Text: Christoph Benkeser
In den 2000er Jahren prägte ABBOUD HASHEM die erste Generation von Hip-Hop in Palästina. FIRAS SHEHADEH, der in Jordanien aufwuchs, sollte Teil einer zweiten werden. In Wien veröffentlichen sie weiterhin Musik, auch wenn statt Worten inzwischen öfter die Maschinen sprechen. Als ASIFEH produzierte HASHEM 2020 ein Beat-Album für das Wiener Label Well Gedacht. Das aktuelle Album von SHEHADEH erschien im vergangenen Juni via Bandcamp. Beide eint der Krach. Im Rahmen des Unsafe+Sounds Festivals 2023 treten HASHEM UND SHEHADEH zum ersten Mal gemeinsam auf. Zuvor haben wir uns über Krieg, Field Recordings und Willhaben unterhalten.
Eure Wurzeln führen nach Palästina. Wie habt ihr euch kennengelernt?
Abboud: Firas und sein Bruder Ahmad hatten ein Rap-Projekt namens Torabyeh, das hab ich um 2010 verfolgt. Ich stand danach in Kontakt mit seinem Bruder und traf ihn später in Jordanien. Er nahm mich mit zum Darat Al Funun Kunstinstitut in Amman, wo Firas arbeitete. Wir trafen uns dort aber nur kurz und sahen uns erstmal für längere Zeit nicht mehr.
Firas: Ich komme aus Ramleh, Palästina, bin aber in Amman geboren und zwischen Saudi-Arabien und Jordanien aufgewachsen. 2015 bin ich nach Wien gezogen, um an der Akademie der bildenden Künste zu studieren. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits mit Abbouds Arbeit vertraut, insbesondere mit Ramallah Underground.
Abboud: Ich bin in Wien geboren und hab die ersten neun Jahre meines Lebens hier gelebt. Dann bin ich mit meiner Familie nach Ramallah in Palästina gezogen. Nach der Matura kam ich 2004 zurück nach Wien, bis ich mich 2011 entschloss, wieder nach Ramallah zu ziehen und 2015 nach Wien zurückzukehren.
Du hast ursprünglich mit Hip-Hop angefangen, richtig?
Abboud: Ja, aber es ging mir bei Hip-Hop nie nur um die Musik, sondern auch um eine Gemeinschaft und eine Möglichkeit für verschiedene kreative Köpfe, sich zu verbinden und gemeinsam zu jammen. Obwohl ich auch andere Genres wie Punk und Metal hörte, war Hip-Hop das Genre, das meine Gedanken und Worte zu dieser Zeit am besten repräsentierte – es gab mir die Möglichkeit, so viele Dinge in nur einem Song zu sagen, außerdem brachten die Beats Botschaft und Gefühle rüber.
Firas: Meinen älteren Cousins und ihre Freunde haben mir die Musik von Wu-Tang Clan, Mobb Deep und Nas gezeigt – ein einschneidendes Erlebnis. Ich verstand schnell, dass diese Musiker, genau wie wir, in einer ähnlichen Realität lebten und mit ihrer Musik Macht und Einfluss zurückeroberten. Hip-Hop ist ihre Art, sich künstlerisch, politisch und gesellschaftlich auszudrücken. Diese Offenbarung öffnete mir die Augen für die Kraft des Hip-Hop.
Ihr betont die Einstellung von Hip-Hop, die Attitude.
Firas: Auf jeden Fall, es fühlte sich sofort vertraut an. Auch wenn ich später andere Musik wie traditionelle palästinensische Musik und Punk hörte, war Hip-Hop immer eine Kultur, die all diese Ausdrucksformen und Energien irgendwie umfasst.
Abboud, du hast in den 2000er Jahren Ramallah Underground gegründet. Warum war das Mikrofon für dich wichtig?
Abboud: Ursprünglich hatte ich keine ernsthaften Pläne, Musik zu machen, ich habe nur damit experimentiert, nachdem ich eine E-Gitarre bekommen und mit ihr auf Fruity Loops (digitale Audio Work Station, Anm.) rumgespielt hatte. Dann traf ich Muqata’a, mit dem ich Ramallah Underground gründete, in der High School. Er machte zu dieser Zeit Trip Hop. Wir hingen zusammen ab und kamen auf die Idee, gemeinsam etwas Sinnvolles zu veröffentlichen. Das war während der Zweiten Intifada. Überall standen israelische Besatzungspanzer in den Straßen und Scharfschützen auf den Dächern. F16-Kampfflugzeuge und Apache-Hubschrauber warfen Bomben ab. Es gab Kontrollpunkte zwischen allen Vierteln und strenge, lang anhaltende Ausgangssperren. Die meiste Zeit saßen wir in unseren Häusern fest und durften nirgendwo hin, nicht einmal in die Schule, weil man Gefahr lief, von den israelischen Besatzungstruppen verhaftet, schikaniert oder sogar erschossen zu werden. Wir nutzten diese Zeit und Erfahrung, um unsere Wut und Frustration über die Realität, in der wir lebten, zum Ausdruck zu bringen, denn wir berichteten auf unsere Weise von der Realität.
