Datenbanken und Netzwerke – Felder individueller/künstlerischer Intervention?

In einem der Schlüsselwerke der Postmoderne (Das Postmoderne Wissen, Graz/Wien 1986) schreibt Jean-François Lyotard den Datenbanken und dem kreativen Umgang mit diesen eine wesentliche Bedeutung für die Zukunft des Wissens zu. Der Zustand einer Welt, den er vor fast 40 Jahren visionär beschrieben hat, ist inzwischen erreicht, die von ihm prognostizierte Dynamik bzw. Problematik ist längst Realität.

STANDARD:
Sie beschäftigen sich unter anderem mit dem Thema Quanteninformation. Manche Physiker sagen, die Information ist das Rückgrat des Universums.

Cirac: Ich halte das für eine vernünftige Ansicht. Möglicherweise sind Materie und Energie gar nicht so wichtig. Es könnte sein, dass die Gesetze der Information noch grundlegender sind. (Robert Czepel, DER STAN-DARD, 4.4.2012)

Ignacio Cirac ist Direktor am Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching bei München. Letzte Woche war er an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien zu Gast, wo er einen Vortrag über die Mysterien und Anwendungen der Quantenphysik hielt. (http://derstandard.at/1333185183843/Wir-brauchen-nicht-14-sondern-100000… 4.4.2012)

Die technischen Veränderungen, die damals im Begriff waren, die Welt zu revolutionieren, sind inzwischen nicht mehr wegzudenkende Standards. Lyotard prophezeite, dass die Veränderung der Wissens-Transportmittel das Wissen selbst verändern würde, dass nur Wissen überdauern werde, das in kleine Informationseinheiten übersetzt werden könne. Traditionelles Wissen, das in diesem Sinn nicht übersetzbar wäre, würde verschwinden oder keine Beachtung mehr finden. Sowohl die Produzenten als auch die Nutzer des Wissens müssen im Besitz von Instrumenten sein, die ihnen jeweils zu übersetzen ermöglichen, was der andere zu erfinden bzw. zu lernen versucht. Auch diese Prophezeiung ist inzwischen eingelöst.

Wissen und Macht sind zwei Aspekte derselben Frage, nämlich wer darü-ber entscheidet, was Wissen überhaupt sei und wer dazu überhaupt und wie legitimiert ist, diese Entscheidung zu treffen. Eine Weitere Frage ist die Vermittlung des nun neu aufbereitenden Wissens. Auch hier hat Lyo-tard ein visionäres Bild, nämlich die Anvertrauung der Didaktik an Maschinen, die die Datenbanken an intelligente Terminals anschließen, die etwa den StudentInnen zur Verfügung gestellt werden. „Nicht die Inhalte, sondern den Gebrauch von Terminals, das heißt einerseits neue Sprachen, und andererseits eine raffinierte Handhabung jenes Sprachspiels, das die Befragung darstellt: Wohin die Frage richten, das heißt welcher Speicher ist für das, was man wissen will, relevant? Wie sie formulieren, um Fehlgriffe zu vermeiden? usw.“ Die Welt des postmodernen Wissens ist für Lyotard von einem Spiel vollständiger Information geleitet, in dem es kein wissenschaftliches Geheimnis gibt. Der Zuwachs an Performativität hänge in Zukunft nicht mehr von seinem Erwerb, sondern von der Produktion desselben, also von der Fantasie ab, die erlaubt, einen neuen Spielzug (im Sinne des Sprachspiels Witt-gensteins) zu setzen, oder die Regeln des Spiels zu verändern. In diesem Zusammenhang fordert er die Lehre von Verfahren, die geeignet sind, die Fähigkeit des Verbindens von Informationsfeldern zu verbessern und der so genannten Interdisziplinarität eine wichtige Bedeutung in diesem Zusammenhang zu.

