Mit „Das Imaginäre nach Lacan“ schuf die in Wien lebende Komponistin IRIS TER SCHIPHORST ein Stück, das die Wahrnehmungsfrage ins Zentrum stellt. TER SCHIPHORST, die u. a. eine Professur für Komposition an der UNIVERSITÄT FÜR MUSIK UND DARSTELLENDE KUNST WIEN bekleidet, vertonte bereits Ikonen des frühen Stummfilms, schrieb Musiktheaterstücke und Filmmusiken für großes Orchester. Anlässlich der bevorstehenden Uraufführung im Rahmen von WIEN MODERN sprach sie mit Ruth Ranacher über das Körperliche in der Kommunikation, über Originaltexte und verschiedene Ebenen der Imagination.
Bitte erzählen Sie uns etwas zur Entstehungsgeschichte Ihres aktuellen Stückes „Das Imaginäre nach Lacan“. Was waren die ersten Bausteine?
Iris ter Schiphorst: Der Intendant Bernhard Günther kam 2016 auf mich zu. Erst zögerte ich, da ich bereits wusste, dass 2017 sowohl durch meine Lehrverpflichtung als auch durch meine bereits fixierten künstlerischen Projekte ein sehr volles Jahr werden würde. Für die Anfrage von Wien Modern kristallisierte sich für mich bald die Idee heraus, ein Stück mit Elektronik oder Zuspielungen zu schreiben und mit der Sopranistin Salome Kammer zu arbeiten. Dann wandte ich mich an die Musikdramaturgin Helga Utz und meinen Kollegen Wolfgang Musil. Früh stellte sich heraus, dass unser Interesse einem musiktheatralischen Setting gilt. „Das Imaginäre nach Lacan“ ist eher ein Musiktheaterstück als ein traditionelles Konzert. Für uns war die Wahrnehmungsfrage, eingebettet in einen transkulturellen Ansatz, brisant: Wie wird eine Passage wahrgenommen, wenn eine Muslimin sie singt, wie, wenn eine vermeintliche Europäerin die gleiche Passage singt? Helga Utz recherchierte über altarabische Texte. Für uns war das eine Reise in ein unbekanntes Terrain, da es sich hier um einen von der europäischen Literaturgeschichte kaum gehobenen Schatz handelt. Wir haben schließlich eine Auswahl aus altarabischen Dichtungen, vornehmlich von Lyrikerinnen, aber auch von Texten aus der vorislamischen Zeit getroffen.
„Resonanzräume, von denen wir glauben, dass man sie über die Zeiten hinweg zu Gehör oder zur Ansicht bringen kann.“
Sind die Texte im Stück in arabischer Sprache?
Iris ter Schiphorst: Wir wollen dem Publikum die Möglichkeit geben, Bilder im Kopf entstehen zu lassen. Dazu muss man sie verstehen, und daher verwenden wir Übersetzungen. Natürlich ist uns bewusst, dass das eine heikle Angelegenheit ist. Helga Utz und ich sind der Meinung, dass es keine Originaltexte im eigentlichen Sinne gibt. An diesen einen Urtext glauben wir nicht, diese Haltung steht in der Tradition der Poststrukturalisten. Und natürlich bringen Übersetzungen eine andere Ebene hinein. Wir haben uns den Theorien des Kunsthistorikers Aby Warburg sehr nahe gefühlt. Warburg spricht von affektiven Resonanzräumen. Resonanzräume, von denen wir glauben, dass man sie über die Zeiten hinweg zu Gehör oder zur Ansicht bringen kann. Daher lassen wir uns darauf ein, diese Texte in deutscher Übersetzung zu präsentieren. Natürlich verändert sich dann der Klang, aber uns kommt es auf die Bilder an, die diese Texte hervorrufen. Und es öffnet sich ein poetischer Raum: „[Die Zeit] ließ uns alles Unbekannte zurück, suchte uns heim mit dem Tod der Träumenden […]“
Warburg ist der Meinung, dass es nicht ein Original oder ein Kulturgut gibt, das für sich existiert. In jedem Werk sind Überlagerungen von memorialen Schichten und Überkreuzungen von kulturellen und religiösen Energien vorhanden.
In Hinblick auf die Bedeutung und jeweilige Auslegung?
Iris ter Schiphorst: Ja, ganz genau! Warburg spricht von dem missverständlichen Bild eines homogenen Europa, das eben nicht ursprungshaft geschlossen ist. Mit ihm glauben wir an ein synkretistisches Europa, das viele verschiedene kulturelle, historische und geografische Einflüsse zusammenführt. Der südliche und östliche Mittelmeerraum wird unter diesem Gesichtspunkt in jedem Fall zu den Wurzeln Europas gehören.
