„DAS ALBUM IST EIN BIOPRODUKT“ – JOHANNES AUVINEN (TIN MAN) IM MICA-INTERVIEW

JOHANNES AUVINEN veröffentlicht mit „Akkosaari“ sein erstes Album unter eigenem Namen. Der Wahlwiener, der als TIN MAN seit 2004 die Definition von Acid-Techno verschiebt, legt dafür den Bass-Synthesizer zur Seite und schleicht durch fremde Welten – um Acid zu produzieren, der keiner ist. Zumindest nicht, wenn man das Knatschen einer Roland 303 im Ohr hat. „Akkosaari“ pumpt zwei Liter Messwein durch die Orgeln, schwenkt mit Weihrauch den heiligen Ambient-Raum aus und liest zwei Fürbitten. Zu Ehren des Deep Listenings, versteht sich. Über das Raunzen in Wien, eine Sightseeingtour durch die Hollywood Hills und Musik aus der Zone hat JOHANNES AUVINEN mit Christoph Benkeser gesprochen. 

Du erfindest als Tin Man seit über 15 Jahren permanent Acid-Techno neu, bist gefragter DJ und arbeitest mit verschiedenen Produzenten auf der ganzen Welt. Seit einem Jahr steht alles still – jetzt erscheint ein neues Album – ohne Acid.

Johannes Auvinen: In einem normalen Jahr spiele ich vier bis sechs Mal im Monat. Das fällt momentan alles weg. Für mich ist das allerdings nicht neu. Bevor ich von meiner Arbeit als Musiker leben konnte, hatte ich normale Jobs.

Ab wann konntest du von Musik leben? 

Johannes Auvinen: Ich habe 2004 mit „Places“ meine erste Platte veröffentlicht. 2010 habe ich begonnen, Konzerte zu spielen. Ab 2014 konnte ich von meiner Arbeit als Produzent und DJ leben.

Was hast du davor gemacht? 

Johanns Auvinen: Ich bin in Kalifornien aufgewachsen, hab ich Los Angeles studiert und danach für eine Spielzeugfirma gearbeitet. In meiner Freizeit nahm ich Musik auf. 2007 zog ich nach Wien – das war eine Möglichkeit für mich, das Leben als Musiker zu probieren.

Wieso erst in Wien?

Johannes Auvinen: In jeder europäischen Stadt gibt es Clubs. In den USA ist das ganz anders. Außerdem muss man weite Strecken zurücklegen, um von einer Stadt in die nächste zu kommen. In Wien bin ich im Zentrum von Europa. Die Stadt ist – im Vergleich zu Los Angeles – klein und überschaubar. In L.A. sind die Leute außerdem oberflächlich. Es ist schwierig, Kontakt mit Kulturschaffenden zu haben.

Eine der ersten Platten, die du in Wien veröffentlicht hast, hieß „Vienna Blue“.

Johannes Auvinen: „Vienna Blue“ erschien 2011. Ein Jahr zuvor bin ich für Österreich bei der Expo in Shanghai aufgetreten, wo ich mit Geiger*innen, Cellist*innen und Klarinettist*innen zusammengespielt habe. Aus diesem Auftritt sind Ideen für die Platte entstanden. Die Songs sollten weniger Techno und mehr Pop sein.

Auf dem Titelsong singst du: „I love you Vienna, but you are killing me.“

Johannes Auvinen: Das ist das Raunzen, das ich in Wien vorgefunden habe.

Die Hass-Liebe hat dich bisher nicht umgebracht, im Gegenteil. Wie ist deine Verbindung zu Wien? 

Johannes Auvinen: Besser.

Wieso? 

Johannes Auvinen: Am Anfang war es schwierig, hier anzukommen. Inzwischen ist alles stabil, alles läuft gut – besonders in der Corona-Zeit. Wenn ich mir überlege, was für ein Leben ich während der Pandemie in Los Angeles geführt hätte … Das wäre ein Horror gewesen, vor allem wegen der sozialen Situation.

Wie erinnerst du dich an die erste Zeit in Wien? 

Johannes Auvinen: Die Clubszene ist mir in Erinnerung geblieben. Es gab viele kleine Bars und so Lounge-artige Locations, die Musik im Donau oder Elektro Gönner hat mich inspiriert.

Dort hast du später selbst gespielt. 