Längst hat sich das Netz der digitalen Informationsfelder zu einem schier unüberblickbaren kybernetisch-dynamischen Komplex entwickelt. Die po-pulärste Datenbank, als die ich hier das Internet bezeichnen will, hat als das erfolgreichste technoimaginäre Medium (Flusser) das Fernsehen ver-drängt. Für das Internet als Ganzes (in seiner Ausformung als Web 2.0) wie auch für die als soziale Medien ausgewiesenen Datenbanken im Netz wie Google, Facebook, Twitter, Youtube, Flickr, Wikipedia, Soundcloud u. a. gilt ebenso wie für das Format Fernsehen, dass eigentlich alles Wer-bung ist (Flusser). Die von Spezialisten, die hinter diesen populären Ange-boten im Netzt stehen, geleitete Aufmerksamkeit der Nutzer zielt ebenso wie alle anderen Massenmedien auf Werbung, von denen die Betreiber auch leben. Vilém Flusser warnte bereits vor dem Beginn der hier be-schriebenen Entwicklungen vor dem unreflektierten Gebrauch der Mas-senmedien, die uns manipulieren, solange wir sie nicht verstehen lernen und sie für unsere Zwecke nutzen.  Der bewusst kreative Umgang mit den heute zur Verfügung stehenden Datenbanken und Netzwerken ist notwendiger denn je. Es geht nicht nur um die Erhaltung unserer Freiheit, sondern um die demokratische Verteilung von Macht bezüglich der Legitimierung von Wissen.

Im Kontext der bereits historischen Technobilder wie Fernsehen, digitale Fotografie und Video etc. waren es die KünstlerInnen, die im Sinne Lyotards bzw. Wittgensteins mit ungewöhnlichen, unerwarteten Spielzü-gen Bewusstsein für die Funktionsweise dieser Medien erzeugt haben. Im heute bereits sehr komplexen Feld digitaler Datenbanken und Netzwerke ist eine kreativer, innovativer Umgang mit diesen eine wesentliche Forde-rung, um zu gewährleisten, dass wir sie unter Kontrolle haben können und nicht umgekehrt sie uns. Auch in diesem Kontext gibt es künstlerische Projekte, die uns die Mög-lichkeiten zu diesem bewussten Umgang mit den uns zugänglichen und uns Macht suggerierenden digitalen Netzwerken geben. Solange jeder Klick und jeder neue Kontakt einen Profitzuwachs für das Betreiberunter-nehmen bedeutet, an dem wir als Hersteller dieser neuen Synapsen kei-nen Anteil haben, ist das Verhältnis unausgewogen, vielmehr zielt das Betreiberunternehmen darauf, uns zu von ihm entworfenen Spielzügen zu animieren, und nicht, eigene zu entwickeln.

Der Netzpublizist Eli Pariser schreibt in seinem Buch Filter Bubble, dass man sich im Internet in vorgefilterten Blasen bewege, dass der Compu-termonitor zum Spiegel geworden sei, der unsere Interessen reflektiere, während algorithmische Aufseher beobachten, was wir denken.(vgl. Inge Kutter, Das ewige Update, in: Die Zeit Nr. 32 vom 2. 9. 2012, S. 21)

Die führenden Konzerne wie Apple, Facebook, Google und Amazon zwin-gen den Internetnutzern mit fragwürdigen Methoden ihre Regeln auf. Google etwa filtert die Ergebnisse seiner Suchmaschine weltweit mal nach politischen Vorgaben, mal nach unterstellten persönlichen Interessen der Nutzer (Götz Hamann  und Marcus Rohwetter, Vier Sheriffs zensieren die Welt, in: Die Zeit Nr. 32 vom 2. 9. 2012, S. 19). Apple, Facebook, Google und Amazon vereinen rund 80 Prozent  des grenzüberschreitenden Datenverkehrs auf sich. 40 Prozent der Zeit, die Menschen online verbringen, vereinen die Seietn der großen vier auf sich. … Google beantwortet eine Milliarde Suchanfragen pro Tag.

Die beiden französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari entwickelten über ihre Kritik an Freud und ihre neue Theorie des Unbe-wussten eine neue Konzeption des Lesens. Sie postulieren die Idee des Rhizoms (Wurzelgeflecht) als dynamische Struktur eines Agierens und Produzierens im Fluss und in nicht zentrierten Systemen:
Findet die Stellen in einem Buch, mit denen ihr etwas anfangen könnt. Wir lesen und schreiben nicht mehr in der herkömmlichen Weise. Es gibt keinen Tod des Buches, sondern eine neue Art des Lesens… Ein Buch muss mit etwas Anderem eine Maschine bilden, es muss ein kleines Werkzeug für ein Außen sein. Keine Repräsentation der Welt, auch keine Welt als Bedeutungsstruktur. Das Buch ist kein Wurzel-Baum, sondern Teil eines Rhizoms, Plateau eines Rhizoms für den Leser, zu dem es passt. Die Kombinationen, Permutationen und Gebrauchsweisen sind dem Buch nie immanent, sondern hängen von seinen Verbindungen mit diesem oder jenem Außen ab. Ja, nehmt was ihr wollt! (Gilles Deleuze/Félix Guattari, Rhizom. Berlin 1977, S. 40)

