„Das Faszinierende ist der Punkt, an dem musikalisches und sprachliches Denken sich berühren“ – Gabriele Geml und Han-Gyeol Lie (Verein .akut) im mica-Interview

Die Philosophin GABRIELE GEML arbeitet an der Universität Wien und psychotherapeutisch in freier Praxis. Gemeinsam mit der Pianistin und Kuratorin HAN-GYEOL LIE, die an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz lehrt, bildet sie ein Duo der besonderen Art: Musik und Sprache, instrumentale und philosophische Ausführende verpartnern sich, erarbeiten gemeinsam Konzepte, stellen Schriften und Werke in neue Räume und Kontexte, überführen damit Traditionelles in die Gegenwart. Es liegt nahe, als ein solches Duo über musikalische Philosophie zu sprechen und von da ist es zu Theodor W. Adorno nur noch ein winziger Schritt – das Interesse an Adornos Schriften zur Musik wird zu einem ersten gemeinsamen Nenner, die Kenntnis von dessen Tätigkeit als Komponist zur Motivation, einen Verein zu gründen, um Adornos musikalische Werke kennenlernen und zur Aufführung bringen zu können: Der Verein für Ästhetik und angewandte Kulturtheorie (Verein .akut) wird 2014 gegründet. Mit dem Symposion „Zwischen Frankfurter und Wiener Schule. Theodor Wiesengrund Adorno: Das kompositorische Werk“ wurde 2015 ein großformatiges Projekt als Erstling sehr erfolgreich mit Allianzen zum Arnold Schönberg Center und zur mdw–Universität für Musik und darstellende Kuns Wien und Förderungen unter anderem von der Ernst von Siemens Musikstiftung realisiert.

Der Verein .akut dehnt seitdem die fachliche Eingrenzung von Philosophie und Musik weiter aus, bringt Perspektiven hervor, indem auch Bezüge zur Literatur, zur bildenden und darstellenden Kunst hergestellt, Wissenschaftler:innen und Künstler:innen in Projekte mit eingebunden oder soziale Aspekte angesprochen werden, wie es etwa beim jetzt anstehenden Symposion „Verlorene Worte. Zur philosophischen Reflexion der Aphasie“ (11. bis 13. Mai 2023) eine Rolle spielen wird. Dabei entwickeln die beiden Protagonistinnen eine faszinierende Virtuosität im Gestalten von Übergängen und Begegnungsräumen.

Han-Gyeol Lie 2019 im Wiener Volksliedwerk in Kooperation mit Wien Modern
Han-Gyeol Lie 2019 im Wiener Volksliedwerk in Kooperation mit Wien Modern (c) Maximilian Pramatarov

Der Verein .akut versteht sich als praktizierender, aufführender, elaborierender, tätiger Organismus eines Duos. Es spricht aber schon auch die Kuratorin aus dir, Han-Gyeol, wenn es darum geht, gewisse Themen zu verhandeln, oder?

Han-Gyeol Lie: Als Pianistin spielen für mich theoretische Texte, wie zum Beispiel Adorno sie geschrieben hat, eine große Rolle in meiner künstlerischen Praxis. Daraus haben sich auch meine kuratorischen Tätigkeiten entwickelt: als weiterführende Reflexion von Themen, die mich als Interpretin unmittelbar beschäftigen.

Gabriele Geml: Adorno vertrat die Auffassung: „Theorie ist eine Gestalt von Praxis.“ Er wollte seine Texte immer auch in einer praktischen Dimension verstanden wissen. Uns haben sie in weiterer Folge dann auch zu einer gewissen Tätigkeit angeregt.

Gabriele Geml
Gabriele Geml (c) Foto Gröbner

Ein weiterer Aspekt ist, dass nach Adornos Auffassung die Struktur musikalischer Werke eine kritische Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse darstellt. Widmet man sich Adornos Texten, gerät man folglich immer auch in soziologische bis gesellschaftskritische Felder.

Gabriele Geml: Das gesellschaftliche Moment spielt schon in unserem Vereinsnamen eine maßgebliche Rolle: Die „angewandte Kulturtheorie“, von der sich die Abkürzung „akut“ herleitet, soll dieses Praxismoment geltend machen.

