„DEN SCHÖPFERISCHEN PROZESS SEHE ICH ALS EIN WECHSELSPIEL VON KALKULIERTEM UND UNVORHERGESEHENEM.“ – ELISABETH HARNIK IM MICA-INTERVIEW

Sowohl beim musikprotokoll im steirischen herbst als auch bei Wien Modern sind in näherer Zukunft Uraufführungen von ELISABETH HARNIK zu hören. Neben Großveranstaltungen sind der Komponistin und Musikerin aber auch kleine Veranstaltungen im ländlichen Raum ein besonderes Anliegen. Hier wie dort wirken sich auch politische Entwicklungen in unterschiedlicher Weise auf ihre Arbeit aus – so etwa zog sie ein Gedicht der ukrainischen Dichterin Iryna Shuvalova als Textgrundlage für ihr Werk, das beim Musikprotokoll uraufgeführt wird, heran. Auch die kolportierten Änderungen des Radiosenders Ö1 würden sich massiv auf Ihre Arbeit auswirken, wie sie Isabella Klebinger und Michael Franz Woels wissen ließ.

„Ohne Erinnerung sind wir geistig tot. Ohne Vergessen sind wir seelisch gelähmt. Wer nicht weiss, wo er herkommt, kann nicht wissen, wo er hingeht, und wer vom Vergangenen nicht loskommt, steht der Zukunft apathisch gegenüber.“ Dieses Zitat stammt nicht von Heinrich von Kleist, sondern vom Schweizer Schriftsteller Peter von Matt. Anstelle einer Überleitung zwei sich aufbauende Fragen: Was sind deine rezenten Erinnerungen an die Uraufführung von „Das Erdbeben in Chili“, einer werktreuen, aber doch experimentellen musiktheatralischen Deutung eines vergangenen Textes? Welche zukunftsweisenden Elemente findest du in diesem Opernstoff? 

Elisabeth Harnik: Das war ein unglaublich mutiges und schönes Projekt! Ferdinand Nagele, Kurator und Mitinitiator des Griessner Stadls vom Kunstverein Stadl-Predlitz ist dafür bereits im Sommer 2020 mit mir in Kontakt getreten. Ich erinnere mich noch gut an seinen Besuch, wir saßen im Garten und er erzählte mir vom Griessner Stadl und den zahlreichen Aktivitäten des Kunstvereins. Seine Begeisterung steigerte sich, als er mir von seiner Vision berichtete, Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“ als Volksoper auf die Bühne zu bringen. Ganz konkret gab es bezüglich der Regie und der Musiker:innen bereits personelle Vorschläge für das Projekt. 

Dazu muss ich erwähnen, dass einer der wesentlichen Ansätze aller Produktionen des Griessner Stadls ist, Laien aus der Region einzubeziehen – und das nicht als Statistinnen und Statisten, sondern als Hauptrollen. Und Ferdinand Nagele war mit der Absicht zu mir gekommen, mich mit der Komposition zu betrauen. Ich war sofort angesteckt von seiner Beherztheit und fand die Stoffauswahl sehr klug. Definitiv zugesagt habe ich aber erst nach einem Treffen mit dem Regisseur Martin Kreidt, mit dem ich dann sehr eng zusammengearbeitet habe. Man muss sich das einmal vorstellen, eine zeitgenössische Kammeroper im obersteirischen Stadl. Es handelt sich hier um ein unglaublich schwieriges Unterfangen für einen kleinen Kunstverein. Uns ist erst im Laufe der Produktion so richtig klar geworden, was für ein Risiko wir eingegangen sind.

Was die Komposition betrifft, war die große Herausforderung und zugleich das Besondere, für Laiensängerinnen und -sänger zu schreiben, ohne meinen zeitgenössischen Anspruch aufgeben zu müssen.
Ich bin noch immer davon überwältigt, dass wir die Oper in einem Probenzeitraum von etwa dreieinhalb Wochen auf die Beine gestellt haben! Es gab keinerlei Netz, alle Rollen waren nur einfach besetzt und jeder Krankheitsfall hätte eine Aufführungsabsage zur Folge gehabt. Wir sind einfach gesprungen! Das Ensemble ist während der Probenarbeit im heißen Stadl – während der Hitzewelle – so richtig zusammengewachsen. Erwähnen möchte ich, dass eine Umsetzung ohne die engagierten Musiker:innen aus dem Umfeld des Grazer Schallfeld Ensembles nicht möglich gewesen wäre. Die Profis haben die Laien unterstützt und die Laien haben die Profis mit ihrer ‚unverstellten‘ Neugierde und Hingabe inspiriert. 

