„DAS LEBEN IST KEIN SAFESPACE” – SAINT PRIVAT IM MICA-INTERVIEW

Trotz fünfunddreißig Grad im Schatten swingt sich das Wiener Duo SAINT PRIVAT mit ihrem neuen Album „Aprés la Bohéme” von Südfrankreich bis ins Café Ritter und läutet damit die Sommerfrische ein: Nach siebzehn Jahren singt VALÈRIE SAJDIK dafür wieder über KLAUS WALDECK` chansoneske Harmonien und bringt das französische Lebensgefühl in die österreichische Hauptstadt. Mit viel Wiener Schmäh wird damit eine Sehnsucht hochgehalten, die den Lebenssound der beiden Musiker:innen ausmacht. Soweit der Traum – Im Traditionscafé erzählen die beiden davon, warum ihre Musik kein French Retro ist und sie dennoch eine neue Biederkeit zelebrieren. Was dabei zwischen Fantasme und Safespace zu finden ist, erklären VALÈRIE SAJDIK und KLAUS WALDECK im Gespräch mit Ania Gleich.  

Klaus Waldeck: Derzeit ist eine holzige Phase.

Wie?

Klaus Waldeck: Man könnte sich in so vielen Situationen zurzeit wie ein Holzkopf verhalten! Aber das ist kein guter Einstieg, glaub’ ich.

Dann machen wir es geografisch: Valerie lebt in Frankreich. Du in Wien. Wieso kommt nach siebzehn Jahren ein neues Album?

Valérie Sajdik: Es gab immer wieder Annäherungsversuche. Aber nach meinem zweiten Kind war ich vermehrt in Saint Privat, Frankreich, und weniger in Wien. Da und dort habe ich dann mit Klaus etwas aufgenommen. Aber es fehlte die Vision, der Auslöser. Ein Anstoß war unser Lied „Poisson rouge”, das in einem Hollywood-Spielfilm vorgekommen ist und dadurch ein Eigenleben, Überleben, Weiterleben …

Klaus Waldeck: … ein Leben nach dem Tod bekommen hat! Aber sagen wir lieber: eine Verjüngungskur.

Bild Saint Privat
Bild (c) Saint Privat

War das ein Flashback?

Klaus Waldeck: Es war ein schöner Kontoeingang! Natürlich hat es das Projekt wieder in den Fokus meiner Aufmerksamkeit gerückt. Trotzdem hat die Idee für ein Album gefehlt. Dafür braucht man einen Initialimpuls. Das kann man nicht über einen Zeitraum von vier oder fünf Jahren machen. Dieser Fehler hat sich früher oft bei meinen eigenen Alben eingeschlichen. Wenn man sich immer wieder im Kreis dreht, ändert sich der Musikgeschmack. Deshalb war das Credo: Wenn ja, dann muss es zügig gehen. Ich habe angefangen, auf meinem Flügel zu Hause zu komponieren, und nicht direkt im Studio.

So habe ich die Songs dann relativ rasch in einem Stück zu Papier gebracht und mit dem Diktiergerät aufgenommen und Valerie geschickt. Sie hat dann ihrerseits Song-und Melodie-Ideen gesammelt. Dann erst habe ich mich mit Valerie im Herbst 2020 im Studio getroffen. Die Grundidee war, in ein paar Monaten alle Titel aufzunehmen. Die letzten zwei Jahre ging es dann nur um die Fertigstellung.

„NUR WEIL DA MAL EIN ALTER SCHALLPLATTEN-SOUND DRAUF IST, DENKEN ALLE, ES SEI WIRKLICH ALT”

Jetzt seid ihr auch wieder an einem anderen Punkt als vor drei Jahren.

Valérie Sajdik: Ja, aber das Album hat sich in den drei Jahren ja auch weiterentwickelt. Und das hat es auch gebraucht! Die Songs sind zeitlos. Ich fand es gut, dass Klaus Druck und Stress rausgenommen hat. Ich hätte natürlich gerne gehabt, dass es früher erscheint. Aber ich finde, das ist auch der Luxus eines Independent-Labels: Man kann sein eigener Chef sein und das nach Gefühl machen. Klaus verwendet viel Zeit zum Mischen und leistet da viel Detailarbeit. Etwa, wie eine Bassspur um dieses Dezibel lauter im Vordergrund sein sollte, oder nicht. Doch im Prinzip hat „Aprés la Bohéme” intuitiv begonnen: Eine unverbindliche Aufnahmesession, von der wir im Endeffekt alles verwendet haben. Diese Emergency-Situation, im Studio, bei der Aufnahme direkt entscheiden zu müssen, ist manchmal sehr hilfreich.

