Das Sprechen immer wieder neu erlernen – Tanja Elisa Glinsner im Porträt

Dieses Porträt von Kolja Porschke entstand im Zuge der Lehrveranstaltung „Ästhetischer Diskurs, Reflexion, Kritik: Schreiben und Sprechen über Neue Musik“ von Monika Voithofer im Wintersemester 2022/23 am Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien und wird als Teil einer Kooperation mit mica – music austria hier im Magazin veröffentlicht. Für diese Aufgabenstellung konnten die Studierenden frei eine aufstrebende Persönlichkeit aus dem Bereich der neuen Musik wählen.

Vielschichtig ist wohl der passendste Begriff, um Tanja Elisa Glinsner und ihr künstlerisches Schaffen zu beschreiben. Die 1995 geborene Linzerin ist nicht nur Komponistin, sondern auch Mezzosopranistin und Dirigentin, welche ihre Werke zum Teil auch selber singt und dabei dirigiert. Ihre kompositorische Ausbildung begann die 27-Jährige an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz, mittlerweile studiert sie neben ihrem Diplomstudium der Komposition an der mdw­–Universität für Musik und darstellende Kunst Wien auch Gesang, Musikdramatische Darstellung und Dirigieren. Sie selbst sieht dabei aber eher eine Trennung zwischen ihrer Tätigkeit als Dirigentin und ihren beiden anderen scheinbar symbiotischen Studien und bezeichnet sich selbst auch „als komponierende Sängerin“.

Aus diesem Facettenreichtum der musikalischen Aktivitäten ergeben sich auch die sehr verschiedenen Projekte der Künstlerin. In ihrem bisherigen Schaffen finden sich konzertante Gesangsauftritte, großangelegte Orchesterwerke und zarte Ensemblestücke mit feiner Struktur.

Das lebendige Kunstwerk

Dabei bleibt der Einfluss ihrer vielseitigen Interessen und Kompetenzen auf ihre Musik nicht unbemerkt. Die Empfängerin des Österreichischen Staatsstipendiums für Komposition 2021 sieht vor allem in ihrem kompositorischen Schaffen einen starken Einfluss ihrer sängerischen Tätigkeit. Gerade in ihren neueren Werken wie „Scena di Medea spielt sie mit der menschlichen Stimme, während sie in einer ihrer jüngsten Aufführungen des Stückes nicht nur ihr eigenes Werk dirigierte, sondern auch gleichzeitig die Rolle der Mezzosopranistin übernahm. Durch ihre performative Tätigkeit ist Glinsner auch zu einem unorthodoxen Werkbegriff gelangt: Ein Stück ist nicht final, „wenn es auf Papier gedruckt und abgegeben ist“ – ganz im Gegenteil, ein Musikstück bleibt für sie etwas Wandlungsfähiges, etwas Lebendiges, das sich gerne auch während der Proben ein wenig verändern darf.

Die Stimme, die orchestrale Sprache und „Scena di Medea“

Die Symbiose Glinsners Ausbildung in Gesang und Komposition hat der Mezzosopranistin viele neue Mittel in ihrer Komposition eröffnet. Gerade das Phänomen des orchestralen Sprechens und der damit einhergehenden Erweiterung der Funktion eines Ensembles oder Orchesters als Klangkörper zu einer mehrschichtigen Ausführung und Herangehensweise ans Werk ist für Glinsner sehr interessant. Während sie oft den Stoff teils auch in bedeutungsschwangeren Wörtern verpackt und diese wiederum zur Unkenntlichkeit entzerrt, so dass nur noch Laute der Wortbildung hörbar sind, können und müssen die interpretierenden Musiker*innen sich umso eingehender mit der zu Grunde liegenden Thematik beschäftigen.  So wird zum Beispiel aus dem Namen „Zeus“ ein zischend gehauchtes Z-E-U-S. Auf diese Weise wird den ohnehin schon mannigfachen Bedeutungsschichten eine weitere gleichwertige hinzugefügt. Besonders in ihrem Werk „Scena di Medea“, für welches sie unter Anderem den Kompositionspreis der Ö1-Talentebörse erhalten hatte, kann ebendieses Zusammenspiel aus Semantik, Klang, Szenerie, Dynamik und Metaebene nachempfunden werden:

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„Es geht um den gesprochenen und sprechenden Klang“

Wie an diesem Werk klar zu erkennen ist, ist es für Glinsner besonders wichtig, dass die textliche Ebene nicht nur in den Gesangspart, sondern vor allem in den Ensemble- bzw. Instrumentalpart Eingang findet, wie sich auch an ihrem jüngsten Orchesterwerk „Ein Baum. Entwurzelt. Der ins Leere fällt…“, dessen Uraufführung durch das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich im Herbst 2022 im Rahmen des Grafenegg Festivals geleitet hat, zeigt. Dabei steht „nicht unbedingt eine immanente, „verkopfte“ Textdeutlichkeit“ im Vordergrund, sondern vielmehr der „daraus resultierende Gesamtklang“.

Jeder Ton, jedes Geräusch und jede Dynamik ist hierbei ganz bewusst gewählt – ein Merkmal, das sich durch Glinsners gesamtes kompositorisches Schaffen zieht. Während sie zwar „danach trachtet“, sich und ihren Stil mit jedem Stück neu zu erfinden, immer wieder neue Werkzeuge im szenischen und klanglichen Bereich zu erforschen, sind ihr Aleatorik und Serialität fern. Was zählt, ist der Klang und die Bedeutung dessen bzw. „dahinter“.