Knapp vor Probenbeginn sind dann zwei von vier Laien ausgestiegen und wir haben kurzfristig Profis ins Boot geholt. Die Musik sei eine „Zumutung“, hieß es … Ja, wir haben allen Beteiligten sehr viel zugemutet, aber wie hat es Nikolaus Harnoncourt so schön formuliert: „Qualität entsteht nur am Rande einer Katastrophe.“ So stelle ich mir Kulturarbeit vor, zusammenarbeiten und gemeinsam Neues wagen fernab des Normalbetriebs.
Und eines ist sicher: Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“ ist zeitlos, wir werden seit 2020 ordentlich wachgerüttelt – und das auf allen Ebenen. Das menschliche Vermögen, eine gerechte Gesellschaft zu denken und danach zu handeln, ist ebenso zeitlos wie das menschliche Unvermögen. Es liegt an uns, gute Entscheidungen zu treffen!

Erdbeben in Chili
Erdbeben in Chili (c) Philipp Rirsch/Griessner Stadl

Ein aktuelles Kunstradio-Projekt mit der steirischen Schriftstellerin Gertrude Grossegger: „befinde mich nun bei den fischen“. Nicht zufällig reimt sich Instrumentarium auf Aquarium: Mit welchen kompositorischen Mitteln und Klangfarben arbeitest du bei diesem Hörstück?

Elisabeth Harnik: Ich habe für die Komposition Unterwasseraufnahmen mit einem Hydrophon gemacht. Das war eine sehr anregende Arbeit! Es hat mich an diverse akustische Experimente erinnert, die wir als Kinder unter Wasser gemacht haben. Wer kennt das nicht? Weiters bildeten Klavier- und Sprachaufnahmen die klangliche Grundlage. Durch die elektronische Verarbeitung natürlicher und präparierter Klavierklänge wie mikrotonale Manipulationen etc. wollte ich die gewohnten Grenzen des Instruments verwischen. Verstärkt durch das Einblenden bearbeiteter Sprachklänge aus dem Text und den Hydrofonaufnahmen entstand dieser liquide Höreindruck. Die durchkomponierte Klangschicht wurde mittels eines Körperschallwandlers, der am Resonanzboden des Klaviers angebracht wurde, für die Live-Aufzeichnung zugespielt und durch live gespielte Klangtexturen ergänzt.

Was reizt dich besonders an der Zusammenarbeit mit Gertrude Grossegger, wie kann man sich die Zusammenführung eurer Arbeitsweisen vorstellen?

Elisabeth Harnik: Zunächst: Es war der Regisseur Ernst M. Binder von Drama Graz, der uns 2016 miteinander bekannt gemacht hat. Er wollte ein Theaterstück von Gertrude auf die Bühne bringen und ich hätte die Bühnenmusik komponiert. Leider ist es nicht dazu gekommen, da Ernst M. Binder im Jänner 2017 unerwartet verstorben ist. Gertrude und ich blieben aber weiter in Kontakt. Was das Hörstück „befinde mich bei den fischen“ betrifft, war sie die treibende Kraft, die den Stein ins Rollen gebracht hat. Ganz konkret war ihr Text fertig und sie hatte die Idee, daraus ein Hörstück zu machen. Wir haben dann ein neues Format gewählt, eine Autorinnen- bzw. Komponistinnenproduktion, das heißt, Gertrude Grossegger hat selbst gelesen und ich habe die Komposition am Klavier, am Waterphone und diversen Objekten selbst umgesetzt. 

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Für Wien Modern vertonst du den dadaistischen Text „Nicht nee nee nee nicht no“ des Malers Georg Baselitz. Was kann man sich unter einer „Lockung ins Offene“ vorstellen?

