Das fragmentarische Gedächtnis an das Verklungene – HANNES KERSCHBAUMER im mica-Porträt

Hannes KerschbaumerDer Begriff Komponieren wird gemeinhin als Zusammensetzen verstanden. HANNES KERSCHBAUMER hingegen versteht ihn auch in seiner entgegengesetzten Bedeutung, dem Zersetzen. Er lässt also einmal gesetzte Impulse in seiner Serie “.debris” bewusst zerbröseln. Eine Konzeption, die unweigerlich zur Reduktion führt.

Reduktion ist aber speziell bei Kerschbaumer nicht mit Einfachheit gleichzusetzen, viel zu ausgefeilt sind dafür seine Kompositionen und der Einsatz der Instrumente, etwa wenn er den Klang eines einzelnen Instruments in unterschiedlichste, oft untypische Richtungen führt. Der Einfluss elektronischer Klangerzeugung wird hier spürbar, die Realisierung jedoch wird wiederum den akustischen Instrumenten überlassen.

Beinahe alles Klingende wurde in der Neuen Musik bereits zum Material: elektronisch Erzeugtes und Verändertes, Stille, Geräusche aller Art. Gibt es also auf der Klanglichen Ebene noch Unerforschtes zu entdecken? Eine Frage, die Kerschbaumer ohne Umschweife bejaht. So lotet er etwa die Möglichkeiten, die Komponisten wie Giacinto Scelsi bereits im Bereich der Klangfarbe bearbeitet hat, auf die rhythmische Ebene um. Als Sezieren des Klanges bezeichnet Kerschbaumer die Auseinandersetzung mit Microsounds, wobei er den Klang elektronisch analysiert, um ihn wiederum auf Instrumente zu übertragen. Nicht aber nur in dem gerade zu hörenden Klang sieht er besonderes Potenzial, sondern vor allem auch in der Beleuchtung eines Zustandes durch das, was vorher und nachher passiert. An einem Beispiel lässt sich das verdeutlichen:

Das geräuschvolle Kratzen auf den Saiten der Streichinstrumente einerseits und ihre klaren Töne andererseits bilden klangliche Extreme in Hannes Kerschbaumers „abbozzo V“, die hart aufeinanderprallen. Oder aber sie gehen über verschiedene Stationen kontinuierlich von einem Zustand in den anderen über. Die Palette zwischen den extremen Polen des Geräuschs auf der einen Seite und der klaren Töne auf der anderen eröffnet einen Ereignishorizont, der sich nicht nur in der linearen Abfolge erschöpft, da das gegenwärtig Erklingende die Gedanken auf das bereits Gehörte verändert: Zwischen den dichten Klangfarben der Streicher tun sich nach und nach die klaren Töne eines Vierteltonakkordeons hervor – waren diese vorher schon zu hören oder tritt das Instrument doch hier zum ersten Mal in Erscheinung? Fragen wie diese erzeugen Unsicherheit über die eigene Wahrnehmung und regen dazu an, das Gehörte zu überdenken. Gleichzeitig weckt dieses Pendeln zwischen Gegenwärtigem und Vergangenem die Neugier auf das Kommende.

„Skizze“ lautet die deutsche Übersetzung der Reihe „abbozzo“. Die Kompositionen aber als unfertig oder als Vorläufer eigentlicher Werke zu sehen, würde den fein ausgearbeiteten Strukturen und Klängen nicht gerecht werden. Sie als vielfältige Möglichkeiten zu betrachten, die sich zwischen den auftretenden Extremen zu bewegen, entspricht den organischen Entwicklungen schon viel eher. Vielleicht aber ist es auch das fragmentarische Gedächtnis an das Verklungene oder auch die Erinnerung, die sich durch die neu hinzutretenden Ereignisse ständig verändert, die sich als skizzenhaft erweisen. Kerschbaumer verstehe das Komponieren aber nicht nur im wörtlich übersetzten Sinn als Zusammensetzen, sondern auch als Zersetzen. Mit physikalischen Modellen von Zerfallsprozessen – übertragen als das Zersetzen von Klängen – setzt er sich in seiner Reihe „.debris“ auseinander. Den Ausgangspunkt bilden vereinzelte klangliche Impulse, die sich zunehmend auflösen. Bis ins Extrem weitergedacht würde diese Idee zum weißen Rauschen führen, dort sei er aber noch nicht angelangt, so der Komponist. Wohin er mit diesen Werken aber vordringt, sind Klänge, die man den Instrumenten nicht zugetraut hätte.

Die Agenda des 1981 in Brixen geborenen Komponisten füllt sich in der nächsten Zeit mit Terminen: “stele.blut” für arabischen Sprecher und Orchester mit Texten von Nouri und Rami al-Jarrah wird am 11. September bei den Klangspuren Schwaz durch die Akademie St. Blasius zur Uraufführung gebracht; im Dezember bringen das Haydn Orchester Bozen/Trient und das Trio Greifer “legno.debris” erstmals zu Gehör. Aktuell ist er Publicity Preisträger des SKE-Fonds, und das nächstes Jahr startet mit seiner Residency beim Internationalen Zentrum zeitgenössischer Musik in Kärnten. Nicht zuletzt wählte Georg Friedrich Haas seinen Schüler für die CD “Austrian Heartbeats #2”, produziert von mica – music austria und col legno, wodurch „abbozzo V“ auch im gut sortierten Fachhandel erhältlich ist.

Doris Weberberger

Foto Hannes Kerschbaumer (c) Pei-Yu Fu.png

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