„DER CLUB STEHT IM BRENNPUNKT DER GEGENWART“ – SHILLA STRELKA (UNSAFE+SOUNDS) IM MICA-INTERVIEW

Das UNSAFE+SOUNDS Festival (U+S) findet 2022 zum achten Mal in Wien statt. Zwischen 23. September und 1. Oktober will das Team um Kuratorin SHILLA STRELKAnstlerische Grauzonen verteidigen, neue schaffen und statt Buzzwords im Festivalzirkus »radikale Ergebnisse« ermöglichen. Das scheint über den Dancefloor zu führen – »tainted futures« in Döbling, »agency of immediacy« am Donaukanal. Welche „Gegenwartsspitzen“ man erklimmen will, warum neuerdings nicht nur im Club getanzt, sondern auch über ihn diskutiert wird und was bleibt, wenn die Musik aus ist, erklärt Festivalleiterin SHILLA STRELKA via E-Mail – spätnachts, weil in den letzten Tage vor dem Festivalauftakt kein Auge ruht.

Von Afterhour-Ambient über Dark Wave bis Spoken Word und Hardcore-Trance zum Sonnenaufgang – wer alle Musikstile, die auf dem U+S vertreten sein werden, erfahren will, braucht Zeit. Zu welcher Tageszeit sieht man dich auf dem Dancefloor?

Shilla Strelka: In Bewegung werde ich auf eine Art ständig sein. Ob zum Beat der Musik oder zum Rhythmus, den so ein Festivalablauf mit sich bringt – das wird sich in der Waage halten. Auf jeden Fall möchte ich von den puristischen Rhythmen von Rrose hypnotisiert werden, zu Nkisi und den Closing-Sets von DJ Diamond und Distortina raven, zu Omformer wegspacen, durch Ewa Justkas kaputte Acid-Synth-Lines und den dazugehörigen Strobes Katharsis erfahren und mit Jung An Tagen und Cam Deas synaptische Zeit-Raum-Achsenverschiebungen erleben.

Bild Rrose
Rrose (c) Presse

Du veranstaltest das U+S inzwischen zum achten Mal in Wien, heuer an zwei Standorten zwischen Döbling und Donaukanal. Welche Orte und Räume betreten Künstler:innen und Publikum?

Shilla Strelka: Die Zacherlfabrik ist eine ehemalige Fabrik für Mottenpulver. Das klingt erstmal wenig sexy, es ist aber eine großartige, charakterstarke Offspace-Venue mit Garten drumherum. Drinnen tritt man auf Holzboden, manche Wände sind verspiegelt. Das Gebäude hat außerdem verschiedene Stockwerke, ist verwinkelt – und bringt alles mit, wonach man sich sehnt, wenn man nach einem exzentrischen Ort sucht. In der Zacherlfabrik wird neben den Konzerten auch das Diskursprogramm stattfinden. Das Werk wiederum werden die meisten vermutlich als einen der Clubs mit den besten PAs der Stadt kennen. Hier treffen die unterschiedlichsten Leute zusammen — das ist abseits des Sounds der große Pluspunkt dieser Venue.

Was alle Artists des U+S eine, seien ihre emanzipatorischen Ansätze, die eine ästhetische Entsprechung zu unserer Jetzt-Zeit bilden, schreibst du im Festivalprogramm. Mit welchen Mitteln entsprechen sie derzusammengezogenen Gegenwart?

Poster Unsafe+Sounds
Poster Unsafe+Sounds

Shilla Strelka: Die zusammengezogene Gegenwart meint die „Gegenwartsspitzen“, die ich auch erwähne, ein Denkmodell, das ich Henri Bergson entlehnt habe. Bergson stellt sich das menschliche Bewusstsein von Zeit vor wie einen umgedrehten Kegel, wobei die Basis die gesamte Vergangenheit darstellt und die Spitze die Gegenwart, die sich quasi in einem Augenblick kristallisiert, der die gesamte Vergangenheit fasst. Wenn ich von Gegenwartsspitzen spreche, erinnert mich das irgendwo auch an die Idee der Avantgarde, bloß losgelöst von dieser mittlerweile neu zu denkenden Vorstellung einer stetigen Progression.