Elisabeth Harnik: Die Lockung ins Offene besteht darin, dass Auskomponiertes mit Improvisiertem interagiert. Als ich den Auftrag erhalten hatte, wusste ich sofort, dass ich Jaap Blonk als Solisten einsetzen möchte. Der niederländische Komponist, Dichter, Musiker und Performer – wir arbeiten schon seit einigen Jahren zusammen – spezialisierte sich auf Aufführungen von Lautpoesie. Seine 1986 veröffentlichte Schallplatte mit einer Vertonung der dadaistischen „Ursonate“ von Kurt Schwitters beispielsweise – zunächst durch den Schwitters-Erben Ernst Schwitters verboten und aus dem Verkehr gezogen – wurde von ihm als Audio-Kassette unter dem Pseudonym Reverof Zrem (rückwärts: „Merz forever“; „Merz“ war ein Pseudonym von Kurt Schwitters) als Bootleg in Umlauf gebracht, bevor sie später nach dem Tod von Ernst Schwitters zusammen mit einer 2003 entstandenen weiteren Aufnahme neu aufgelegt wurde. 

Aber zurück zur Vertonung des Texts von Georg Baselitz. Eine auskomponierte Klangschicht bestehend aus Sprach- und Vokalklängen bildet gemeinsam mit dem Streicherklangkörper eine Art „Superinstrument“. Dabei läuft eine Pluralität von Klangdiskursen simultan ab: Einzelne Schichten versuchen sich zu lösen, reiben sich am Text, fallen sich gegenseitig ins Wort bzw. rücken dabei in den Vorder- oder Hintergrund, scheitern, beziehen sich wieder aufeinander, schalten sich gleich, löschen sich aus, formieren sich neu, verdichten sich. Unterwandert wird dieser Prozess von eingearbeiteten „Zonen flexibler Gestaltung“ in der Solistenstimme, die durch Jaap Blonks improvisatorische Interpretation die Stabilität der ausnotierten „Zwischendeckung“ beharrlich verunsichert. Dieses Wechselspiel der Klangschichtungen und die allmähliche Destabilisierung des geordneten Klangsystems durch die immer dichter gedrängten Unterbrechungen und Improvisationseinschübe des Solisten locken ins Offene.  

Du arbeitest oft künstlerisch auf eine Art, die Grenzen auflöst – gerade die Übersetzung von Textlichem und Literatur tritt in der Auseinandersetzung mit deinem aktuellen Werk hervor. Was interessiert dich an der Übersetzung von Literatur in Klangbilder besonders?

Elisabeth Harnik: Ich denke, das liegt zunächst daran, dass ich immer schon gerne für die menschliche Stimme komponiert habe. Es gibt zahlreiche Vokalwerke. Manche Kompositionen haben textliche Grundlagen, andere wiederum verzichten gänzlich auf Sprache, interessant sind für mich die vielfältigen und sehr unmittelbar wirkenden Ausdrucksmöglichkeiten der menschlichen Stimme. Mit einem Text zu arbeiten – insbesondere wenn es sich um einen zeitgenössischen Text handelt –, ist sehr bereichernd. Es kann formal-klangliche Entdeckungen befördern und das eigene Komponieren lebendig halten. Im Übersetzen oder auch Entgegensetzen reagiere ich als Komponistin auf ein Gegenüber, wodurch es zu einer erfrischenden Reibung kommt. In meiner kompositorischen Praxis arbeite ich oft mit selbst auferlegten Regeln und deren Abwandlung oder Brechung durch intuitive Entscheidungen – das Gegenüber, sei es ein Text oder eine Regel, eröffnet einen Diskursbereich, der dann spontan sowohl bewertet und verarbeitet, als auch vollkommen neu gestaltet werden kann.

Elisabeth Harnik
Elisabeth Harnik (c) Iztok Zupan

„Politisches Zeitgeschehen wird sich auf die eine oder andere Art immer auf die künstlerische Praxis auswirken, dem entkommt niemand.“

Der Kompositionsauftrag für das musikprotokoll im steirischen herbst 2022 ist von einem aktuellen Gedicht der ukrainischen Dichterin, Übersetzerin und Wissenschafterin Iryna Shuvalova geprägt. Wie kam es zur Textauswahl von „if I am not being killed…“? Wie wirst du diesen Text vertonen und wie geht es dir dabei, politisches Zeitgeschehen in deine Arbeit aufzunehmen?

Elisabeth Harnik: Kurze Zeit nachdem ich den  Auftrag erhalten hatte, ein Duo für tiefe Männerstimme und ein Instrument zu komponieren, startete der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Mir war sofort klar, dass ich nach diesem Ereignis nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen konnte. Ich habe dann Solomiya Moroz, eine kanadisch-ukrainische Performerin und Komponistin, die ich bei meinem Artist-in-Residence-Aufenthalt im OMI International Art Center in New York kennengelernt hatte, angeschrieben und gefragt, ob sie mich in Kontakt mit ukrainischen Schriftsteller:innen aus der queeren Szene bringen kann. Mit ihrer Hilfe ist es mir gelungen, mit einigen Dichter:innen in Austausch zu treten.