Johannes Auvinen: Für mich sind kleine Clubs interessanter. Überhaupt sind Partys besser, wenn sie kleiner sind. Oft fragt man mich nach meinem Lieblingsclub oder wie es ist, im Berghain aufzulegen. Ich sage immer: Kleine Clubs, in denen die Leute eine Verbindung zur Musik haben und einfach tanzen wollen, sind immer besser. Vielleicht ist das der Grund, wieso ich in den letzten Jahren wenig auf Festivals gespielt habe. Dort fehlt die Verbindung zum Publikum.

Eine Verbindung, die du mit deiner neuen Platte, „Akkosaari“, nicht im Club suchst. Es ist der Schritt hin zum ambientösen Sounddesign.

Johannes Auvinen: Ja, ich habe bei dieser Platte nicht an den Club gedacht, sondern an die Musik, die ich mit 15, 16 Jahren entdeckte. Damals suchte ich in den Plattenläden nach elektronischer Musik: Jean-Michel Jarres „Équinox“, Alben von Brian Eno und Soundtracks aus Filmen von Tarkovsky. Editions Mego aus Wien, das damals einfach nur mego hieß, hat mich auch immer inspiriert.

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Deine neue Platte erscheint auf dem Label von Peter Rehberg. Wie hast du ihn kennengelernt? 

Johannes Auvinen: 1997 habe ich Peter in Los Angeles getroffen. Ich war keine 20, aber ein großer Fan. Er tourte gerade mit Christian Fennesz, Russell Haswell, Florian Hecker sowie Mika und Ilpo von Pan Sonic – fast alle meine Helden an einem Ort. Ich schrieb ihm also davor. Wir trafen uns dann zum Sightseeing.

Durch Los Angeles?

Johannes Auvinen: Ja, wir sind durch die Hollywood Hills gefahren und dann stundenlang im Verkehr gesteckt. Übrigens: Zur gleichen Zeit fand ich das finnische Plattenlabel Sähkö Recordings mindestens genauso gut, vor allem die Musik von Mika Vainio und Ilpo Vaisänen. Deren Musik hat mich geprägt, sie war für „Akkosaari“ wichtig.

Wie bist du in diesem Alter auf die Musik von Sähkö gestoßen? 

Johannes Auvinen: Durch meinen älteren Bruder. Er studierte auf der UC Santa Cruz, einer liberalen Universität in Kalifornien, wo ich ihn besuchen durfte. Zu dieser Zeit experimentierten dort viele Leute mit psychedelischen Drogen. Auf einmal hörte ich diese Musik – und war total begeistert.

„Akkosaari“ übersteigt das Psychedelische und geht über ins Sakrale. 

Johannes Auvinen: Weil ich mich von Tarkovskys „Stalker“ inspirieren ließ. Der Film hat, genauso wie „Solaris“ eine spirituelle Ebene, die sich in der sakralen Musik wiederspiegelt. In „Solaris“ kommen Choräle von Johann Sebastian Bach vor.

Wie lässt sich diese Musik aus der Zone beschreiben? 

Johannes Auvinen: Bei „Stalker“ ist es natürlich anders. Es gibt zwar ein Narrativ und Charaktere, die darin eine Rolle spielen – aber es geht mehr darum, to get spaced out in the zone. Die Musik fasst dieses Element ein. Sie gibt keine Antwort innerhalb des Narrativs, weil sie sich gleichzeitig in eine Richtung entwickelt, sich aber nicht von der Stelle bewegt.

„ICH HABE ACID AUF AKKOSAARI INTEGRIERT.“

„Akkosaari“ ist Musik to get spaced out.

Johannes Auvinen: Ja, das hängt mit der Insel zusammen.

Welche Insel? 

Johannes Auvinen: Akkosaari ist eine Insel in Finnland. Der Titel hängt damit zusammen. In einem Titel geht es darum, wie sich das Eis in Finnland verändert.

Das sind Themen, die in die Natur führen. Das Gegengewicht zur maschinellen Musik, die du sonst produzierst. 

Johannes Auvinen: Ja, das Album ist ein Bioprodukt.

Du produzierst seit vielen Jahren Acid-Techno. Schaffen Ambient-Ausflüge wie „Akkosaari“ die Distanz, um Acid interessant zu halten? 

Johannes Auvinen: Ich habe Acid auch auf „Akkosaari“ integriert.

Das musst du mir erklären. Den Acid-Sound der Roland 303 hört man auf der Platte nicht.