Nichtsdestotrotz finden sich auch einige Konstanten in Glinsners Musik: Während sie sich selbst zwar keiner Schule zuordnet, ist sie gerade im Umgang mit dem einzelnen Klang „stark von Michael Jarrell geprägt“, ihrem ehemaligen Kompositionsprofessor. Im Umgang mit Spektralklängen findet Glinsner ihre „Inspirationsquellen in Werken von Gérard Grisey und Tristan Murail“, sie würde sich selbst „aber nie als Spektralkomponistin bezeichnen“, da Spektralakkorde für sie viel eher einen Bestandteil unter vielen ihres vielseitigen kompositorischen Werkzeugkoffers ausmachen. In Sachen Stimmbehandlung wiederum hat sie sich mitunter von Péter Eötvös’ „Drei Madrigalkomödien“ oder Carola Bauckholts „Die Alte“ und „Emil“ „ermutigt und inspiriert gefühlt“, sich auch kompositorisch mehr auf ihr eigenes Instrument „Stimme“ einzulassen und zu experimentieren. Einen großen Einfluss übten die Werke von Georg Friedrich Haas auf die junge Komponistin aus – insbesondere seine unterschiedlichen Zugänge zur Komposition musikalischer „Bearbeitungen“, wobei hier das Werk „Tria ex uno“ besonders hervorzuheben ist.

Tanja Elisa Glinsner (c) Theresa Pewal
Tanja Elisa Glinsner (c) Theresa Pewal

Klassisch neu denken

Trotz ihrer kompositionstechnisch ganz im Geiste der Neuen Musik komponierten Klänge steht Glinsner in enger Verbindung zur Vergangenheit. So greift sie wiederholt auf den ergiebigen Stoff der griechischen Mythologie zurück, der sie schon in der Schulzeit während ihres Latein-, sowie Altgriechisch-Unterrichts faszinierte und den sie auch allegorisch und philosophisch unterfüttert. Gerade in „Scena di Medea“ und dem damit zusammenhängenden Werk „Die Geburt des Chrysomeles“ lässt sich dies am behandelten Stoff aus Grillparzers „Das Goldene Vlies“ erkennen.
Außerdem verarbeitet sie auch immer wieder Material aus klassischen Stücken in ihren Werken. Momentan steckt die Komponistin in den letzten Zügen ihres Werkes „Scintillae oder froh, wie seine Sonnen fliegen…“, welches sie für den Erhalt des Dr. Helmut Sohmen Kompositionspreis schrieb. Darin setzt sie Motive aus Beethovens 9. Sinfonie vor einem an Schillers Text angelehnten Himmelszelt aus mikrotonalen Tonumspielungen und Spektralakkorden um. Letztere wiederum bauen, da in Schillers Gedicht wiederholt runde Formen auftreten, auf der Zahl π auf. Die Uraufführung ist für Frühjahr 2023 angesetzt.

Jüngst hat sie auch die Arbeit an einem Stück für den Attergauer Kultursommer 2024 begonnen. Auch in diesem Auftragswerk für den Chorus sine nomine nimmt Glinsner gleich mehrfach Bezug auf vergangene Größen der Musik. Das in diesem Werk namens „Durch des Traumes Schleierfalten verarbeitete Material und die Inspiration dazu entstammen der e-Moll-Messe ihres Linzer Kollegen Anton Bruckner. Wie auch er nimmt sie darin parallel zu seinem Rückgriff auf die Musik Palestrinas Bezug auf Guillaume Dufays Motette „Nuper rosarum flores“. In Einklang mit der Verarbeitung der räumlichen Dimensionen in Dufays Motette soll „Durch des Traumes Schleierfalten ein räumlich-dynamisches Klanggebilde werden, das (hinter-)fragt, ob und wie Individuen in ihrem modernen Alltag heute noch Raum für Religion und Spiritualität finden oder schaffen können und welche Rolle dabei womöglich „wirklichkeitsfremde Gotteshäuser“ spielen?

Ein Ausblick

Nach der Uraufführung ihres Orchesterwerkes „BlurRed“ im Rahmen der 11. Saarbrücker Kompositionswerkstatt unter Manuel Nawri 2019 kommt das Werk am 23. März dieses Jahres durch Marin Aslop und das ORF Radio-Symphonieorchester Wien zur österreichischen Erstaufführung im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins.

Außerdem können sich Freunde von Glinsners Musik auf ihre für 2024 angekündigte Arbeit eines szenischen Werkes der Akademie Musiktheater heute (AMH) der Deutschen Bankstiftung für das Ensemble Modern freuen. Bis dahin heißt es allerdings noch ein wenig warten.

Kolja Porschke

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Termin:

Donnerstag, 23. März 2023
Musikverein Wien
RSO Wien
Igor Levit, Klavier
Marin Alsop, Dirigentin

Programm:
Tanja Elisa Glinsner: BlurRed (2019)
Hans Werner Henze: Tristan / Préludes für Klavier, Tonbänder und Orchester (1973)
Béla Bartók: Konzert für Orchester op. BB123 (SZ 116) (1943)

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Weiterführende Links:
Tanja Elisa Glinsner (Facebook)
Tanja Elisa Glinsner (music austria Datenbank)
„Der Akt des Führens im gemeinsamen Musizieren macht mir großen Spaß“ – Tanja Elisa Glinsner im mica-Interview
Tanja Elisa Glinsner (Doblinger)