Schließlich waren es Iryna Shuvalovas aktuelle Gedichte, die mich besonders angesprochen haben.
Wir standen dann einige Wochen in Verbindung, kommunizierten über E-Mail und soziale Netzwerke. Eines ihrer E-Mails ist mir besonders in Erinnerung geblieben, sie schrieb: „It is so important for us, the arts people, to build these bridges of solidarity.“ Zuletzt schickte sie mir ihr Gedicht „if I am not being killed…“. Ich habe dann die finale englische Übersetzung des Gedichts abgewartet und mich entschieden, sie als Textgrundlage für die Komposition zu wählen. Weiters bat ich Iryna noch um eine einfache Audioaufnahme des Gedichts in ukrainischer Sprache. Als Instrument habe ich bewusst das tiefste Streichinstrument, den Kontrabass, gewählt. Ich wollte Stimmkreuzungen in tiefer Lage erzeugen und deren Klangwirkung erforschen. Am Ende des Stücks, wenn Gesangsstimme und Kontrabass beinahe verstummen, hört man Irynas Stimme, zugespielt über einen Körperschallwandler, der am Kontrabass angebracht wird.

Ich habe bereits 2014 ein Ensemblestück komponiert, das politische Zeitgeschichte reflektiert: „For B. Outlot“ war ein Auftragswerk des Grazer Ensembles Zeitfluss im Rahmen des Gedenkjahrs 100 Jahre Beginn des Ersten Weltkriegs. Ich war damals sehr irritiert. Warum wird dem Kriegsbeginn so viel Raum gegeben und gar ein Call gewidmet? So viele Straßen sind bis zum heutigen Tage nach Kriegstreibern benannt! So entschied ich mich, eine Hommage an die österreichische Pazifistin, Friedensforscherin, Schriftstellerin und Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner zu komponieren. Das Ensemblestück will sowohl an die Bemühungen einer Bertha von Suttner erinnern, als auch darauf hinweisen, dass Friedensbotschafter:innen seit Sarajevo, mehr als hundert Jahre und zwei Weltkriege später, nach wie vor nicht gehört werden. Die Zuspielung gegen Werkende ist ein historisches Tondokument* mit der Stimme von Frau Suttner und war einer der klanglichen Ausgangspunkte für die Komposition. Übrigens, genau dieses Ensemblewerk hätte heuer in Moskau aufgeführt werden sollen. Politisches Zeitgeschehen wird sich auf die eine oder andere Art immer auf die künstlerische Praxis auswirken, dem entkommt niemand.

[* Anmerkung: Unter zahlreichen Tonzylindern im Archiv der Österreichischen Mediathek in Wien befindet sich eine Aufnahme, deren Behälter mit der Bezeichnung „Gespräch von Tante Boulotte (Bertha v. Suttner) Ebenfurth 23. Mai 1904.“ versehen ist. 2012 konnte durch eine Recherche in den Tagebuchaufzeichnungen von Frau Suttner bestätigt werden, dass es sich bei der Aufnahme tatsächlich um die Stimme von Bertha von Suttner – die auch unter dem Pseudonym B. Oulot (bezogen auf ihren Spitznamen „Boulotte“) publizierte – handelt.]

Das ist mit Sicherheit so. Wenden wir uns noch weiteren Veröffentlichungen zu: Letztes Jahr erschien unter anderem bei Trost Records das Album „Superstructure – Holding up a Bridge“, mit dem All Ears Area Ensemble und Studio Dan. Was kannst du uns über diese beiden Kompositionen erzählen?

Elisabeth Harnik: Beide Ensemblekompositionen integrieren improvisatorische Elemente. „Superstructure“, ein Kompositionsauftrag von ORF und Jeunesse, ist ein älteres Stück, es war dies die erste Komposition für ein Ensemble, das ich selbst zusammenstellen konnte – und das sich aus Improvisator:innen und Interpret:innen zusammensetzte. „Holding up a bridge“ ist eine aktuellere Arbeit im Auftrag des Wiener Ensembles Studio Dan. In meiner künstlerischen Arbeit als Komponistin und Improvisationsmusikerin ist es mir wichtig, mich aus der eigenen Befangenheit im Vorgefassten zu lösen und „Neues“  innerhalb der jeweiligen Rahmenbedingungenzu gewinnen. Das schließt eine gewisse Risikobereitschaft ein. Den schöpferischen Prozess sehe ich als ein Wechselspiel von Kalkuliertem und Unvorhergesehenem. 