Cover Akkosaari
Cover “Akkosaari”

Johannes Auvinen: Bei Acid schwingt für mich etwas Abstraktes mit. Wenn sich plötzlich die Wahrnehmung verändert, kann das einen Schock erzeugen. Als Hörer*in muss man dann einen Schritt zurücktreten, die Situation neu betrachten. Auf „Akkosaari“ umfasst das so etwas wie ein konstantes Crescendo. Die Musik entwickelt sich in eine Richtung oder suggeriert, dass sie sich in eine Richtung entwickelt. Gleichzeitig hat Acid mit dem Missbrauch einer Technologie zu tun. Eine 303 ist wie ein Werkzeug, das man sehr unterschiedlich einsetzen kann.

Wie meinst du das? 

Johannes Auvinen: Sie hat eine Identität, die man entdecken muss. Eine Identität, die sich permanent verändern lässt.

Indem man sie entgegen ihrem ursprünglichen Verwendungszweck verwendet? 

Johannes Auvinen: Ja, die Roland TB-303 sollte eigentlich wie ein echter Bassist klingen, was natürlich Blödsinn war. Die Leute, die das Ding verwendeten, haben das schnell gemerkt. Manche haben sie anders verwendet – und damit neue Möglichkeiten aufgemacht.

Deshalb hast du gemeint, dass „Akkosaari“ auch Acid sei. 

Johannes Auvinen: Ja, und trotzdem ist es keine Tin Man-Platte. Auf „Akkosaari“ verwende ich keine 303. Außerdem ist das Album persönlicher. Deshalb veröffentliche ich sie nicht unter meinem Pseudonym, sondern mit meinem richtigen Namen.

Was macht das Album persönlich? 

Johannes Auvinen: Es hat mit meiner Familiengeschichte zu tun. Akkosaari ist ein echtes Lokal in Finnland. Mein Vater hat dort seine Jugend verbracht.

„IN FINNLAND GIBT ES VIELE AKKOSAARI.“

Hast du nicht vorhin gesagt, dass Akkosaari eine Insel ist? 

Johannes Auvinen: Ja, es ist auch eine Insel. Dazu gibt es eine Geschichte. Man muss dazu wissen, dass akko aus dem Finnischen übersetzt „alte Dame“ bedeutet. Eines Tages im Frühling sei also eine alte Frau auf einer Insel gestorben. Ihr Leichnam sollte mit Pferden über das zugefrorene Wasser transportiert werden. Aber das Eis sei nicht dick genug gewesen, deshalb habe man ihren Körper auf der Insel zurückgelassen.

Was ist dann passiert? 

Johannes Auvinen: Keine Ahnung. Ich glaube nicht, dass diese Geschichte wahr ist. Schließlich gibt es in Finnland viele Akkosaari.

Und das Lokal, in dem dein Vater aufgewachsen ist. 

Johannes Auvinen: Ja, die Gegend, in der er aufgewachsen ist, ist umgeben von Seen. Das ganze Land besteht aus Seen, überall leben die Leute auf Inseln. Deshalb habe ich die Geschichte, als man sie mir als Kind erzählt hat, auch geglaubt. Noch heute kann ich mir das gut vorstellen – einen See, den Nebel, und die gespenstische Stimmung, die ihn umgibt. Das hat etwas Mysteriöses.

Über die Roland 303 hast du das auch einmal gesagt. Mit „Akkosaari“ eröffnest du einen neuen Kontext.

Johannes Auvinen: Ich möchte mehr in diese Richtung produzieren. Der Rahmen wird die Idee des Soundtracks bleiben, weil ich Geschichten erzählen möchte. Allerdings muss es nicht immer Ambient sein.

Sondern? 

Johannes Auvinen: Das nächste Projekt wird etwas Österreichisches, das mit Schubert zu tun hat.

Das Zeitalter der Klassik von „Vienna Blue“ zieht wieder ein? 

Johannes Auvinen: Bei „Vienna Blue“ ging es eher um romantische Ideen. Schubert interessiert mich, weil seine Musik einen großen Einfluss auf Kraftwerk gehabt hat. Zumindest glaube ich das. Außerdem sehe ich Schubert hier überall in der Stadt. Sein Sterbehaus liegt in der Nähe meiner Wohnung.

In Wien ist es schwierig, der musikalischen Geschichte aus dem Weg zu gehen.

Johannes Auvinen: In meinen ersten Jahren in Wien hat mich das gar nicht interessiert. Inzwischen genieße ich es, mich von den Komponisten dieser Stadt begleiten zu lassen.

Danke für das Gespräch! 

Christoph Benkeser

 

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