibt, die komponieren. Viele Komponistinnen sind im Nachwuchs an den Hochschulen. Wir hatten bei den neuen Stücken letztes Jahr zwischen vierzig und fünfzig Prozent Komponistinnen im Programm. Mein Jugendwerk war das fast 1.300 Seiten dicke „Lexikon zeitgenössischer Musik aus Österreich“. Wir sind damals mit Ach und Krach auf sieben Prozent Komponistinnen gekommen, obwohl wir bei den Kategorien für die Aufnahme ins Lexikon manchmal die Augen zugedrückt haben. Heuer hat sich die Situation sehr geöffnet. Man muss sich auch nicht mehr in den klassischen Formen beweisen, sondern kann sich Neuer Musik aus dem Medienbereich annähern, aus der Performance oder dem Bereich des konzeptuellen Theaters.
Was war das Problem mit dem ehemaligen Nachtquartier Waldgasse, in dem das „Museum der Liebe“ hätte stattfinden sollen?
Bernhard Günther: Ich war nicht dort, es wurde mir nur von unserem Kooperationspartner oper unterwegs geschildert. Bei ersten Gesprächen mit dem Magistrat klang noch alles gut, nach Druck des Programms kamen behördliche Auflagen, die sehr kostspielig geworden wären.
Wie schlimm war die „Antilope” wirklich?
Bernhard Günther: Ich könnte es mir einfach machen und mich weigern, Opern ins Programm zu nehmen. Am besten hat man dafür unbegrenzte Mittel, und nicht einmal dann wird es perfekt. Ich will aber nicht auf Nummer sicher gehen. Die „Antilope“ war eine große Produktion von Johannes Maria Staud mit der Neuen Oper Wien, die ich im letzten Programm für sehr präsentierenswert hielt. Wir haben uns einige schlechte Kritiken abgeholt, ich glaube nicht immer zu Recht, es gab einen gewissen Automatismus der Kritik gegen den Regisseur Dominique Mentha. Ich fand, es war das Risiko wert.
Die Besucherzahlen haben sich sehr positiv entwickelt.
Bernhard Günther: Wir haben noch nie so viele Tickets aufgelegt wie heuer. In meinem ersten Jahr hatten wir grob 17.000 Besucherinnen und Besucher mit Tickets und zusätzlich knapp 10.000 in Gratisveranstaltungen mit einem durchaus schwierigen, düsteren Programm. Im zweiten Jahr haben wir sogar noch einige Hundert Tickets mehr verkauft, hatten aber nur 3.000 Besucherinnen und Besucher in Gratisveranstaltungen, weil wir aus budgetären Gründen weniger gratis produziert haben. Heuer legen wir über 25.000 Karten auf und bieten dazu noch einiges gratis an. Vor meiner Zeit stand Wien Modern alles zusammengerechnet zuletzt bei rund 11.000 Besucherinnen und Besuchern.
„Als ich hier vor drei Jahren auf ein budgetäres Tief getroffen bin, war es wichtig, nicht defensiv zu agieren.“
Es gibt heuer über hundert Programmpunkte, fast doppelt so viele wie unter Ihrem Vorgänger. Das Team wurde aber nicht größer. Geht das an die Substanz?
Bernhard Günther: Das Team von Wien Modern ist fantastisch. Als ich hier vor drei Jahren auf ein budgetäres Tief getroffen bin, war es wichtig, nicht defensiv zu agieren. Das Festival braucht Sichtbarkeit und Produktionen, die man sonst nicht in dieser Stadt sehen kann. Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, das Festival zu schrumpfen, auch wenn man beispielsweise in Straßburg für Neue Musik in der Hälfte der Zeit doppelt so viel Geld hat. Was sich in Wien musikalisch abspielt, ist extrem vielfältig und spannend, das gehört hergezeigt.
Inwiefern ist das Konzerthaus eine Hilfe?
Bernhard Günther: Das Wiener Konzerthaus ist traditionell der größte und wichtigste Partner des Festivals und eine staunenerregende Kartenverkaufsmaschine. Es wird vom Publikum geliebt. Wenn wir eine Produktion mit dem Konzerthaus verkaufen, macht das einen riesigen Unterschied. Müssten wir die Bereiche, in denen wir Synergien nutzen dürfen – das Ticket- und Servicecenter, einen Teil der Veranstaltungstechnik und die Buchhaltung –, aus eigener Kraft aufbauen, wäre das Festival fünfmal so teuer. Das Konzerthaus macht das Festival überhaupt erst möglich. Trotzdem ist es wichtig, dass Wien Modern sichtbar über das Konzerthaus und dessen Alltag hinausgeht.
Wo haben Sie eigentlich studiert?
Bernhard Günther: Ich bin ein College-Drop-out, habe anfangs Cello in Lübeck studiert, später Musikwissenschaft in Wien, habe aber die Abschlussarbeit nie geschrieben, weil ich schon Vollzeit beim frisch gegründeten mica und am „Lexikon österreichischer Musik“ gearbeitet habe.