Der Titel „Das Imaginäre nach Lacan“ bezieht sich auch auf Lacans berühmte Abhandlung „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“. Der Mensch nimmt sich als Einheit zuallererst im Spiegel, im anderen wahr. Dieses Wahrnehmen ist gleichzeitig eine Verkennung, denn das, was als Projektion auf uns zurückkommt, sind wir nicht. Das Spiel mit der Wahrnehmung fließt stark in diese Arbeit mit ein. In „Das Imaginäre nach Lacan“ machen wir eine Versuchsanordnung. Es geht in dem Stück weder um Authentizität noch darum, eine Illusion von Echtheit zu erzeugen. Die Solistin Salome Kammer wird sich auch auf der Bühne umziehen. Wir zeigen diesen Vorgang ganz bewusst.
„Unser Fokus liegt in der Tat auf der Wahrnehmung: Wer ist das, der da spricht?“
In der Ankündigung steht: „Salome Kammer wechselt zwischen den Rollen einer Araberin und einer vermeintlichen Europäerin hin und her.“ Haben Sie diese beiden Rollen auch spezifischer verortet?
Iris ter Schiphorst: Wir arbeiten mit Archetypen. Sobald jemand Kopftuch trägt, schwingt eine bestimmte Vorstellung mit, die mit der Realität oft überhaupt nicht übereinstimmt. Wir sind darauf fokussiert, wer spricht, und darauf, was dessen Attribute sind. Dieser Prozess interessiert uns, nicht eine bestimmte Definition von „Europa“ oder „Musliminnen“. Das würden wir uns auch nicht anmaßen. Unser Fokus liegt in der Tat auf der Wahrnehmung: Wer ist das, der da spricht?
Wie wichtig ist der visuelle Part für das Stück? Würde das Stück für das Publikum auch mit geschlossenen Augen funktionieren? Was wäre anders?
Iris ter Schiphorst: Wir arbeiten auf mehreren Ebenen mit der Imagination. Für unsere Frage nach der Wahrnehmung sind die offenen Augen wichtig. Sonst würde man nicht sehen, dass die Interpretin den Ort oder das Kostüm wechselt. Für das Verständnis der Bilder, die diese Texte evozieren, wären natürlich geschlossene Augen auch möglich. Insofern könnte man sich auch Rezipientinnen und Rezipienten mit geschlossenen Augen vorstellen. Sie würden in jedem Fall ein anderes Stück wahrnehmen.
Was ich hier noch anmerken möchte: Die Texte werden nicht im traditionelle Sinne vertont, sondern großteils gesprochen. Es schien uns unmöglich, diese Texte in einen klassischen europäischen Kunstgesang hineinzumanövrieren. Die Texte werden einer Musiklandschaft gegenübergestellt, in der die Musik für sich auch eigene Wege geht. In der Kombination zwischen Gesprochenem und Klang eröffnet sich möglicherweise nochmals ein bildhafter Raum. Wir versuchen, auf verschiedenen Ebenen mit Bildern im Kopf zu arbeiten.
Haben Sie auf der textlichen Ebene Angaben für die Stimme angeführt?
Iris ter Schiphorst: Ja, es handelt sich hier hauptsächlich um szenische Anweisungen. Daher auch mein vorhin gewählter Begriff des Musiktheaters. Anfangs- und Endpunkte sind benannt. In dieser Phase kann Salome Kammer relativ frei gestalten – wenn auch unter sehr präzise einzuhaltenden Regieangaben.
Was reizt Sie am Schreiben für Stimme, was am Schreiben für Bilder?
Iris ter Schiphorst: Weniger für Stimme, eher für Körper. Sobald eine gute Schauspielerin bzw. ein guter Schauspieler es schafft, Texte zu verkörpern, passiert noch ein Momentum, das schwer mit Worten zu beschreiben ist. Das ist der große Unterschied zu jenen Sängerinnen und Sängern, die das Sprechen als abgespaltene Darbietung präsentieren. Darum auch die Zusammenarbeit mit Salome Kammer als Solistin. Sie ist nicht nur eine großartige experimentelle Sängerin, sondern auch Schauspielerin. Sie hat unglaublich viel Erfahrung darin, Texte zu verkörpern. Schreiben für Bilder finde ich immer faszinierend. Im Medium der Filmmusik wird durch die Hinzufügung von Musik bestenfalls der Raum der Bilder vertieft.