„Holding up a Bridge“ führt einige Aspekte dieser Wechselbeziehung kompositorisch weiter. Ausnotierte Passagen wechseln sich ab oder erklingen gleichzeitig mit Schichten flexibler oder spontaner Gestaltung. Die Komposition zeigt sich zugleich fest und elastisch, an manchen Stellen sogar als etwas in Bewegung Befindliches, das nicht nur geführt werden will. Innerhalb dieser definierten Freiheit, sozusagen am Schnittpunkt zwischen Sponaneität und Interpretation, wird ein Brückenschlag zelebriert, der diese produktiven Differenzen verbindet. Die Ausführenden reiben sich an den festgelegten Anweisungen innerhalb der einflussoffenen Teile und verändern sie dadurch. Dies besitzt etwas zutiefst Beunruhigendes, widerstrebt es doch dem Bedürfnis nach Sicherheit und Konstanz, und bestärkt doch im Versuch, dem Geschlossenen zu entkommen. Auf der Partitur gibt es ein Zitat, das mir zugleich den Stücktitel lieferte:

„What holds up the bridge?“ he asked the guide.

„Only the person crossing it“, came the reply.

(Ben Okri)

Heuer im März wurde das fulminante Live-Konzert mit Didi Kern und Jaap Blonk vom Music Unlimited Festival #34 aus dem Jahr 2020 unter dem Titel „Steamology“ (Label Klanggalerie) veröffentlicht. Der Schlachthof Wels wurde zum improvisatorischen Dampf(-ablass-)schiff. Wie fühlt man sich vor und nach so einem intensiven Live-Auftritt, nach einer erfolgreichen musikalischen Sub- und Resublimation?

Elisabeth Harnik: Das Festival konnte damals nur als Stream stattfinden. Wir haben ohne Live-Publikum performt, es war für alle Beteiligten ein unglaublicher Kraftakt. Streaming-Konzerte waren für diese Zeit eine gute Lösung, aber sie sind mit einem Live-Konzert nicht vergleichbar.  Zum Glück sind Didi Kern und ich sehr gut aufeinander eingespielt, wir arbeiten seit vielen Jahren zusammen. Jaap Blonk ist beim Festival solo aufgetreten. Was für eine Leistung im Rahmen eines Streaming-Konzerts! Jedenfalls hatte es sich angeboten, dass wir am Ende unseres Duo-Sets als Trio spielten – im Übrigen eine Welt-Premiere. Alle beteiligten Festivalmusiker:innen waren unglaublich dankbar. Der Alte Schlachthof Wels und das Music-Unlimited-Festivalteam haben die Streaming-Konzerte wirklich in bester Qualität umgesetzt und die Betreuung der Künstler:innen war – trotz der vielen Bestimmungen – wie immer wunderbar.  

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Nicht minder energetisch auch das Album „Astragaloi“ mit Dave Rempis und Michael Zerang, eine gemeinsame Veröffentlichung von Aerophonic (Chicago) und Idyllic Noise in Österreich. Diese Band hat eine sporadische Auftrittsgeschichte, dieses Album eine ganz besondere Geschichte:  Die Eröffnungsnacht von Artacts 2020 wurde einer dieser letzten unbeschwerten Abende – ohne ständiges Ängstigen vor dem Atem der anderen. Eine Schicksalsnacht, wie passend auch der Name „Astragaloi“. Wer kam auf diesen Titel?

Elisabeth Harnik: Oh, das war eine ungewöhnliche Titelfindung! Einer der beiden amerikanischen Musiker erinnerte sich amüsiert an die Speisekarte im Huber Bräu in St. Johann und schlug „Pig Knuckle“ vor.  Da musste ich dann etwas die Kursrichtung ändern und brachte als Idee „Knucklebones“, die Bezeichnung für ein altes Kinderspiel, ein. Der Name „Knöchelknochen“ leitet sich von der altgriechischen Version des Spiels ab, Astragalus/Astragaloi. Und nachdem der Saxofonist Dave Rempis griechische Vorfahren hat, entschieden wir uns für diesen Titel.  