Acts, die für mich auf diesen Gegenwartsspitzen reiten, wären zum Beispiel der Opening-Act, die norwegische Künstlerin Stine Janvin. Mit einer bis zum Äußersten abstrahierten Vokal-Performance schafft sie es, synthetische und menschliche Klänge in eins fallen zu lassen. Ihre Stimme oszilliert tatsächlich zwischen diesen zwei Polen und orientiert sich gleichzeitig an psychoakustischen Anordnungen, wie otoakustischen Emissionen. In meinen Augen ist alles, was unsere Wahrnehmung infrage stellt, akut und emanzipatorisch. Emanzipatorische, transformative Kräfte lassen sich auch in Experimenten festmachen. Da geht es um ein Freimachen von dominanten Formen.

Bild Stine Janvin
Stine Janvin (c) Presse

Safa ist ein weiterer Act, dessen Ästhetik sehr an die Spitze getrieben ist. Es handelt sich dabei um einen libanesischen Künstler, der mithilfe von Micro-Snippets und Machine-Learning traditionelle musikalische Sprachen aus dem nordafrikanischen Raum und dem Nahen Ostens in ganz eigene, avancierte-abstrahierte Klangräume verwandelt und das Ganze auch noch tanzbar macht. Außerdem erwähne ich No Bra, die sich konfrontativ, aber mit einer unwahrscheinlichen Coolness mit Gender, Sexualität, Machtmechanismen und Fragen von Performativität auseinandersetzt. Nicht umsonst ist jemand wie Arca mit der „Genderfuck-Icon“ wie ein Medium sie betitelt hat, befreundet. Und dann sind da auf jeden Fall noch Jung An Tagen & Cam Deas zu nennen, die sich mit ihrem Konzept von „Presentism“ direkt ins Leitmotiv katapultieren. Kein Loop in diesem algorithmischen Techno gleicht dem nächsten, dennoch wird jeder Track von einem Puls zusammengehalten. Wenn das nicht State-of-the-Art-Elektronik ist …

Erstmals findet am U+S eine Diskussionsreihe statt. Expert:innen wie Kristina Pia Hofer, Wolfgang Sterneck oder Vertreter:innen von Kulturräumen treten in Gesprächsrunden auf. Wieso müssen wir 2022 über Clubkultur und ihre audio-soziales Gemeinschaftspotenzial“ sprechen?

Shilla Strelka: Ich habe für das Diskursprogramm meine Kollegin Bianca Ludewig als Kuratorin eingeladen. Bianca ist Kulturanthropologin und hat sich jahrelang mit Festivals und elektronischer Musik auseinandergesetzt. Ich kann hier zwar nicht für sie antworten, für mich aber sind Gemeinschaft, Körper, Politik bzw. das Politische und Ästhetik seit Jahren die Themen, an denen ich mich abarbeite. Das hat auch die letzten Festivals geprägt. Während für mich die ästhetischen Aspekte sonischer Sinnlichkeit sehr wichtig sind, also das subjektive und private Potenzial in der Unmittelbarkeit von Klangwelten, legt Bianca einen starken Fokus auf die Handlungen, auf die Agency, die politischen Potenziale unserer Praktiken und wie sie darüber hinaus in die Öffentlichkeit wirken könnten.

Bild Bianca Ludewig
Bianca Ludewig (c) Philippe Gerlach

Gemeinsam interessieren wir uns unter anderem für die Wirkmacht von Musik auf den Körper. Das hat gut zusammengepasst. Daraus lassen sich viele Fragestellungen ableiten. Neu ist, dass wir dieses Jahr gemeinsam darüber reflektieren und diskutieren können. Dieser Aspekt ist so zentral und hat mir einfach gefehlt. Bianca stellt die dazugehörigen sozio-politischen Fragen und kontextualisiert sie, um auf Basis möglichst vieler Perspektiven gemeinsam darüber nachdenken können.

