„DAS IST EINE VISITENKARTE DER SZENE“ – JAHRESENDZEITSCHOKOLADENHOHLKÖRPER KOLLEKTIV FESTIVAL IM MICA-INTERVIEW

Von 12. bis 15. Dezember feiert die experimentelle Musikszene Wiens das JAHRESENDZEITSCHOKOLADENHOHLKÖRPER KOLLEKTIV FESTIVAL. Die vierte Ausgabe des Festivals findet in diesem Jahr online statt – als Live-Stream und mit aufgezeichneten Beiträgen von Initiativen wie DER BLÖDE DRITTE MITTWOCH, WOW SIGNAL!, SMALLFORMS, MONDAY IMPROVISERS SESSION und vielen mehr. Über Chancen und Möglichkeiten von Streaming-Konzerten, ein Fernsehstudio im WUK und emotionale Diskussionen in der Gruppe haben SUSANNA GARTMAYER, JAKOB SCHAUER und ALISA BECK sowie ARNOLD NOID HABERL mit Christoph Benkeser gesprochen. 

Das Jahresendzeitschokoladenhohlkörper Kollektiv Festival findet zum ersten Mal online statt – mit Livestreams und aufgenommenen Konzerten. Warum sollte man reinklicken? 

Alisa Beck: Wegen der Endorphine!

Susanna Gartmayer: Ich oute mich gleich als eine der wenigen Person, die in der riesigen Gruppe dagegen war, das Festival dieses Jahr zu veranstalten – vor allem, weil ich das Spielen von Streaming-Konzerten als schwierige Angelegenheit empfinde. In den letzten Wochen habe ich allerdings mitbekommen, wie viele Leute sich freuen, dass wir das Festival trotz allen Umständen veranstalten. Mittlerweile bin sogar ich überzeugt, dass es eine gute Idee ist. Die Leute brauchen kulturellen Input, sonst verdorrt man in der eigenen Wohnung.

Jakob Schauer: Ich einer der wenigen bin in der Gruppe, die sich bisher kaum Streaming-Konzerte angeschaut haben. Ich kenne die Diskussionen und die Argumente drumherum, deswegen konnte ich alle Stimmen verstehen, die der Idee des Online-Festivals eher ablehnend gegenüberstanden. Allerdings habe ich in letzter Zeit mit vielen Leuten gesprochen und kann sagen: Die Leute schauen sich Streaming-Konzerte tatsächlich an. Das hat mich überrascht.

Susanna Gartmayer: Ich war auch überrascht, weil mich machen Streaming-K onzerte ja eher traurig …

Man ist dem ganzen allein vor dem Bildschirm ausgeliefert. Wer schaut sich ein Festival online an?

Alisa Beck: Spannend ist, dass Leute dabei sein können, die nicht in Wien wohnen. Prinzipiell kann sich alle Welt einschalten. Das hört sich hochtrabend an, ist aber eine Chance. Wir stehen als Szene geschlossen dahinter, jedes einzelne Kollektiv bringt Netzwerke mit ein.

Arnold Noid Haberl: Dass wir ganz anderes Publikum ansprechen und erreichen können, haben wir mit unserer Veranstaltungs-Reihe Der blöde dritte Mittwoch gesehen. Im ersten Lockdown haben wir bei unseren Streams bewusst auch internationale Gäste eingeladen, und eine Interviewreihe mit Musiker*innen aus anderen Erdteilen gemacht. Darauf gab es Feedback und Spenden aus aller Welt.

In Bezug auf Konzert-Streaming hört man häufig negative Argumente. Ihr klingt hingegen optimistisch, das Festival online zu veranstalten. 

Arnold Noid Haberl: Es gab viel Kritik an Streaming. Ein Teil bezog sich auf die Tatsache, dass der Großteil der Streams die Künstler*innen nicht bezahlt hat. Dabei nicht mitzumachen, war eine bewusste Entscheidung, die wir zu Beginn der Pandemie mit dem Projekt echoraeume getroffen haben. Wir wollten als Veranstalter*innen gemeinsam eine faire Plattform entwickeln, und – mit der Bedingung, dass die Künstler*innen bezahlt werden – haben wir dann auch andere Veranstalter*innen eingeladen, um bei echoraeume mitzumachen.