Firas: Das Internet spielte damals eine große Rolle in der arabischen Hip-Hop-Bewegung. Zwischen der ersten und der zweiten Intifada wurden Computer immer zugänglicher, und es gab das Internet. Es war der Ort, an dem wir unsere Musik austauschen, uns treffen und verbreiten konnten, vor allem zwischen Palästinensern in Palästina und der Diaspora.
Abboud: Ja, nachdem wir unsere Arbeit im Internet veröffentlicht hatten, wurden Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt, vor allem aus arabischsprachigen Ländern, auf sie aufmerksam.
In letzter Zeit verwendet ihr beide weniger Worte in eurer Musik, stattdessen abstrakte, experimentelle Musik. Wie kommt es zu dieser Veränderung?
Abboud: Meine „traditionelle” Hip-Hop-Phase veränderte sich um 2010, nicht lange nachdem das Projekt Ramallah Underground zu Ende ging. Zu dieser Zeit begannen Teile der Community, verrücktere und experimentellere Sachen zu machen als zuvor. Ein Freund von mir nannte die Musik sogar Post-Hip-Hop, weil wir traditionelle Formen ablehnten und verzerrte Beats und glitchy Vocals verwendeten. Da ich in diese Szene eingebettet war, hat sie mich zu meiner künstlerischen Entscheidung inspiriert, mehr zu experimentieren. Ich wollte keine Kompromisse eingehen und die Grenzen dessen, was als Musik akzeptiert werden sollte und was nicht, verschieben.
Kannst du das weiter ausführen?
Abboud: Viele meiner neueren Arbeiten sind offener für Interpretationen. Es gibt normalerweise ein Thema, aber nicht immer eine explizite Botschaft. Diese Verschiebung mit dem Fokus auf instrumentale Produktionen fällt mit dem Moment zusammen, als ich 2015 zurück nach Wien zog. Damals entdeckte ich Willhaben als Ort, an dem ich Vintage-Musik-Equipment kaufen konnte – alles von Synthesizern über Drumcomputer bis hin zu Samplern, die alle zu einer Zeit entstanden sind, in der ich geboren wurde. Das Experimentieren an diesen Geräten hat die Art und Weise beeinflusst, wie ich arbeite, nämlich zu versuchen, sie zum Sprechen zu bringen. Es geht darum, sie so zu nehmen, wie sie sind, und den Klang so zu akzeptieren, wie er ist – mit all seinen Unvollkommenheiten.
„FIRAS UND ICH PRODUZIEREN HEUTE MUSIK AUF UNSEREM IPAD.”
Es ist interessant, dass du analoge Geräte erwähnst, obwohl dein Sound auf eine digitale Ära verweist.
Abboud: Für mich war es immer eine Kombination aus analogen und digitalen Quellen. Ich war nie wirklich streng, was ich verwenden darf oder nicht. Das Equipment ist nur ein Mittel zum Zweck. Was zählt, ist das Konzept und Ergebnis. Firas und ich produzieren heutzutage auch Musik auf unserem iPad.
Firas: Das ist perfekt, ich kann auf mein Kind aufpassen, während ich auf der Couch Ideen entwerfe und an neuen Sounds arbeite. Wie Abboud aber schon gesagt hat: Es geht um das Ergebnis, nicht um das Equipment. Ich lasse mich von der Kultur des Internets inspirieren, ich arbeite mit Sampling und Sounds von Plattformen wie YouTube oder TikTok. Ich mach nicht mal mehr Field-Recordings, weil ich das Gefühl habe, dass es in der Realität nichts Neues mehr aufzunehmen gibt. Stattdessen arbeite ich die meiste Zeit mit bereits vorhandenem Material, unabhängig von dessen Herkunft.
Ich meine eher das Gefühl, das man beim Hören und Sehen bekommt – es hat was Digitales.
Firas: Unsere Arbeit ist stark von den Auswirkungen der Technologie, der Politik und der digitalen Ästhetik geprägt. Sie ist jedoch nicht in nostalgischen Einflüssen verhaftet, sondern eher eine Vision, die aus unseren eigenen persönlichen Erfahrungen stammt. Ein Paradebeispiel für diese Verschmelzung ist mein letztes Album „Sharqan Hatta Al Maut”, in dem ich einfache Sampling-Techniken mit KI-Prompts kombiniert habe. Mit der Kombination aus Titeln, Klängen und Bildern führe ich Hörende auf eine Reise, die Zeit und Raum transzendiert und ihn in eine Klanglandschaft eintauchen lässt.
Auf dem Cover sieht man zwei weiße Pferde, die durch eine animierte Oase galoppieren.