Klaus Waldeck: Man nimmt auf und muss in kürzester Zeit Entscheidungen treffen, die aus dem Bauch herauskommen. Nicht aus dem Kopf.

Wie fühlt sich eure Musik heute anders an als früher?

Valérie Sajdik: Ich persönlich habe diesen Sound wieder gesucht. Er ist Teil meines Lebens: chansonnesk, leicht. Allerdings hat dieses Album mehr Drive als die vorhergehenden. 

Klaus Waldeck: Es ist homogener und von den Kompositionen ausgefeilter. Aber das ist etwas, was du als Zuhörer:in vermutlich nicht wahrnimmst. Ich fand es lustig, dass alte Songs von uns wie „Poisson Rouge” inzwischen unter der Kategorie French Retro auftauchen.

Valérie Sajdik: Witzig, dass du das erwähnst! Ich habe öfter bemerkt, dass manche Menschen Songs von Pink Martini etwa für alte Chansons halten. Nur weil da mal ein alter Schallplatten-Sound drauf ist, denken alle, es sei wirklich alt.

Klaus Waldeck: Für mich ist es keine strategische Sache, in eine Ecke gestellt zu werden.

Ich habe es nur amüsant gefunden, dass eine Platte, die siebzehn Jahre alt ist, als Retrosound gehandelt wird!

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Valérie Sajdik: Ich persönlich bin eh immer retro. Das inszeniere ich schon bewusst. Und hier ist auch der rote Faden zu dem, was ich Solo gemacht habe. Die Songs waren immer von österreichischen Chansons aus den 1920ern oder 1930ern inspiriert. Friedrich Holländer, Kurt Weill – diese Ecke! Aber natürlich auch von französischen Chansons aus den 1960ern und früher.

Was bedeutet es für euch, dass dieser Sound euer Sound geworden ist?

Valérie Sajdik: Ich lebe seit zwanzig Jahren neben Wien auch in Südfrankreich. Das ist ein bisschen mein Lebenssound!

Klaus Waldeck: Sicherlich ist es eine Projektionsfläche für Sehnsüchte. Das betrifft jetzt eher mich, aber mich haben sehr viele Filme aus der damaligen Zeit geprägt: Da hatte Filmmusik ja noch einen viel höheren Stellenwert. Es existierte eine Verschränkung von Filmmusik und Chanson. Eine Mischung aus Eleganz und Leichtigkeit. Das war meine Inspiration. Und obwohl viele Themen gleich geblieben sind, ist mir die damalige Zeit fast weniger spießig vorgekommen als heute. Jetzt wird alles kontrolliert und überwacht. Damals war die Welt freier. Vielleicht ist das Album deshalb auch eine Sehnsucht nach dieser Freiheit.

Valérie Sajdik: Deswegen auch der Albumtitel: „Aprés la Bohéme” – wieder die Anspielung an eine Zeit, in der man sich als Künstler:in immer mehr Freiheiten genommen hat. Zurzeit wird das Künstler:innensein irgendwie uniformer, es besteht weniger Interpretationsspielraum. Aber natürlich hat alles zwei Seiten! Denn gleichzeitig gibt es auch eine Bewegung zu mehr Öffnung und Freiheit.

Das ist eine Generationsfrage. Welches Publikum spricht euer Album an?

Valérie Sajdik: Die Frage ist interessant. Ich glaube, die Hauptzielgruppe ist natürlich eher in unserem Alter.

Klaus Waldeck: Vierzig Minus!

Valérie Sajdik: Andererseits wird unser Track „Boom Boom Click!” in der Serie Emily in Paris verwendet. Da ist die Zielgruppe doch eher Achtzehn Plus. Und ich merke, dass diese Generation – weniger in Europa, aber durchaus in den USA – eine Sehnsucht nach diesem französischen Lebensgefühl hat. Das wird gleichgesetzt mit einer bestimmten Lebensqualität oder Freizügigkeit. Da existiert dieser Fantasme.

Bild Saint Privat
Bild (c) Saint Privat

Klaus Waldeck: Ich glaube, dass diese Sehnsucht in vielen Bereichen besteht. Letztes Jahr war ich einmal in Schönbrunn laufen und musste bemerken, dass alle kleinen Teiche mit Sicherheitsabsperrungen versehen waren. Man hat das Gefühl, man wird wie im Kindergarten gegängelt und traut einem Erwachsenen nicht zu, einen Weg um diesen sechzig Zentimeter tiefen Wassertümpel zu machen. Oder es war vor Kurzem das Donauinselfest: Glasflaschen sind nicht mehr erlaubt, nur mehr diese Plastikbecher. Dass hier jemand eingreift, kommt mir absurd vor. Plötzlich ist Glas zu gefährlich! Man gibt etwas auf, unter dem Vorwand, alles müsse jetzt ein Safespace sein. Das Leben ist kein Safespace. Es muss lebendig sein! Wenn man alles immer reguliert, erstickt das Leben.