Alisa Beck: Wir haben das in der Gruppe kontrovers diskutiert. Es kamen viele verschiedene Meinungen zusammen, auch weil wir als Veranstalter*innen unterschiedliche Herangehensweisen haben. Das hat mit dem Interesse, den Ressourcen und Möglichkeiten der jeweiligen Veranstalter*innen und Musiker*innen zu tun – oder ob man sich ohnehin mit Videos auf künstlerischer Basis beschäftigt. Für smallforms haben wir entschieden, dass Streaming keine Lösung für uns ist. Deshalb haben wir einige Veranstaltungen ausgesetzt und konzentrieren uns auf konzentrierte Recording-Sessions ohne Publikum.

Arnold Noid Haberl: Wir sehen aber auch, dass es unterschiedliche Zugänge gibt. Czirp Czirp hat im Sommer mit dem Club Radiokoje kein Streaming-Festival veranstaltet, sondern ein digitales Kunstwerk aufgesetzt. Viele Streaming-Konzerte sind ja „Fernsehen handgestrickt“ – und auch das kann im Lockdown-Kontext erzwungener Wohnzimmersituationen spannend sein,  es vermittelt  die Unmittelbarkeit der Situation. Gerade zu Beginn des ersten Lockdowns sahen wir eine Chance, dass uns Leute zuhören obwohl wir keine technisch-professionelle Produktion realisieren konnten– weil: Was sollen sie sonst machen?

Den Optimismus in der Form des Festivals nach außen zu tragen und nicht zum kulturpessimistisch Zyniker zu werden, sollte Vorbildwirkung haben. 

Alisa Beck: Wenn man sich Artikel und Posts aus dem vergangenen März durchliest, fällt auf, was sich getan hat, wie mit der Situation umgegangen wurde. Der Hype, der anfangs da war, verschwand schnell. Dann kam Panik – man brauchte Aufmerksamkeit, aber niemand kannte sich genau aus. Inzwischen ist eine gewisse Ruhe in der Streaming-Situation eingekehrt. Man fragt sich konkreter, was man machen will.

Arnold Noid Haberl: In der digitalen Kunst entstand in der Vergangenheit ein Bruch. Bis in die 2000er wurde wie wild experimentiert und ausprobiert, wie man Internet als künstlerisches Medium benutzen und begreifen kann. Irgendwann kam YouTube und löste die technischen Probleme. Damit verschwand auch viel vom anfänglichen Enthusiasmus. Die aktuelle Situation sehe ich deshalb als Chance, um die jetzigen Möglichkeiten zu erkunden und sich wieder zu fragen, was diese Möglichkeiten und Formate überhaupt meinen. Sind es Ableitungen der Fernseh-Situation mit Kamera und Mikrofon? Sind es interaktive Formate? Aktuell kann man sich wieder aktuell mit diesen Fragen beschäftigen, und muss es tun, um zu sehen, wie es in Zukunft weitergehen kann

„ES WERDEN NICHT NUR KONZERTE SEIN, DIE EINEM GENRE ZUZUORDNEN SIND.“

In welche Richtung soll sich das Schoko-Festival entwickeln? 

Jakob Schauer: In diesem Jahr wird es ein klassisches Streaming-Festival. Es wird live stattfindende Konzerte geben, die eine halbe Stunde dauern, ergänzt durch Videobeiträge der unterschiedlichen Initiativen. Schließlich nehmen am Festival dieses Jahr wieder 25 Vereine teil.

Alisa Beck: 29 sind es sogar!

Jakob Schauer: Genau, von allen gibt es Beiträge, die vor und nach den Live-Streamings laufen. Das hat zum einen technische Gründe, wegen Umbaupausen im WUK und weil es schwierig ist, ein flüssiges Fernsehprogramm aufzuziehen. Zum anderen sollten alle mitmachen können, auch wenn sie nicht vor Ort sind oder von zu Hause streamen wollen. Deshalb gab es die Möglichkeit, Video-Beiträge einzusenden. Das wird zu einem diversen Programm führen.

Susanna Gartmayer: Und zu einer wilden Mischung. Es werden nicht nur Konzerte sein, die einem Genre zuzuordnen sind.

Alisa Beck: Außerdem wird der WUK-Projektraum für eine kleine Gruppe zum Arbeitsraum. Die professionelle Technik und das Equipment vor Ort ermöglichen qualitativ hochwertige Streams. Das Festival wird also keine Aneinanderreihung von Wohnzimmer-Konzerten sein, sondern eine Art Fernsehformat mit einer einheitlichen Verortung.

Die Festivalzentrale im WUK als Studio für digitale Konzerte.