Firas: Ja, die Idee hinter dem Album ist die Vorstellung, den europäischen Kolonialismus in Palästina rückgängig zu machen, wobei wir uns von verschiedenen Quellen inspirieren lassen, zum Beispiel von persönlichen Geschichten, die über Generationen weitergegeben wurden, von der palästinensischen Gefangenenbewegung, von literarischen Werken palästinensischer Autor:innen und von Science-Fiction-Elementen. Es ist ein bisschen wie Akira, aber aus meiner Sicht als Palästinenser. Und natürlich haben Pferde in der arabischen Kultur im Allgemeinen und in Palästina im Besonderen eine große Symbolkraft: Widerstandsfähigkeit, Kraft, Würde und Schnelligkeit.
Bitte führ das noch aus.
Firas: Obwohl die israelische Kolonialherrschaft in Palästina über eines der modernsten Militärarsenale der Welt verfügt, ist sie auch nach 75 Jahren Nakba nicht in der Lage, das Volk und das Land zu entschlüsseln, das es besetzt hält. Ihre ausgefeilten Tötungstechnologien haben es nicht geschafft, das Wesen des palästinensischen Volkes und seine Verbundenheit mit seinem Heimatland zu knacken. Daher besteht meine Strategie darin, die kolonialen Algorithmen in Frage zu stellen, indem ich das Leben als unberechenbares Subjekt begreife.
Ihr habt zu verschiedenen Gelegenheiten bereits zusammengearbeitet, welche gemeinsame Vision verfolgt ihr?
Firas: Wir verfolgen bei unseren jeweiligen Soloprojekten einen Ansatz, der über den Bereich der Musik hinausgeht. Wenn ich zum Beispiel an einem neuen Film oder Video arbeite, teile ich das Drehbuch mit Abboud, um sein Feedback zu bekommen. In ähnlicher Weise bezieht mich Abboud in seinen kreativen Prozess ein, indem er mir seine neuen Alben oder Tracks vorspielt. Wir haben außerdem an Projekten gearbeitet, bei denen ich Videos für seine Musik produziere oder er mir mit Sounds für meine Videos hilft. Dieser gegenseitige Austausch von Feedback und Unterstützung führt zu einem wirkungsvolleren künstlerischen Ergebnis.
Du hast erst spät angefangen, Musik zu produzieren. Warum?
Firas: Ich hab mich bereits vor meinem Soloprojekt mit Musikproduktion beschäftigt, aber meist im Hintergrund oder in sehr kleinen DIY-Improvisationen. Es ging mir um Sounddesign und Edits – ich hatte ein Interesse für das Unmusikalische. Abboud war der Grund, dass ich angefangen habe, meine Musik überhaupt zu veröffentlichen. Ich hab ihm meine Beats vorgespielt, eines Tages meinte er „Yo, das ist gut, du solltest es veröffentlichen!” Am Anfang hatte ich Zweifel, ob irgendjemand meine Sachen hören würde, aber dann war es mir egal, ich habe einfach nur Sachen rausgebracht, die ich mochte. 2017 haben wir schließlich angefangen, zusammen Musik zu machen. Der erste Song war in etwa einer halben Stunde fertig.
Abboud: Deshalb arbeite ich immer gerne mit Firas zusammen. Wir reden darüber. Wir nehmen es auf. Wir drehen das Video. Das war’s. Ich habe noch nie mit jemandem zusammengearbeitet, der Entscheidungen so spontan trifft wie Firas. Das erinnert mich an die kreative Stimmung, die wir in Palästina hatten. Wir hatten dort einen Raum, in dem wir uns ständig Feedback gaben und uns gegenseitig motivierten. Firas ermöglicht mir das auch in Wien.
„ES IST MEHR ALS FREUNDSCHAFT, ES IST MEHR WIE EINE FAMILIE.”
Firas: Ich hatte Glück, dass ich Abboud in Wien gefunden habe. Auch wenn wir unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben, teilen wir bestimmte. Wenn wir uns treffen, machen wir die meiste Zeit keine Musik. Wir reden nur, sei es über eine bevorstehende Ausstellung, ein neues Buch oder die Falafel, die wir gestern gegessen haben. Sobald wir den Drang haben, etwas zu produzieren, geht es aber ganz schnell – eben weil wir uns die ganze Zeit auf diesen Moment vorbereitet haben.
Abboud: Manchmal haben wir deshalb das Gefühl, dass es zu leicht geht. Es gibt aber eine Vielschichtigkeit – in der Musik, aber auch durch Titel und Ästhetik.
Gibt es eine Sache, die ihr aneinander mögt?
Abboud: Vor der Musik kommt unsere Freundschaft. Wir verstehen uns gegenseitig. Abgesehen davon schätze ich es sehr, wie Firas die Dinge in Worte fasst. Normalerweise rede ich nicht so viel, außer ich schreibe an eigenen Texten.
Firas: Es ist mehr als eine Freundschaft, es ist wie eine Familie. Und selbst wenn Abboud nicht so viel redet wie ich – wenn er etwas sagt, dann sitzt es. Und zwar nicht wegen großen und ausgefallenen Worten, sondern wegen seiner Lebenserfahrung.
Danke für das Gespräch!
Christoph Benkeser
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Links:
Firas Shehadeh (Homepage)
Asifeh (Bandcamp)
Firas Shehadeh (Bandcamp)