Und so kommt es auch zu dem Ausspruch, als Verein einen „geistigen Handwerksbetrieb“ zu betreiben, philosophisches Gut in die Praxis zu bringen. Das Kreisen um Adorno als Anker mit Weiterentwicklungen, um einen geistigen Austausch mit anderen Themen lebendig werden zu lassen. Zum Beispiel mit Franz Schubert, dessen Musik laut Andreas Schett im innersten Kern berührt und dadurch auf das Leben zurückwirft.

Gabriele Geml: Das erste Gespräch zwischen Han-Gyeol und mir handelte von Schuberts Spätwerken, und von Schubert zu Adorno ist es ja auch nicht sehr weit; Schubert gehörte zu den Komponisten, die Adorno ganz besonders geschätzt hat. Und die Bedeutung, die Schuberts Musik für uns beide hat, war auch das erste Verbindende zwischen Han-Gyeol und mir.

Han-Gyeol Lie: Man könnte fast sagen, dass ich wegen Schubert nach Wien gezogen bin – auf Rat meines mittlerweile verstorbenen Mentors Paul Badura-Skoda, dem Spezialisten für die Wiener Schule. Als ich Gabriele begegnete und wir dann einige Jahre später den Verein gründeten, fiel unsere Wahl bei der Suche nach einem Vereins-Emblem auf die die Schubert’sche Krähe, in Anlehnung an die „Winterreise“. In unserem Logo, das die Grafikerin Miriam Trilety entworfen hat, blickt sie nach links, gegen die Leserichtung, die nach rechts voranschreitet und gleichzeitig zurück zu einem Punkt in der Vergangenheit. Das Akute, das Gegenwärtige ist also für uns durch die rückschauende Krähe gefiltert.

Grafik: Miriam Trilety, www.triletydesign.com

„Wir wollen Programme entwerfen, die das musikalische Material selbst sprechen lassen, und hoffen, dass die Werke dadurch in einer neuen Ordnung hörbar werden.“

Um was dann zu bewirken? Eine Verlebendigung? Einen Diskurs? Was ist denn die Aussicht, die Motivation für Euer Bestreben?

Han-Gyeol Lie: Kuratorisch haben wir zum Beispiel 2016 Schuberts großes C-Dur-Streichquintett bei Wien Modern in den Mittelpunkt gestellt und damit in einem Festival für zeitgenössische Musik den zeitgenössischen Blick auf klassische Musik stark gemacht. Aktuell sind wir im Wiener Volksliedwerk mit einer Tonartenserie zu Gast, die ebenfalls nicht das Alte und das Neue gegeneinander ausspielt, sondern den manchmal sogar unhörbaren Übergangsmoment zwischen den verschiedenen Werken gleicher oder verwandter Tonart exponiert. Wir wollen Programme entwerfen, die das musikalische Material selbst sprechen lassen, und hoffen, dass die Werke dadurch in einer neuen Ordnung hörbar werden.

Gabriele Geml: Betrachtet man historische Gegenstände, gibt es ja häufig Aspekte, die sich als hochaktuell erweisen oder sich in aktuellen Zusammenhängen wieder neu interpretieren lassen. In Bezug auf das uns gegenwärtig beschäftigende Thema der Aphasie, also der Sprachstörung, ist es beispielsweise auch interessant, ältere sprachphilosophische Texte zu berücksichtigen und für gegenwärtige Diskussionen fruchtbar zu machen, weil sie zum Beispiel einen Blick auf den Menschen als Ganzes werfen. Diese holistische, übergreifende Dimension, auf die Philosophie letztlich ja eigentlich immer zielen sollte, gerät durch die fachwissenschaftliche Spezialisierung heute vielfach aus dem Blick. Texte der philosophischen Tradition haben oftmals fruchtbare Synthesen geschaffen, etwa indem sie, wie Helmuth Plessner es einmal formuliert hat, die Sprache „im Ganzen der menschlichen Organisation“ betrachten.

Wie kann denn die Sprachphilosophie zum Verständnis des medizinischen Vorfalls der Aphasie beitragen?