Der Verein Kunsthaltestelle Streckhammerhaus wurde 2010 von der bildenden Künstlerin Heidi M. Richter und dir gegründet. Er lädt Künstler:innen verschiedener Sparten ein, in den Räumlichkeiten des Streckhammerhauses künstlerisch zu arbeiten. Dieser Veranstaltungsort – Treffpunkt, Ausstellungsfläche, Konzertraum und Diskussionsforum – ermöglicht Begegnungen mit Formaten aus den Bereichen Musik, Malerei, Videokunst und audio-visueller Performance. Was ist für 2023 geplant?

Elisabeth Harnik: Das wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht! Es könnte sich eine Zusammenarbeit mit einem kroatischen Veranstalter und einer serbischen Veranstalterin ergeben, wir sind gerade im Gespräch. Neu ist auch, dass ich seit diesem Jahr eine von sechs Kurator:innen der Konzertreihe des „free music forum“ im Club Celeste in Wien bin. Sofern terminlich möglich, werden wir wie auch in diesem Jahr, ausgesuchte Musiker:innen im Anschluss zu uns einladen. 

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„Synergien zu ermöglichen, ist uns ein Anliegen.“

Welche Atmosphäre hat die Kunsthaltestelle Streckhammerhaus? Wie kuratiert ihr diesen Raum gemeinsam und welche Schwerpunkte sind euch dabei wichtig?

Elisabeth Harnik: Die Atmosphäre ist sehr intim und genau das schätzt unser Publikum. Es gibt nach den Events immer die Möglichkeit, sich auszutauschen und, falls von beiden Seiten gewollt, mit den Künstler:innen in Kontakt zu treten. Wir versuchen möglichst nachhaltig zu arbeiten. Am 26. Oktober 2022 ist beispielsweise der Analogsynthesizerspieler und Pianist Thomas Lehn bei uns zu Gast. Er hält am Vortag eine Lecture am Institut für Elektronische Musik in Graz und kommt auf dem Rückweg zu uns nach Wien. Wenn internationale Musiker:innen bereits im Rahmen einer Tournee in Österreich sind, bieten wir Auftrittsmöglichkeiten. Wichtig ist uns auch, dass regionale Künstler:innen im Programm vertreten sind. Wir sind Kleinstveranstalterinnen, das heißt, unsere Rahmenbedingungen sind sehr begrenzt. Aber ich denke, dass solche Keimzellen notwendig sind! Viele Erstbegegnungen fanden schon bei uns statt und daraus haben sich dann fixe Zusammenarbeiten entwickelt. Synergien zu ermöglichen, ist uns ein Anliegen. 

Wir hatten sehr schöne Kooperationen mit dem Narrenkastl in Frohnleiten. Das Narrenkastl, ein Ausstellungsraum, genauer gesagt Offspace* für zeitgenössische Kunst, befindet sich in einer alten Vitrine (1,40 x 1,20 m) in der Passage des Hauses Hauptplatz 24 in Frohnleiten. Seit 2011 stellen dort Künstler:innen monatlich ihre Werke aus – Initiatorin und freie Kuratorin ist Ulli Gollesch. 2017 waren beispielsweise im Rahmen der Kooperation Arbeiten der Komponisten Kunsu Shim und Gerhard Stäbler in der Vitrine des Narrenkastls zu sehen und die beiden Künstler gestalteten eine Eröffnungsperformance beim Narrenkastl

Während meiner Klang- und Wahrnehmungsinstallation „Humming Room“, die ich gemeinsam mit Milana Stavrić (Architektur) und Jamilla Balint (Akustik) im Rahmen des Kulturjahrs Graz 2020 im Augarten in Graz vor dem Museum der Wahrnehmung realisiert hatte, haben wir die junge bildende Künstlerin Bettina Eigner zu einem Artist-in-Residence-Aufenthalt in die Kunsthaltestelle eingeladen, weil sie mit Bienenwachs arbeitet. Sie entwickelte eine Installation eigens für die Kunsthaltestelle, die in unserem Garten temporär aufgestellt wurde. Die neue Arbeit trug den Titel „WAX ROOM REMELTED“ und war partizipativ konzipiert. Die Besucher:innen waren im Inneren zu kleinen rituellen Handlungen mit Bienenwachs eingeladen. Begleitend hielt Claudia Antonius einen Vortrag über Bienen in der Kunst.