Valerie Sajdik: Für mich steht Saint Privat gewissermaßen für Safe Space.

Aber der Rausch kann nicht reglementiert werden, oder?

Klaus Waldeck: Naja, da sind halt große Tech-Firmen dahinter, die davon profitieren und in dieser pseudo-liberalen Gesellschaft einen nahrhaften Boden finden. Es zeichnet eine illiberale Gesellschaft aus, dass ihr von oben gesagt wird, wie man leben darf.

Valérie Sajdik: Ich denke, dass wenn man Verbote in der Gesellschaft immer mehr akzeptiert, man sie zumindest anders ansiedeln könnte. Ich würde die Plastikbecher etwa im Namen des Klimaschutzes gerne verbieten!

„HEUTE WÄRE EINE ‘BEATLES ODER ROLLING STONES’-POLARISIERUNG NICHT MÖGLICH.”

In puncto etwas positiv umdeuten: Brauchen die Leute jetzt “leichte” Musik?

Klaus Waldeck: In vielen Bereichen der Musik geht es nicht mehr um die Musik, sondern um die Person und wie sie sich selbst verkauft, um dann in weiterer Folge die Musik zu vermarkten. Du bist dann halt Influencer, machst aber zufällig auch Musik. So wirkt es zumindest oft. Mit Musik alleine schafft man es nicht mehr nach oben. Außerdem identifizieren sich immer weniger Leute über die Musik, die sie hören. Früher gab es regelrechte Grabenkämpfe darum. Heute wäre eine „Beatles oder Rolling Stones“- Polarisierung nicht möglich. Musik ist schnelllebiger.

Valérie Sajdik: „Boom Boom Click!” ist bei der Eröffnung der Filmfestspiele in Cannes gespielt worden, während die verschiedenen Stars über den roten Teppich liefen. Es war die perfekte Begleitmusik – für den Moment, in der Situation. Aber wer denkt da darüber nach, wer der Artist dahinter ist? Im Streaming findet man zwar alles und denkt sich vielleicht kurz „Wie heißt der Artist?” aber im nächsten Moment ist es auch schon wieder vergessen. In erster Linie findet man das Lied cool oder der momentanen Stimmung angepasst.

Klaus Waldeck: Das Album gibt es nicht mehr. Stattdessen entstehen Sammelbecken an verschiedenen Playlists, die automatisch generiert werden. Wir haben aber bewusst wieder ein Album mit einer Geschichte und einem musikalischen Bogen gemacht.

Valérie Sajdik: Aber wenn ich auf Spotify Lieder von Saint Privat eingebe, folgen durch den Algorithmus durchaus andere interessante Artists, die ich sonst nicht kennengelernt hätte. Das finde ich ja wiederum gut.

Und wie wollt ihr euch da als Band einreihen?

Klaus Waldeck: Das ist weniger eine Frage des Wollens, sondern des Überlebens. Jede Art, unser Streaming zu erweitern, ermöglicht uns als Artist oder Label weiterzuarbeiten. Das einzige, worauf man nicht verzichten kann, ist die Authentizität in dem, was man produziert. Ich würde mich nicht musikalisch verdrehen oder in meiner Darstellung nach außen verändern, nur um etwas Bestimmtes zu erreichen. Ob man jetzt auf diese oder jene Bühne kommt, ist mir egal.

Valérie Sajdik: Saint Privat ist außerdem ein Live Act und war es auch immer. Wir haben über die vielen Jahre, wo wir nichts veröffentlicht haben, ein Publikum gehabt, das wir nun auch wieder bei unseren letzten Konzerten angetroffen haben.

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Klaus Waldeck: Da muss ich dir aber mit den Spotify-Statistiken widersprechen: Durch das Streaming weiß ich, dass das Publikum auf Spotify jünger und weiblicher ist als „unser“ Live-Publikum, was wirklich interessant ist. Denn man könnte auch denken, Saint Privat sei Projektionsfläche für Männer.

Valérie Sajdik: Damit kommen wir zum nächsten großen Thema: Frau-Mann in der heutigen Zeit!

Welches Rollenbild porträtiert ihr mit Saint Privat?

Valérie Sajdik: Ich habe immer die Sororité – die Schwesterlichkeit – gelebt, in der man sich als Frauen untereinander unterstützt. Aber das war nie etwas Offensives, das ich hinaushänge. Es ist in keinster Weise gegen Männer gerichtet. Ich habe ja auch uns Frauen immer mit auf die Schaufel genommen.