Bitte um ein Beispiel …
Iris ter Schiphorst: Eine große Arbeit war „Berlin: Symphonie einer Großstadt“ für großes Orchester, eine Neuinterpretation des berühmten Filmklassikers von Walter Ruttmann in der Regie des Dokumentarfilmers Thomas Schadt. Helmut Oehring und ich haben versucht, durch die Musik noch eine weitere Ebene hinzuzufügen. Ich habe auch viele Stummfilme vertont, beispielsweise von Germaine Dulac, einer Experimentalfilmerin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ihr Film „La Coquille et le Clergyman“ [Die Muschel und der Kleriker; Anm.] gilt mittlerweile unter Filmhistorikerinnen und -historikern als das erste surrealistische Meisterwerk, noch vor „Un chien andalou“. Das Niederländische Filmmuseum restaurierte den Film und ich durfte dazu die Filmmusik schreiben. Zuerst war das eine heikle Sache, da sich die Erbinnen und Erben von Dulac absolut gegen Musik aussprachen. Dulac selbst hat geäußert, dass sie Musik für die Wahrnehmung eines Films hinderlich finde. Das war eine sehr anspruchsvolle Arbeit. Einerseits, um Germaine Dulac gerecht zu werden, andererseits, um dem für uns zunächst rätselhaften Film eine Form und eine Struktur zu geben. Auch um das Sehen zu erleichtern, denn es wird hier eine Bildsprache verwendet, die uns heute sehr fern ist.
„Die Körperlichkeit in der Kommunikation ist für mich etwas ganz Wesentliches.“
Kommen wir nochmals zurück auf den Körper, denn in Ihrem Œuvre finden sich auch Stücke für eine tanzende Vokalistin …
Iris ter Schiphorst: Seit ich zurückdenken kann, beschäftigt mich die Kombination aus Musik und körperlichem Ausdruck. Für „Vergiss Salome“ habe ich die Bewegungen minutiös auskomponiert. Sobald Musikerinnen und Musiker auf der Bühne sind, nehmen wir sie als Körper wahr. Oft wird dieser Aspekt leider ausgeblendet. Ein Konzert ist immer auch eine Performance. Der hehre Musikbegriff schwebt zwar über allem, dennoch haben wir immer Körper auf der Bühne. Im besten Falle, wenn diese Körper affiziert und durchdrungen sind von dem, was sie tun, gibt es noch ein Mehr an Ausdruck. Das macht Musiktheater und Konzertsituationen so besonders. Die Körperlichkeit in der Kommunikation ist für mich etwas ganz Wesentliches.
Zwei Orchester, das Webern Symphonie Orchester und Studierende des Conservatoire national supérieur de musique et de danse de Paris, bilden für das Claudio-Abbado-Konzert am 4. November 2017 im Wiener Konzerthaus ein gemeinsames Orchester. Wie wichtig sind solche Gelegenheiten für junge Musikerinnen und Musiker?
Iris ter Schiphorst: Ich glaube, solche Gelegenheiten sind extrem wichtig. Als Professorin für Komposition stehe ich vor der Situation, dass meine Studierenden für Orchester schreiben müssen. Sie bekommen aber keine Gelegenheit, ihr Werk zu hören. Ich würde mir wünschen, dass die Studierenden ein- oder zweimal im Jahr die Möglichkeit bekommen, ihr Stück mit dem Orchester auszuprobieren. Das ist zwingend nötig und da gibt es in Wien noch Nachholbedarf.
Was möchten Sie Ihren Studierenden noch mit auf den Weg geben?
Iris ter Schiphorst: Es ist unglaublich wichtig, sich immer wieder die Frage zu stellen, was Musik heute ist. Jede Komponistin und jeder Komponist kann heute nicht umhin, sich damit auseinanderzusetzen, dass das 20. Jahrhundert stattgefunden hat. Mit allen Errungenschaften: von der Dodekafonie über den Serialismus bis hin zur Mikrotonalität und zum Spektralismus – das sind alles bereits existierende Richtungen. Dazu kommen die gesellschaftlichen Umbrüche, Stichwort: Massenmedien, Digitalisierung.
Man kann das alles nicht einfach negieren. Es braucht schon gute Gründe, um davon nichts in die eigene Komposition einfließen zu lassen. Ich bin der Meinung, dass man für sich einen sehr genauen Standpunkt finden muss, und zwar in Kenntnis dessen, was bereits existiert. Nur zu sagen: „Mir gefällt nun mal das und alles andere interessiert mich nicht“, das ist zu wenig. Eine solche Haltung kann ich nicht gutheißen.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Ruth Ranacher
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Iris ter Schiphorst