„DER SCHLÜSSEL IST DAS HIN-HÖREN“– JAMILLA BALINT, ELISABETH HARNIK, MILENA STAVRIC (HUMMING ROOM) IM MICA-INTERVIEW

Humming Room; Elisabeth Harnik, Jamilla Balint, Milena Stavric (c) Isabella Klebinger 750 1
Humming Room; Elisabeth Harnik, Jamilla Balint, Milena Stavric (c) Isabella Klebinger 750 1

„So gesehen sind Komponierpausen für meine Arbeitsweise sehr wichtig!“

Dein Werk ist umfassend und erscheint bei Betrachtung von außen breit – es erweckt den Anschein als wärst du unermüdlich im Einsatz für die Kunst. Wie sieht dein Alltag als Komponistin aus und wo holst du dir Inspirationen? Welche Räume und Settings brauchst du, um effektiv zu arbeiten? Wo erholst du dich?

Elisabeth Harnik: Nun der Alltag hängt sehr vom Tätigkeitsbereich ab – als Komponistin arbeite ich hauptsächlich zu Hause. Ich lebe am Land in einem 400 Jahre alten Haus, da gibt es viele alltägliche Anforderungen, die mich zwingen, die Kompositionsarbeit zu unterbrechen, was aber dem kreativen Prozess sehr dienlich ist! Ich bewege mich beim Komponieren in den Spannungsfeldern von Formalisierung und Spontaneität. Selten setze ich in meiner Kompositionsarbeit am Beginn eines Stückes an und bewege mich gerne sprunghaft auf der Zeitlinie, wobei Strukturen eines späteren Abschnittes auf vorangehende Teile zurückwirken können. Oftmals habe ich spontane Eingebungen, die mich zu gesuchten Lösungen führen, während ich etwas ganz anderes mache. So gesehen sind Komponierpausen für meine Arbeitsweise sehr wichtig!

Weniger anregend empfinde ich jedoch Arbeitsunterbrechungen, die von der mittlerweile überbordenden Büroarbeit eingefordert werden. Die Realität ist, dass freischaffende Künstler:innen viele Aufgaben selbst ausführen müssen – wie etwa das Schreiben von Anträgen, das Organisieren von Konzertreisen, die Akquise-Tätigkeit, das Netzwerken bis hin zur Bewerbung von Konzertveranstaltungen. Ich selbst muss manchmal meine eigene Agentur, mein eigener Verlag, mein eigenes Reisebüro sein. Digitalisierung im Kulturbereich bedeutet leider zu oft Mehrarbeit! Gleichzeitig sind die Honorare im Kunst- und Kulturbereich seit Jahrzehnten gleich geblieben und immer noch weit von Fair Pay entfernt. Wer kann sich schon leisten, andere Professionen mit diesen Aufgaben zu betrauen?!

Zu Hause finde ich Inspiration und Erholung vor allem in der Natur, die mich umgibt. Sie ist für mich eine unendliche Quelle der Kraft, insbesondere in Verbindung mit der Praxis des Deep Listening, einem Werkzeug, das die amerikanische Komponistin, Akkordonistin und Pionierin der Elektronischen Musik Pauline Oliveros entwickelt hat. Verschiedene Techniken des aufmerksamen Zuhörens erlauben mir, mich entweder auf bestimmte Klangereignisse zu fokussieren, oder aber den Fokus zu öffnen und meine Umgebung in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen. Diese Art der Verbundenheit ist für mich immer eine gute Methode, um Stress abzubauen und eingefahrene Alltagsmuster zu durchbrechen.

Meine nationale und internationale Konzert- und Reisetätigkeit im Bereich der improvisierten Musik empfinde ich als sehr stimulierend. Das kollektive Hervorbringen von Musik beruht auf Kooperation und Austausch. Diese Art der Ko-Komposition ist eine wunderbare Ergänzung zur ansonsten eher einsamen Arbeit als Komponistin im herkömmlichen Sinne. Außerdem beschränkt sich der Austausch nicht nur auf das Geschehen auf der Bühne. Es ergeben sich wunderbare Gespräche und man erlebt einzigartige menschliche Begegnungen während einer Tournee!
Und selbstverständlich können mich auch Arbeiten von Künstler:innen anderer Sparten beflügeln. Über den eigenen Tellerrand zu schauen, ist immer ein Gewinn! Und zu guter Letzt ist es für mich wichtig, mein Recht auf Urlaub wahrzunehmen. Ich brauche diese Zeiten, um aus dem Alltag und meinen beruflichen Identitäten auszusteigen, um allmählich in einen Zustand der Langeweile kommen zu können. Es gibt nichts Erholsameres!