Das Rhizom ist also wie eine offene (Land-)Karte, die in allen ihren Di-mensionen verbunden, demontiert und umgekehrt werden kann, – ständig modifizierbar ist. Man kann sie zerreißen und umkehren;… Man kann sie auf Mauern zeichnen, als Kunstwerk begreifen, als politische Aktion oder als Meditation konstruieren. Eines der wichtigsten Merkmale des Rhizoms ist es, viele Eingänge,- Zugänge zu haben (Deleuze/Guattari S. 21 f). Das wäre ein Modell für den Umgang mit Daten im Informationszeitalter, für den Umgang mit Datenbanken und Netzwerken: ein enorm kreativ-spielerisches.

Wenn Siegfried Zielinski am Beginn seines Buches über die Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens (Siegfried Zielinski, Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens. Reinbek bei Hamburg 2002, S. 22) die Frage stellt, ob wir nicht gerade gegenwärtig verstärkt Naturwissenschaftler brauchen, die Augen wie Lüchse und Ohren wie Heuschrecken haben, und Künstler, die etwas aufs Spiel setzen, anstatt den gesellschaftlichen Fortschritt mit ästhetischen Mitteln nur zu moderieren, dann ist damit einerseits die Gefahr artikuliert, dass Wissenschaft und Kunst ihre ureigensten Aufgaben vernachlässigen könnten und andererseits ein Aufruf zur aktiven Begegnung mit den Herausforderungen des Medienzeitalters. Dieses etwas aufs Spiel setzen ist für ihn durchaus etwas, das mit dem Reich der Illusionen, das die Medienwelt darstellt, vereinbar ist. Dabei bezieht er sich auf den Philosophen Dietmar Kamper, der darauf aufmerksam machte, dass das Wort illudere nicht nur bedeute, etwas vorzutäuschen, einen schönen Schein zu erzeugen, sondern dass in ihm etwas mitschwinge, das für mediales Handeln besonders wichtig sei, nämlich dieses etwas aufs Spiel setzen, die eigene Person mit eingeschlossen. So plädiert er etwa für eine eingreifende Medientheorie und –praxis, die an der Schnittstelle zwischen Medienmenschen und Medienmaschinen aktiv ist. Von den Künstlerinnen und Künstlern, die sich auf das riskante Spiel eingelassen haben, sollte man lernen, mit und durch die neuen Techniken für das Andere zu sensibilisieren und das Vertraute allmählich umzukehren, das Mögliche mit seinen eigenen Unmöglichkeiten zu konfrontieren (Zielinski S. 21).

Obwohl der kreative Umgang mit immer komplexer werdenden Systemen immer schwieriger wird, ist er dennoch möglich. Als Beispiel dafür sei die Wiener Künstlerin Anna Schauberger genannt. Sie beschreibt ihre Arbeit so:

„Meine Internet-Tätigkeit besteht nun daraus, dass ich mit anderen gleichgesinnten Produzierenden via Soundcloud – in weiterer Folge über Facebook – in Kontakt komme und so Kollaborationen entstehen. Das kann sich einerseits auf die heimische Szene beziehen, aber natürlich auch auf die internationale. Meistens sieht die Zusammenarbeit so aus, dass ich fertige instrumentals oder works in progress zugeschickt bekomme und mich als Texterin & Sängerin ans Werk mache. Seit ein paar Monaten melden sich auch VokalistInnen, die gerne mit instrumentals von mir arbeiten würden. …
Alle exportierten Spuren schicke ich via dropbox oder WeTransfer.com an die Produzenten, die sich im weiteren Verlauf um den Mixdown kümmern und mir vor der Veröffentlichung eine/mehrere Versionen zukommen lassen, bis alle glücklich sind. Sobald mein OK eingetroffen ist, wird der Track mit den credits im Titel auf soundcloud / bandcamp online gestellt und via facebook verbreitet. Oft wenden sich Blogger mit einer Privatnachricht an die Künstler und geben Bescheid, wenn ein Track verwendet wurde. Auch über die Verwendung in Radioshows (fm4; Radio Orange → female:pressure) wird man gelegentlich via fb benachrichtigt. Was natürlich extra spannend und erfreulich ist, ist die Entwicklung von Freundschaften, die mitunter aus Kooperationen entstehen.“