Ist Neue Musik zu schwer zu spielen?
Bernhard Günther: Das könnte so sein, wenn die jüngere Generation an Musikerinnen und Musikern nicht so fantastisch wäre. Die Lage hat sich komplett gewandelt. Die 14 Solostücke, das man im Rahmen des Projekts „Casino Cage“ wird hören können, hat Luciano Berio für die besten Virtuosen seiner Zeit geschrieben. Heute spielen es Studierende, sie üben monatelang, aber sie spielen es, und zwar sehr gut. Ein Teil der zeitgenössischen Musik operiert mit dieser Unspielbarkeit, Stücke wie „Kottos” von Iannis Xenakis, „Time and Motion Study” von Brian Ferneyhough, „Cello Song Variations” von Christian Wolff und die „Freeman Etudes” von John Cage – alle heuer in der „Solo Challenge“ zu hören – sind unfassbar schwer. Wir haben Musikerinnen und Musiker gebeten, ihre persönliche Herausforderung zu spielen. Das Publikum merkt bei solchen Stücken, dass jemand gerade an die Grenzen des Möglichen geht. Manchmal klingt es weit entfernt von dem, was viele sich gemeinhin unter Musik vorstellen, aber die Energie springt über. Auf der anderen Seite gibt es in der Neuen Musik durchaus auch Kompositionen, die Kinder spielen können, was man beispielsweise bei der Kooperation „Junge Musik“ mit der IGNM und der Musikschule Wien hören kann, da gibt es ganz andere ästhetische Zugänge. Wie auch immer: In Wien sind viele Menschen auf ihrem Instrument super. Man sollte weder das Publikum noch die Musikerinnen und Musiker unterschätzen.
Für Festivals ist der Anspruch, Orte und Menschen in der Peripherie einzubinden, durchaus schwer einzulösen.
Bernhard Günther: Das ist absolut schwierig. Deshalb bin ich auch vorsichtig mit neuen Spielstätten. Wir sind heuer in zehn Bezirken und arbeiten vor Ort möglichst auch mit sehr kleinräumiger Kommunikation, letztes Jahr etwa in der Wohnparkkirche in Alterlaa, wo tatsächlich nicht wenig lokales Publikum ins Konzert kam. Wenn man es richtig macht, ist es viel Aufwand. Und es gibt unendlich viele Möglichkeiten, Projekte in neuen Spielstätten in den Sand zu setzen: Manche sind leider nur wie Raumschiffe, die in einem Außenbezirk landen und dort nichts bewirken.
Das Vorhaben, an Stiftungsgelder zu kommen, ist offenbar gelungen. Nun war zu lesen, dass es für heuer kein finanzielles Sicherheitsnetz gibt.
Bernhard Günther: Die Ernst von Siemens Musikstiftung unterstützt uns seit vielen Jahren, meines Wissens heuer so hoch wie nie zuvor. Dazu ist die Art Mentor Foundation Lucerne gekommen. Beide Stiftungen sind interessanterweise im Ausland. In der Schweiz kann man durch eine andere Stiftungslandschaft viel mehr Geld lukrieren. Für das Festival ZeitRäume Basel 2017 haben wir an die 200 Stiftungen kontaktiert. In Österreich wüsste ich gar nicht, wem ich so viele Anträge schreiben sollte. Vom Bund haben wir aufgrund des großen Erfolgs 2016 einen Dreijahresvertrag mit einer leichten Anpassung nach oben bekommen. Von der Stadt habe ich 2016 in letzter Minute eine Kürzung wegstecken müssen, dann aber auch einen Dreijahresvertrag bekommen. Heuer hat die Stadt Wien außerplanmäßig die Kürzung wieder korrigiert, durch die Projektförderung für Olga Neuwirth sind wir jetzt zumindest wieder auf dem Niveau von 2015.
Die Förderquote ist damit von ehemals rund 80 Prozent auf etwa 60 Prozent gesunken.
Bernhard Günther: Ja, in etwa, wir bekommen 825.000 Euro öffentliche Gelder in einem Budget von heuer rund 1,4 Millionen.
Nachdem eine Präsenz der Politik auch ein Zeichen der Wertschätzung ist, wer hat sich angesagt?
Bernhard Günther: Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler wird eine Ansprache halten, Heinz Fischer ebenfalls – das Eröffnungskonzert findet im Rahmen des Gedenkjahrs der Republik statt –, Johannes Maria Staud spricht in seinem Vorwort von Musik als „utopischem Vorbild in unserer populistisch verseuchten Gegenwart“. Eventuell kommt auch Minister Blümel zur Eröffnung. Wie auch immer: Man wird die Wertschätzung durchaus spüren.
Ist Wien Modern denn unter Rot-Blau vorstellbar?
Bernhard Günther: Wien ist ohne Wien Modern nicht vorstellbar.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Stefan Niederwieser