Heute wird Sarkasmus aber oft sehr ernst genommen.

Valérie Sajdik: Das unterschreibe ich voll! Klaus’ Freiheitseinschränkungen liegen in den Plastikbechern. Ich empfinde es in dem, was du gerade meinst. Nämlich, dass man seine message heute so verpacken muss, dass die darin enthaltene Zweideutigkeit oder Ambivalenz ja nirgendwo anstößig wird. Wo ist in der Kunst die Grenze zur Moral? Sarkasmus ist ein Stilmittel und ich habe es immer in einer pointierten Art und Weise verwendet! Manchmal vielleicht ein bisschen zu viel. Vielleicht würde ich heute etwa kein Lied mit dem Titel „Mädchen sind doof“ schreiben. Vielleicht aber schon.

Was wäre ehrlicher?

Klaus Waldeck: Ein Fehlen der Ehrlichkeit ist das Ergebnis des gesamten sozialen Umfelds, in dem man kaum seine Meinung äußern kann, ohne einen Shitstorm auszulösen. Jede Gruppe nimmt sich immer wichtiger als das Ganze wahr. Jede:r will Opfer sein, anstatt dass man sich auf das Gemeinsame besinnt. Dadurch geht es immer um das Verteidigen von Partikularinteressen. Es werden immer noch kleinere Stückchen herausgerissen.

Valérie Sajdik: Das war jetzt aber wirklich eine harte und einseitige Ansage von dir, Klaus. Es gibt noch immer ein Leben da draußen ohne digitalen Shitstorm. Ich bin ja immer noch fasziniert von der Kommunen-Idee.

Klaus Waldeck: Ok. Das ist dein Bier! Ich habe aber auch nie so wie du in einer Kommune gelebt.

Valérie Sajdik: Ich lebe in keiner Kommune! Saint Privat, wo ich lebe, ist eben ein kleines Dorf und man muss sich das Zusammenleben erarbeiten! Es ist ein Biotop, in dem jede:r sich auch zurechtfinden oder anpassen muss, um ein harmonisches gemeinsames Leben zu ermöglichen.

„UNSER HUMORZENTRUM ALS SAINT PRIVAT IST WIENERISCH GELAGERT”

Und wollt ihr mit „Aprés la Bohéme” nun Anstoßen oder Harmonie?   

Klaus Waldeck: Das ist ein interessanter Punkt. Soweit ich im Privaten eine Meinung zu den Themen der letzten Jahre habe, glaube ich nicht, dass die Musik das geeignete Medium ist, um … Sag Du!

Bild Saint Privat
Bild (c) Saint Privat

Valérie Sajdik: In meinen Texten mache ich Referenzen auf das, was mich schon immer fasziniert hat. Das sind teilweise Sujets von Bronner oder Kreisler von damals und damit immer auch ein Infragestellen des Gesellschaftsfähigen und unserer Gesellschaft. Meine Texte haben aber oft auch etwas Wehmütiges. Die Vergänglichkeit. Was bleibt von der Liebe? „Ou sont les fous et les décadents, les muses et les amusements, les grands absents?”

Ihr singt auf Französisch. Das ist eine Schwelle für die Menschen hier.

Valérie Sajdik: In Frankreich aber nicht! Ich verschicke gern die deutschen Übersetzungen auf Anfrage. Aber vielleicht ist es auch ein Ansporn, wieder ein bisschen sein Französisch aufzufrischen.

Hier wird es verpackt. Dort darf es direkt?

Valérie Sajdik: Ich habe in Frankreich bisher schöne Reaktionen auf die Texte bekommen. Unser Humorzentrum als Saint Privat ist Wienerisch gelagert. Wenn dieser Humor in einer anderen Sprache auch angenommen wird, dann ist das für mich ein befriedigendes Erfolgserlebnis.

Also hat doch alles zwei Seiten?

Valérie Sajdik: Immer. Du siehst es allein an unseren Albumcovern. Die Vorder- und die Rückseite sind Gegensätze. Bei allem scheinbarem Glamour (und der Biederkeit) ist da immer ein Bruch.

Klaus Waldeck: Auf der Vorderseite sind wir jung und schön, auf der Rückseite scheinbar brav und alt.

Valérie Sajdik: Unsere heutige Biederkeit ist halt viel freier in ihrem Denken, aber ich finde, alles bleibt privat. Denn in dieser “Biederkeit” liegt auch das Zwischenmenschliche, das man eigentlich nicht Gott und der ganzen Welt erzählen will.

Dann bleibt das derweil privat.

Klaus Waldeck & Valérie Sajdik: Danke dir für die Zeit!

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Links:
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