Gabriele Geml: Die häufigste Ursache von Aphasien sind Schlaganfälle. Es kann geschehen, dass ein Mensch – und sein persönliches Umfeld – sehr plötzlich der katastrophischen Situation einer Sprachstörung ausgesetzt sind. In Bezug auf diese Beeinträchtigung, die sehr unterschiedlichen Ausmaßes sein kann, auch was die Aussichten auf eine Restitution anbelangt, gibt es etliche Aspekte, die aus dem medizinischen Bereich herausfallen, insbesondere die gesamte soziale Dimension. Mit Sprachstörungen verbinden sich verschiedene philosophische Gesichtspunkte: Der gesamte Komplex der Subjektivität; Fragen der Autonomie, der Selbstbestimmung, des guten Lebens.

Mich selbst hatte zunächst interessiert, wie sich die zeitgenössische Aphasieforschung mit der klassischen Sprachphilosophie verknüpfen lässt, gerade auch in Hinblick auf das Verhältnis von Musik und Sprache, das in der europäischen Philosophietradition immer wieder diskutiert wurde. Das menschliche Sprachvermögen besteht ja nicht nur in der Fähigkeit, Begriffe in syntaktisch komplexen Vermittlungen zur Übermittlung von Informationen zu verwenden, sondern Sprache hat in sich auch eine musikalische Komponente: Rhythmik, Sprachmelodie, Pausierung, lautliche Ausgestaltung usw. spielen eine entscheidende Rolle und affizieren ihrerseits die Semantik. So kann schon dasselbe kurze Wort „bitte“ je nach Tonmodulation so Unterschiedliches wie einen Wunsch, eine Bestätigung eine Frage oder eine drohende Aufforderung bedeuten. Ich finde es aufschlussreich, klassische philosophische Texte zum Verhältnis von Musik und Sprache im neuen Licht der musikbasierten sprachanbahnenden Verfahren bei der Aphasie-Therapie zu lesen. Dabei denke ich zum Beispiel an Jean-Jacques Rousseau, der ja nicht nur Sozialphilosoph, sondern auch Komponist war. Sein im 18. Jahrhundert verfasster Text „Versuch über den Ursprung der Sprachen“, in dem von der Melodie und der musikalischen Nachahmung die Rede ist, legt interessante Verbindungen von Musik, Sprache und sozialem Miteinander dar. Sprachstörungen spielen darin keine Rolle, aber es ist interessant, seine Ausführungen unter ganz veränderten wissenschaftlichen Voraussetzungen, mit dem ganzen Erfahrungsschatz der Neurowissenschaften, der Linguistik, Logopädie usw. neu zu rekapitulieren.

„Das gemeinsame Singen erfüllt wichtige soziale Funktionen und gerade die sozialen Partizipationsmöglichkeiten sind ja durch Aphasien oftmals drastisch reduziert.“

Wie steht es um die Verbindung von Aphasie und Musik? Bei dem Symposion Mitte Mai spricht sogar eine Vertreterin des Aphasie-Chores …

Gabriele Geml: Die Etablierung von Aphasie-Chören ist eine bedeutende Entwicklung. Im deutschen Sprachraum sind Aphasie-Chöre insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten entstanden. Es gibt sie unterdessen an verschiedenen Orten, weil sich ein musikalischer Zugang zu Sprachstörungen offenbar sehr bewährt. Das gemeinsame Singen erfüllt wichtige soziale Funktionen und gerade die sozialen Partizipationsmöglichkeiten sind ja durch Aphasien oftmals drastisch reduziert. Zugleich kann das Singen eine verbliebene Ausdrucksmöglichkeit darstellen. Manche schwerst-aphasische Menschen, die kaum noch zu sprechen vermögen, können noch singen. Das ist schon lange bekannt, es gab bereits in früheren Jahrhunderten Berichte, dass Menschen, denen die Sprach- oder Sprechfähigkeit ganz abhandengekommen war, beispielsweise noch Gebete aufsagen konnten. Rhythmus hat eine starke Wirkung auf das Gedächtnis und Erinnerungsvermögen. Das weiß eigentlich schon jeder, der sich, um ein Alltagsbeispiel zu nennen, seine Telefonnummer in einem ganz bestimmten Rhythmus merkt. Hört man sie in einer anderen rhythmischen Kombination, fällt es einem schwerer, sie zu identifizieren. Es gibt sinnfällige Zusammenhänge zwischen Mnemotechnik und Rhythmik, auch in der Lyrik spielen sie eine Rolle. Insgesamt kann Musik sprachtherapeutische Funktionen übernehmen: Personen, die ihre Sprache weitgehend verloren haben, können durch Musik zu sprachlichen Kompetenzen zurückfinden. Zudem gibt es eine physiologische Komponente: Atmung, Muskelspannung usw. verändern sich beim Sprechen – und eben auch beim Singen. Beides kann antidepressiv wirken – und dieser Effekt kommt wiederum den Heilungspotentialen zugute.