Anna Schauberger hat also ein Spiel entwickelt, dessen Regeln sie selbst bestimmt. In ihrer Arbeit bricht sie aus den vom Betreiber intendierten Benutzungsmodi aus, indem sie aktiv und kreativ neue Spielzüge entwi-ckelt und auf dieses Weise den von den Betreibern vorformulierten Spielen und Regeln entkommt. Wir dürfen nicht jede Art von Verantwortung abgeben, sagt der Schriftsteller Benjamin Stein in diesem Zusammenhang (Die Zeit Nr. 32/S. 20) Den meisten Menschen ist ja gar nicht bewusst, wie eingehegt sie im scheinbar freien Internet schon sind und wie viel Informationen sie unfreiwillig von sich preisgeben. Das Bewusstsein dafür, dass da aggressiv Geld verdient werde, fehle. Die Verantwortung trage jeder Einzelne, vom Staat könne man nur Aufklärung fordern (Stein).

Der amerikanische Soziologe Richard Sennett schreibt im Vorwort zu sei-nem neuen Buch Zusammenarbeit: Wir haben sehr viel mehr Maschinen und Apparate als unsere Vorfahren, aber wir wissen weniger als sie, wie wir guten Gebrauch davon machen können. Wir haben dank der modernen Kommunikationsmittel mehr zwischenmenschliche Kontakte, aber wir wissen nicht so recht, wie man gut kommuniziert. Praktische Fertigkeiten bringen nicht das Heil, sondern sind nur Werkzeuge, doch ohne sie bleiben Fragen nach Sinn und Wert bloße Abstraktionen. (Richard Sennett, Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. 2012 Berlin, S. 11)

Bibliotheken bzw. Datenbanken sind Hilfsmittel, also eine Art Prothese für unser Gedächtnis, unsere ureigenste Bibliothek, die wir wie Peter Kien in Elias Canettis Roman Die Blendung stets mit uns mittragen. In Büchern, Bibliotheken und Datenbanken suchen wir lediglich nach dem, was wir vergessen haben. Jeder von uns ist eine Datenbank, das Web 2.0 mit der Möglichkeit des interaktiven Kommunizierens trägt dem Rechnung. In In-ternetforen und Blogs werden persönliche Informationen ausgetauscht, die nicht von oben (hierarchisch) gesammelt und wieder verteilt werden, sondern wie auf dezentralen Marktplätzen. Das auf demokratischen Prinzipien basierende System der Internet-Enzyklopädie Wikipedia etwa hat heute ein Vielfaches an Einträgen der traditionellen Lexika oder Enzyklopädien. (Vor rund 2000 Jahren enthielt die Bibliothek von Alexandrien das Wissen der damaligen Welt, zu dem nur wenige Menschen Zugang hatten. Google und Co. verschafften vor 10 Jahren einem Großteil der Menschheit den Zugang zum Wissen der heutigen Welt. Doch erweisen sich die Erbauer zunehmend als moralisch verkniffene Bibliothekare (Hamann/Rohwetter).

Der Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit der in Wikipedia veröffentlichen Daten mag eben in dieser demokratischen Struktur und der scheinbar fehlenden Legitimation der „Spender“ begründet sein, doch ist uns heute bewusst, dass auch das nach wissenschaftlichen Kriterien aufbereitete Wissen und damit auch die Legitimation derer, die es sammeln (Staat, Universität, Konzern, Verein, Internetforum) immer in einem bestimmten Kontext steht. Als Betreiber unserer jeweils eigenen Datenbank haben wir selbst die Macht, die uns erlaubt, nicht nur bewusst auf die in unseren Körpern gespeicherten Informationen zuzugreifen, sondern vor allem kreativ mit ihnen zu verfahren, um aus diesem Umgang etwa wieder neues Wissen zu erzeugen. Ich bin eine Datenbank immer im sozialen Gefüge, im freien Austausch mit anderen. Nur der aktive, kreative und bewusste Umgang mit den Datenbanken und Netzwerken, die uns zur Verfügung stehen und eigentlich ja nur das eigene Wissen bzw. das der Menschen spiegeln, bewahrt uns davor, dass wir nur Werkzeuge für die Eigentümer bzw. Betreiber dieser alten wie neuen Strukturen sind. Das Wissen sind wir selbst, und wir selbst sollten bestimmen bzw. mitbestimmen, was damit geschieht.
Wolfgang Seierl