Jakob Schauer: Die Vorstellungen sind natürlich auseinander gegangen – auch die Wünsche, die verschiedene Kollektive an das Festival gerichtet haben. Die Streaming-Idee aus dem Wohnzimmer kam nämlich oft. Dass wir ein Online-Festival veranstalten und aus einem Broadcast-Studio streamen, war zu Beginn überhaupt nicht klar.

Alisa Beck: Auch weil es unklar war, ob wir das Festival überhaupt veranstalten können. Was wir heute haben, ist kein Ersatz für das Live-Erlebnis, das wir aus den vergangenen Jahren kennen. Es ist etwas Anderes.

Das ist ein wichtiger Satz, den man oft vergisst. Live-Streaming ist kein Ersatz, sondern etwas Anderes – auch eine Möglichkeit? 

Arnold Noid Haberl: Ja, wir versuchen formatspezifisch den begleitenden Chat innerhalb der Streams zu moderieren. Auf diese Weise wollen wir eine virtuelle Konzertsituation zu schaffen, in der sich das Publikum gegenseitig liest oder in den Video-Chat einsteigt. Man wird sich in Bubbles rund um die Bühne anordnen und sich gegenseitig sehen können. Dieser „We Vroom“ ist ein spezielles und experimentelles Tool der echoraeume, das vom Künstler Michael Aschauer entwickelt wurde.

Welche Diskussionen unter den Kollektiven gab es zu diesen Ideen? 

Susanna Gartmayer: Wir hatten als große Gruppe noch nie so ein kompliziertes Problem zu lösen. Es ging nicht nur um die Frage, ein Festival zu organisieren, sondern um die Übereinstimmung in der Gruppe. Da ist teilweise ziemlich emotional diskutiert worden. 

Jakob Schauer: Der Streaming-Gedanke bringt viele Fragen und Forderungen mit sich: Wie kann man Sitzplätze verkaufen? Soll man es konzeptionelle Elemente geben, die in allen Streams vorhanden sind? Welche inhaltliche Zusammenfassung ist möglich? Die inhaltliche Klammer haben wir mit der Austragung im WUK gefunden.

Arnold Noid Haberl: Dass einige Videos an den Orten, wo wir als Kollektive sonst arbeiten, aufgenommen wurden, ist eine weitere inhaltliche Klammer. Damit präsentieren und repräsentieren wir diese Orte und Initiativen. Außerdem werden nach dem Festival alle Videos gesammelt, und auf der Festival Website veröffentlicht. Das ist dann auch eine Visitenkarte der Szene.

Susanna Gartmayer: Deshalb ist es bereits vor dem Festival ein Erfolg, dass wir unter den Voraussetzungen, dieser schwierigen Fragestellung, als große Gruppe so weit gekommen sind.

Alisa Beck: Außerdem haben Diskussionen über die Möglichkeiten, in diesem Jahr ein Festival auszutragen, zu einem stärkeren Online-Austausch untereinander geführt – und eine Struktur in die Situation gebracht. Trotz aller Vor/freude darüber, dass das Festival dieses Jahr stattfinden wird, geht es nicht darum die aktuelle Lage schönzureden. Es ist einfach alles andere als klar, ob es die notwendigen Infrastrukturen und Räume, in denen wir arbeiten, produzieren, veranstalten, spielen und uns treffen, ab dem kommenden Jahr noch so geben wird. Die braucht es aber, damit wir nicht alle in die Röhre schauen 

Arnold Noid Haberl: Viele Veranstalter*innen sind auch Musiker*innen und machen es aus dem Bedürfnis, experimentelle Musik zu präsentieren. Da fließt viel Engagement mit wenig finanzieller Unterstützung hinein. Aus diesem Gedanken entstand das Schoko-Festival. 

Alisa Beck: Ja, die Arbeitsatmosphäre aufrecht zu halten, ist Grundidee des Festivals. Man lernt sich in der gemeinsamen Zusammenarbeit besser kennen als beim flüchtigen Hallo-Sagen auf Konzerten. Deshalb haben wir uns auch dieses Jahr dafür entschieden, dass sich einzelne Kollektive für Sets zusammentun und miteinander spielen.

Arnold Noid Haberl: Die erste Ausgabe des Festivals fand 2017 im rhiz statt. Als Veranstalter des Der blöde dritte Mittwoch luden wir alle Kollektive ein, die uns einfielen – etwa sieben oder acht. Danach dachten wir noch, dass wir wahrscheinlich ein bis drei vergessen hatten. Inzwischen arbeiten 29 Initiativen mit, und bei vielen hatte ich 2017 noch keine Ahnung, dass sie existieren. Dieser interne Aspekt, sich kennenzulernen, zu vernetzen und zusammenzuarbeiten ist ein wichtiger Aspekt. Auch heuer sind wieder einige Initiativen neu dabei. Das ist auch ein wichtiger Grund, das Festival nicht ausfallen zu lassen.