Gibt es auch für die psychische Belastung von Betroffenen Entwicklungen von Therapieformen?

Gabriele Geml: Da wäre zweifellos noch viel Luft nach oben und zugleich kann man sich vorstellen, dass es in dem Zusammenhang einen besonders hohen Bedarf gäbe. Da Psychotherapie aber sehr sprachbasiert ist, müssten für den Bereich der Sprachstörungen Zugänge entwickelt oder jedenfalls adaptiert werden. Ein Erfahrungsschatz von Techniken stünde sicher zur Verfügung, etwa durch körperfokussierte Verfahren. Aphasien können sehr unterschiedlichen Ausmaßes sein. Wird Sprache weder produziert noch verstanden, sind also neben der Spontansprache auch die rezeptiven Möglichkeiten verschüttet, sind die psychotherapeutischen Zugangsmöglichkeiten massiv eingeschränkt und gleichzeitig kann der Leidensdruck enorm sein.

Das erklärt auch den Titel des Symposions: „Verlorene Worte“. Was so lyrisch klingt, deutet auf die hoch-differenzierte Ausprägungsvielfalt von Sprachverlust …

Gabriele Geml: Rezeptives und produktives Sprachvermögen, also Sprachverständnis und Spontansprache sowie Lesen und Schreiben, können je nach der Art der Schädigung sehr unterschiedlich eingeschränkt oder verloren sein. Nach einer Schädigung kann sich das Sprachvermögen zurückbilden, manchmal ist es aber auch nicht wiederherstellbar. Auch Asymbolie, also Unfähigkeit zum Zeichengebrauch, ist möglich.

„Ich denke, wir schaffen zunächst einmal in einem recht physischen Sinn Raum, Menschen verschiedener Disziplinen und Interessenslagen zusammenzubringen, weil das, so jedenfalls unsere Hoffnung, die Wahrnehmung und Erkenntnislust anregt.“

Was ist die Methode des Vereins .akut, die gewünschten Begegnungen zu ermöglichen und Synergien zu neuen Betrachtungsweisen und Erkenntnissen zu erzeugen?

Gabriele Geml: Schon die Bewegung aus dem eigenen Erkenntnisbezirk heraus kann erfrischend wirken. Ich denke, wir schaffen zunächst einmal in einem recht physischen Sinn Raum, Menschen verschiedener Disziplinen und Interessenslagen zusammenzubringen, weil das, so jedenfalls unsere Hoffnung, die Wahrnehmung und Erkenntnislust anregt. Das ist vielleicht heute auch eine Aufgabe der Philosophie. Wie Odo Marquard sagte: „Philosophen sind Spezialisten für das Allgemeine.“ Historisch hat die Philosophie ja einen großen Enteignungsprozess erlebt, weil ihr durch die Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Fachdisziplinen immer mehr abgenommen wurde. Um Synthesen zu schaffen, ist Philosophie heute mehr gefordert denn je.

Findet die Musik außer durch die Musiktherapie auch Eingang in das Symposion?

Gabriele Geml: Wir verstehen dieses Symposion als Auftaktveranstaltung, weil wir die Hoffnung haben, ausgehend von Gesprächen zwischen verschiedenen Akteur:innen Ideen für weitere musikalische Projekte zu gewinnen.

„Obwohl die Worte verloren gegangen sind, können noch Lieder vorhanden sein.“

Wie kann Musik dazu etwas „sagen“ und dieses Feld bereichern?