„Mit Sicherheit haben jedoch kulturpolitische Entscheidungen in Österreich große Auswirkungen auf meine künstlerische Arbeit.“

Erinnern wir uns zum Schluss noch einmal an die Zukunft. Konkret: Welche persönlichen Klimawandel-Anpassungen hast du als Musikerin und Komponistin bereits getroffen? Nehmen die aktuellen Entwicklungen auch Einfluss auf deine Arbeit?

Elisabeth Harnik: Nun, wann immer es möglich war, habe ich versucht, Flugreisen zu vermeiden und bin mit dem Zug gefahren oder habe Fahrgemeinschaften gebildet. Diesbezüglich bin ich aktuell natürlich noch sensibilisierter. Manche Konzerte finden allerdings nicht in Großstädten statt, da würde ich mir bessere Zugverbindungen wünschen. Es ist sehr belastend, nach einer neunstündigen Bahnfahrt, vielleicht auch noch mit Verspätung ein Konzert zu spielen. Derzeit kommt erschwerend hinzu, dass Bahn- und Flugreisen sehr unzuverlässig sind. Das beeinträchtigt sowohl die Arbeit der Künstler:innen als auch die der Veranstalter:innen!

Bereits seit einigen Jahren pflege ich gute Kontakte zu Kulturvereinen in diversen Nachbarländern und bevorzuge Konzerttätigkeiten und Projekte in jenen Ländern, die eine Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln prinzipiell erlauben würden. Weite Anreisen für kleine Einzelkonzerte machen für mich mittlerweile überhaupt keinen Sinn mehr. Inwieweit aktuelle weltpolitische Entwicklungen einen Einfluß auf meine weitere Arbeit haben werden, kann ich noch nicht abschätzen. Mit Sicherheit haben jedoch kulturpolitische Entscheidungen in Österreich große Auswirkungen auf meine künstlerische Arbeit. Zum Beispiel die gerade vom ORF angekündigten Einsparungen bzw. Streichungen, von denen Ö1-Formate wie „Zeit-Ton“, die „Ö1 Jazznacht“, die „Lange Nacht der Neuen Musik“ oder etwa das „Kunstradio“ betroffen wären. Das ist sehr beunruhigend! Es gibt bereits einige Petitionen – da müssen wir uns nicht nur empören, sondern auch aktiv werden!

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Isabella Klebinger, Michael Franz Woels

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Termine:

Dienstag, 15. November 2022, 19:30 Uhr
Wien Modern: GEORG BASELITZ | ENSEMBLE KONTRAPUNKTE | CANTANDO ADMONT
Musikverein, Gläserner Saal
Programm:

Morton Feldman: For Franz Kline (1962)
Elisabeth Harnik: Bein im Sprung (2021 UA), Kompositionsauftrag Wien Modern und Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Beat Furrer: Akusmata. Sieben kurze Stücke für Vokalensemble und Instrumente nach Fragmenten von Pythagoras (2020)

Mitwirkende:
Ensemble Kontrapunkte
Cantando Admont – Vokalensemble für Alte und Neue Musik: Vokalensemble
Friederike Kühl: Sopran Feldman
Jaap Blonk: Stimme Harnik
Cordula Bürgi: Leitung

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Mittwoch, 9. November 2022, 19:00 Uhr
Wien Modern: 5 Jahre Fraufeld
Wiener Konzertsaa, Mozart-Saal

19:00 Uhr:

Viola Falb, Elisabeth Harnik: Floating Perspective II (2021 UA)
Gobi Drab, Veronika Mayer: fettGewebe (2021 UA)
Ursula Reicher, Thomas Gieferl: #4 Dizorganisation (2020) 
Andromeda Nebula (2021)
under the given circumstances ( JUUN, Lale Rodgarkia-Dara)
Judith Unterpertinger, Lale Rodgarkia-Dara: Sublimität (2022 UA) 
Mit jedem Tag wird das Unumgängliche begangen (2022 UA)
Judith Unterpertinger, Lale Rodgarkia-Dara: Konzentrierte Hülle (2022 UA)

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Links:
Elisabeth Harnik
Elisabeth Harnik (music austria Musikdatenbank)
Kunsthaltestelle Streckhammerhaus