In Clubs, auf Festivals oder über Streams von Boiler Room bis Street Parade lässt sich aktuell eine Stimmung des emotionalen Dammbruchs wahrnehmen. Wir feiern – härter und schneller, obwohl nach zwei Jahren Krisenmodus das Unerhörte, wie du schreibst, tatsächlich alltäglich“ geworden zu sein scheint. Nach welchen Momenten suchen wir gerade?

Shilla Strelka: Wir suchen nach „something for your body, your mind, and your soul“, denke ich. Der Clubraum ist keine Zone, die abgesondert wäre von der Realität, wie eine Raum-Zeit-Kapsel, deren Fokus auf einem utopischen Space jenseits unserer derzeitigen Wirklichkeit liegt. In meinen Augen steht der Club im Brennpunkt der Gegenwart. Er nimmt das Zukünftige vorweg, in ihm kristallisiert sich aber auch die Gegenwart. Das wird oft nicht miteinbezogen. Die Zeiten für Utopie scheinen vorbei. In den Energien, die der Club freisetzt, in den Intensitäten manifestiert sich das Gefühl eines Jetzt. Aber auch Gefühle wie Euphorie, Jouissance, also Lust, dem Lustvollen, und Ekstase dürfen hier Platz finden. Gefühle, die keine Berechtigung zu haben scheinen in unserer krisenhaften Zeit, unserer zerrütteten Gesellschaft. Das wäre die emotionale Seite. Aber auch Strategien der Überwältigung spielen in der Ästhetik eine immer wichtigere Rolle – härter und schneller, wie du richtig sagst. Da geht es dann um die Körper, die überdigitalisierten, die von Corona lange Zeit besetzt gehaltenen. Da geht es um ein sich selbst wieder spüren können und das bei einem geteilten Puls, einem Rhythmus, der uns zusammenhält.

Mittlerweile ist der Trance der frühen Nullerjahre zurück in den Techno-Mainstream gerutscht. Auch am U+S werden viele Künstler:innen Melodien spielen, für die sich vermeintliche Realkeeper noch vor zwei Jahren beide Ohren abgesäbelt hätten. Woher kommt dieser neu gefasste Mut zur Melancholie?

Bild Shilla Strelka
Shilla Strelka (c) Kurt Prinz

Shilla Strelka: Das ist eine gute Frage. Ich wollte schon vor Jahren, mit dem Aufkommen von Hybrid/Post- und Deconstruced Club, einen Artikel darüber schreiben, warum große Emotionen wieder bedient werden dürfen in der avancierten elektronischen Musik. Jedenfalls stand Trance lange Zeit in Verruf, weil er schon früh von Marktmechanismen korrumpiert und kommerziell ausgeschlachtet wurde. Der Trance, für den ich mich interessiere, ist nicht Techno-Mainstream, auch wenn er mitunter damit spielt. Das Spannende am Neo-Trance ist, dass er aus dem Underground und aus Mikro-Szenen kommt. Es sind alles kleine Labels, die selbst releasen. Es handelt sich um DIY-Strukturen, der Sound ist oft LoFi gehalten. Darin steckt wohl genug Realness.

Und die Melancholie?

Shilla Strelka: Techno hat schon immer mit melancholischen Vibes geflirtet. Vielleicht ist es einerseits eine Reaktion auf den kalten Minimal der 2000er und den polierten Großraumdisko-Sound der 2010er. Auf Seiten der Rezipierenden könnte es sein, dass wir einfach zu wenig sensibel, oder zu sensibel sind – in jedem Fall aber etwas brauchen, das uns selbst spüren lässt, uns auffängt und unsere Stimmung reflektiert.  Neo-Trance macht das. In einem Buch zu dem Genre wird auch von dessen Naheverhältnis zu klassischer Musik gesprochen. Da geht es ja auch viel um die Dramaturgie eines Tracks und wie sich Emotionen aufbauen lassen.

Emotionen, um uns – wie du sagst – selbst wieder zu spüren.