Han-Gyeol Lie: Das Faszinierende ist der Punkt, an dem musikalisches und sprachliches Denken sich berühren: wo sprachliches Vermögen aussetzt, kann musikalisches noch vorhanden sein. Obwohl die Worte verloren gegangen sind, können noch Lieder vorhanden sein. Eines unserer gegenwärtigen Publikationsprojekte ­– „Worte ohne Lieder“, ein Buch zu Adornos musikalischem Schreiben, das wir im Anschluss an ein Symposion gemeinsam mit Kollegen herausgeben – greift ebenfalls das Musik-Sprachverhältnis auf. Der Tagungsband rekurriert auf einen Titel von Adorno in Anlehnung an Mendelssohns „Lieder ohne Worte“. Das Wechselverhältnis von Musik und Sprache beschäftigt uns also immer wieder, in unterschiedlichen Konstellationen.

Es gibt ja unzählige Gemeinsamkeiten zwischen Musik und Sprache, insbesondere in Hinblick auf Grammatik und Rhetorik. Musik wird, gerade in der Lehre, oft mit sprachlichen Parametern erklärt und übersetzt. Die Aphasie-Chöre zeigen auf beeindruckende Weise, dass der Prozess auch umgekehrt laufen kann, dass Musik sprachliches Denken zurückrufen und wiederherstellen kann.

Gabriele Geml: Und sie stellen eine wichtige soziale Teilhabemöglichkeit dar, sowohl für die Betroffenen wie auch für ihre Angehörigen, die ja von Sprachstörungen immer mitbetroffen sind.

Es geht eine Isolierung für die Betroffenen mit einher, weil sie so rigoros einer Vermittlungskompetenz beraubt wurden.

Gabriele Geml: Und dabei wäre Kommunikation ja ein elementares Bedürfnis. Zum Symposion sind deshalb auch zwei wichtige soziale Institutionen eingeladen, die auf eben dieses Bedürfnis reagieren: der von Dr. Jacqueline-Ann Stark 1976 ins Leben gerufene Wiener Aphasie-Club und der im 2014 von Christine Plattner gegründete Aphasie-Chor, der erste Aphasie-Chor in Österreich.

Welche Disziplinen werden noch bei dem Symposion vertreten sein?

Gabriele Geml: Geplant sind Vorträge aus den Bereichen Philosophie, Kognitionswissenschaften, Neurologie, Linguistik, Logopädie, Musiktherapie, Musikwissenschaft und Bildungswissenschaft. Es wird auch darum gehen, über das konkrete medizinische Störungsbild der Aphasie hinaus Brücken zu geläufigeren Formen von Sprachversagen zu bauen. Bleibt man bei der Aphasie nicht zu eng an der Beeinträchtigung im neurologischen Sinn haften, können Verbindungen zur „Psychopathologie des Alltagslebens“, wie man mit Freud sagen könnte, geschaffen werden. Bemerkenswert ist in dem Zusammenhang, dass Sigmund Freud selbst sein Werk mit einer Studie über Aphasien eröffnete, Sprache und Sprachaussetzer sind ja auch in der Psychoanalyse von zentraler Bedeutung. In der „Psychopathologie des Alltagslebens“ geht es auch um Worte, die man nicht mehr findet oder verwechselt, also um Phänomene, die bei Aphasien eine Rolle spielen.

Bei einer Aphasie kann ein reiches Innenleben plötzlich keinen Ausdruck mehr finden.

Gabriele Geml: Ja, man denkt bei Sprache vor allem daran, dass sie aus dem Übermitteln von Informationen besteht. Aber ein wichtiger Aspekt ist es auch, dem Innenleben Ausdruck zu verleihen. Und indem man Worte für innere Zustände findet und versucht zu beschreiben, wie man sich fühlt, verwandelt man ja ein wenig auch ebendieses beschriebene Gefühl.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Sylvia Wendrock (Sprechgold)

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Termine:

Symposion: Verlorene Worte. Zur philosophischen Reflexion der Aphasie
Donnerstag, 11. bis Samstag, 13. Mai 2023
Universität Wien 
Alte Kapelle, Uni-Campus Hof 2.8 | Spitalgasse 2-4, 1090 Wien
Das Symposion ist eine Kooperation des Vereins .akut mit dem Institut für Philosophie der Universität Wien und wird von Stadt Wien Kultur gefördert.

Konzert: „Wie Gras“ | Soirée in C-Dur
Montag, 19. Juni 2023
Wiener Volksliedwerk
mit Michael Donhauser, der aus seinem neuen Buch „Wie Gras. Legenden“ (Matthes & Seitz 2022) liest.

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Link:
Verein .akut