„ICH KENNE KEINEN ORT, WO DIE EINZELNE INITIATIVEN VERGLEICHBAR VERNETZT WÄREN WIE IN WIEN.“

Die experimentelle Szene in Wien präsentiert sich. Ein Blick auf das Programm zeigt, wie groß sie in Wien ist. 

Arnold Noid Haberl: Wir haben zu Beginn den Fehler gemacht, zu glauben, dass wir damit die meisten Kollektive abdecken. Diesen Fehler wollen wir nicht wiederholen. Es gibt viele Initiativen, die wir noch nicht kennen. Deshalb hier auch die Aufforderung: Wer sich angesprochen fühlt, sich vernetzen will und Teil dieser Gruppe werden möchte, kann sich gerne einbringen. Wir sind eine offene Plattform, die nicht vollständig ist – und keinen Anspruch darauf hat.

Jakob Schauer: Trotzdem repräsentiert das Festival einen Großteil der Experimental-Musik-Szene in Wien. Ich kenne keinen anderen Ort, wo die einzelnen Initiativen vergleichbar vernetzt wären wie hier. Man kennt sich, tauscht sich aus – das genieße ich sehr. 

Arnold Noid Haberl: Gleichzeitig ist es schade, dass wir uns momentan nicht mit 29 Initiativen in einem Raum treffen können. Aber wir haben ein Tagesprogramm für die Online-Streams entwickelt, technische Teams vor Ort eingeteilt, verschiedene Backup-Pläne entworfen. Es wird nicht alles funktionieren, aber wir machen etwas. Das zählt.

Das Online-Festival wird gratis mit einer Spendenoption zugänglich sein. Wieso sollte ein Streaming-Konzert gratis sein, wenn eine Performance vor Ort etwas kostet? 

Alisa Beck: Das Festival wird gefördert. Mit Türspenden oder dem Ticketverkauf könnte man die Leute nicht bezahlen.

Jakob Schauer: Außerdem war die Zusage der Fördergelder eine zusätzliche Motivation, das Festival auszurichten.

Die Frage ging eher in die Richtung, die in der Vergangenheit im Zuge von Streaming-Konzerten kritisiert wurde: Wieso schenkt man kulturelle Arbeit her, die man unter normalen Umständen nicht herschenken würde? 

Arnold Noid Haberl: Einige Streaming-Anbieter haben ein Pay-as-you-wish-Modell ausprobiert. In der Konzertsituation vor Ort führt das dazu, dass Leute kommen, die auch zuhören wollen. Ansonsten ist kein konzentrierter Konzertbetrieb möglich. Diese Funktion fällt online weg. 

Alisa Beck: Ich spreche für smallforms, aber viele Veranstalter*innen finanzieren sich auch sonst über Fördergelder, die durch Spendengelder an der Tür ergänzt werden.

Arnold Noid Haberl: Außerdem ist es online immer noch schwierig, Geld auf Spendenbasis einzusammeln. Das aktuelle System von echoraeume läuft über Paypal, weil wir bisher nichts anderes gefunden haben, das gut funktioniert. Die technischen Herausforderungen brechen also nicht ab.

Herzlichen Dank für das Gespräch! 

Christoph Benkeser

 

Das JAHRESENDZEITSCHOKOLADENHOHLKÖRPER Kollektiv Festival findet von 12. Bis 15. Dezember als Live-Stream unter echoraeume.klingt.org statt.

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Folgende Organisationen / Veranstalter*innen bzw. Kurator*innen sind am Festival beteiligt:
Acousmatic Project, Der Blöde Dritte Mittwoch, echoraeume, Engelsharfen+Teufelsgeigen, Fraufeld, Institut 5Haus, JazzWerkstatt Wien, Kaffee Adele, Klangmanifeste, Klingt.org, LaBoa, Monday Improvisers Sessions, MOOZAK, Neue Musik in St. Ruprecht, Psychic Vienna, QuarantineArtTV, QUANTEN – Kammer für Musik, Rotor, saLeh place in 1030, SÄGEZAHN, Setzkasten Wien, smallforms, snim, Unrecords, VEKKS, Velak, VENTIL Records, Wow Signal!

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Links:
Jahresendzeitschokoladenhohlkörper Kollektiv Festival
echoraeume (klingt.org)