Shilla Strelka: Man könnte sich auch fragen, woher die Melancholie als solche kommt. Witzigerweise wurde ich das schon einmal in einem Interview gefragt und meine Annahme war, dass der Melancholie eine Enttäuschung und ein Verlust vorangeht, sie aber auch mit einer kritischen Haltung assoziiert wird. Das passt eigentlich zur Gegenwart, oder?

Ja, die Welt bricht auseinander und wir feiern. Entfliehen wir für die Dauer einer Clubnacht den Sorgen und Ängsten oder sorgen die Ängste dafür, dass wir uns durch sie aus der Realität stehlen?

Bild Astrid Gnosis
Astrid Gnosis (c) Presse

Shilla Strelka: Ich halte den Ausdruck des Entfliehens für schwierig. Schließlich können wir der Realität nicht entkommen. Wir können uns verstanden fühlen, für den Moment Glücksgefühle erfahren, abschalten, abdriften, verloren gehen, uns gemeinsam fühlen. Aber wir wissen, dass wir wieder zurückkehren müssen. Ich glaube nicht, dass Ängste dazu führen, eher in den Club zu gehen. Es gibt auch viele junge Menschen, die gerade jetzt unter Depressionen und starken Zukunftsängsten leiden – „Tainted Futures“, nenne ich das im Festivalprogramm. Die „Agency of Immediacy“ meint aber das Erleben in der Unmittelbarkeit. Es ist die Dringlichkeit des Augenblicks, Energien freizusetzen, die auch Teil des Menschseins sind und on the long run — so esoterisch das klingt — etwas Heilsames oder zumindest Therapeutisches haben und eine Community anbieten können. Mit Astrid Gnosis, Prison Religion, Abu Gabi oder DJ Warzone haben wir deshalb sehr konfrontative Acts im Line-up, die sicher nicht zur großen Flucht anregen, sondern eher ein Ventil anbieten für das, was gerade in uns vorgeht.

Am Ende der Clubnacht steht man vor der Entscheidung: Geht man heim oder noch weiter. Die Vernunft führt in diesen Momenten selten zur richtigen Entscheidung. Am U+S wird es deshalb am zweiten Festivalwochenende eine kuratierte Afterhour geben. Was macht eine gute After aus?

Shilla Strelka: Wenn du zum Runterkommen nach dem Tanzen – in einem Zustand, in dem dein Körper zwar erschöpft ist, aber dein Geist noch immer die Nacht verarbeitet – Musik hörst, kann sie dich in andere Sphären katapultieren. Es ist ein Erschöpfungszustand, der aber noch diesen ganz speziellen Afterglow hat. In so einem Moment Musik zu hören, kann sehr beglückend sein. Omformer sind für mich der perfekte Act so einer Afterhour. Ihre Sounds strahlen eine gewisse Wärme aus. Ihre Ambient-Scapes haben eine bestimmte, einnehmende Schönheit, die erlaubt sein möchte, aber auch eine Intimität und Psychedelik. Die Sounds strahlen eine Verschworenheit aus und bauen ganz langsam einen Raum auf, den du betreten kannst. Am Ende provozieren sie einen transluziden Bewusstseinszustand. 

Irgendwann ist die letzte Kickdrum geschlagen. Was bleibt, wenn die Musik aus ist?

Shilla Strelka: Die Erinnerung. Die Community ist gewachsen, Szenen sind sich begegnet, du hast etwas erlebt, Erfahrungen gesammelt, im besten Fall sogar ein bis zwei Leute kennengelernt, die du wiedersehen möchtest. Die Faszination für alle Formen elektronischer Musik, avancierter, experimenteller, gegenkultureller, konfrontativer ist hoffentlich gestiegen und die Toleranz füreinander gewachsen.

Danke für die Zeit und das Interview!

Christoph Benkeser

Das Unsafe+Sounds Festival findet von 23.9. bis 1.10 in Wien statt.

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Links:

Unsafe+Sounds Festival (Homepage)
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