Mit JUDIT VARGA hat Österreich eine unglaublich schaffenskräftige Komponistin. Seit Kurzem auch mit einer Professur an der UNIVERSITÄT FÜR MUSIK UND DARSTELLENDE KUNST WIEN (mdw) ausgestattet, begegnet man ihrem Namen aber auch im Kino, wenn sie mit Filmmusik für Stimmung sorgt. Und auch das ORF RADIO-SYMPHONIEORCHESTERS WIEN hat bei ihr ein Werk für die kommende Saison in Auftrag gegeben. Im Interview mit Sylvia Wendrock erzählt JUDIT VARGA von ihren vier unterschiedlichen Jobs, über den Einfluss ihrer Ausbildung zur Pianistin auf das Komponieren und dass im Rahmen ihres Unterrichts auch Flashmobs organisiert werden.
Am 24. April 2020 sollte dein Stück „Tiny Little People, Big Big Feelings“ vom Notos Quartett beim Festival Bridges im Wiener Konzerthaus uraufgeführt werden, das jedoch aufgrund der Corona-Krise abgesagt wurde. Welche Brücken, welcher Auftrag, wovon handelt das Stück?
Judit Varga: Das Quartett hat mich anhand meines Stücks „Mosar“, isländisch für „Moos“, im Internet gefunden. Es hat sie angesprochen, denn der Geiger [Sindri Lederer; Anm.] kommt aus Island. Die Musik gefiel ihnen sehr gut und sie hatten gerade ein ungarisches Album [„Hungarian Treasures“; Anm.] herausgebracht. Diese Mischung hat uns also zueinander gebracht und so wurde ich gebeten, „Mosar“ umzuschreiben, damit auch das Klavier eine Stimme darin findet. Doch nach kurzer Überlegung wurde klar, dass es besser ist, ein neues Stück für das Notos Quartett zu schreiben. Und so ist „Tiny Little People, Big Big Feelings“ entstanden, eine quirlige, bittersüße, traurig-lustige Hommage.
Für „Pendulum“ gab es den TONALi-Preis, es wurde im Juli 2019 in der Elbphilharmonie uraufgeführt.
Judit Varga: Ja, es wurde sogar aus dem großen Saal live übertragen, was für ein Klavierstück ein wirklich großer Rahmen ist. Ich weiß nicht, was weiter mit dem Stück passieren wird. Damals haben es zehn Pianistinnen und Pianisten gelernt und ich kann mir gut vorstellen, dass es noch ein Nachleben hat. Denn das Stück ist nicht gerade einfach und wenn man es einmal im Repertoire hat, wird es sicher noch in dem einen oder anderen Konzert gespielt werden.
„Oft habe ich auch während des Komponierens Assoziationen und so entstehen meine Titel.“
Wie kommst du zu diesen Stücken mit diesen ansprechenden Titeln?
Judit Varga: Ich glaube, ich brauche immer eine eher außermusikalische Inspiration. Das kann ein Konstrukt sein, etwa ein Gebäude in Zeit und Dramaturgie, also im musikalischen Verlauf, oder eine bestimmte Form, die ich extrem spannend finde, die nicht ganz so gewöhnlich ist, die ein musikalisches Problem aufwirft oder eine musikalische Frage stellt. Oft habe ich auch während des Komponierens Assoziationen und so entstehen meine Titel. Der ganze Kompositionsprozess mit Ideenfindung und Inspiration dauert bei mir relativ lang und ich beschäftige mich oft schon Monate mit den Stücken, bis ich sie dann doch in kurzer Zeit auskomponiere. So entstehen Gedanken und Titel. „Pendulum“ ist natürlich ziemlich eindeutig, zumindest für mich: die Pendelbewegung als Ausgangsmaterial.
In mir erzeugt der Begriff ein organisches Bild von einem ganz runden Raum, den ein Pendel ausfüllt.
Judit Varga: Nun, durch mein Werk zieht sich schon seit Jahren so ein roter Faden, dass ich sehr gern kinetische Energien in Musikstücken abbilden möchte. Mal gelingt es besser, mal weniger, oft sind sie sehr klar zu hören, oft aber auch gar nicht. Aber dann dienten sie zur Inspiration. In „Pendulum“ verbergen sich auch ein musikalisches Palindrom und verschiedene andere Konstrukte.
Ist es deswegen zu dem Begriff „kinetische Musik“ gekommen? Siehe „Happy Birthday, Major Ludwig“, dein neues Orchesterstück mit dem Untertitel „Kinetic Music“?
Judit Varga: Die Uraufführung dieses Stückes ist im Juni in der Elbphilharmonie. Wie alle Komponistinnen und Komponisten schreiben wir heuer ein Beethoven-Stück, bekommen Aufträge dafür. Ich habe zwar auch schon früher Stücke geschrieben, in denen ich Beethoven zitiert oder stilistische Elemente von ihm bearbeitet habe, aber in diesem Fall wollte ich anders arbeiten. Ein paar seiner Dur-Akkorde habe ich zwar zitiert, aber ich wollte diese Energie, die ich an seiner Musik so mag, aufnehmen. Wo so eine riesige Masse plötzlich in Bewegung gebracht wird und dann rollt sie und ist auch nicht mehr aufzuhalten – dem habe ich versucht in einer extrem komprimierten Weise nachzugehen und da kommt auch der Begriff „kinetische Musik“ ins Spiel. Das Stück ist nur zehn Minuten lang, in denen diese riesige Masse extrem oft in Bewegung gebracht wird, und dann rollt das noch einmal und noch einmal – das sollte zu hören sein.
Muss nicht auch bei der Filmmusik, die du komponierst, beispielsweise bei „Lou Andreas-Salomé“ und „Gipsy Queen“, immer wieder etwas ins Rollen gebracht werden bzw. ins Rollen kommen?
Judit Varga: Es wird manchmal von Filmmusik erwartet, dass sie stumme Filmszenen ins Rollen bringt, die ohne darunter gelegte Musik als langsam, langweilig und ohne Tempo empfunden werden würden. Diese Qualität ist oft notwendig für Filmmusik. Und ich finde es total spannend, dass unterschiedliche Musik zu einer Szene ganz unterschiedliche Dynamik erzeugen kann, nicht nur Stimmungen. Selbst Umdeutungen sind mit Filmmusik möglich, Gefühle sind ja selten eindeutig. Oder aber sie schafft es sogar, diese Diskrepanz zu halten. Das ist aber nur die eine Seite. Dass Filmmusik für die Geschwindigkeit, das Tempo eines Films mitverantwortlich ist, ist die andere.
„Qualität ist vom Stil unabhängig.“
Wie würdest du den Unterschied zwischen dem Komponieren für Film und Bühne und für Ensembles beschreiben?
Judit Varga: Grundsätzlich sind das ganz unterschiedliche Dinge. Wie man arbeitet und was dabei herauskommt, unterscheidet sich sehr vom Komponieren für Instrumentalstücke. Ein Kernpunkt ist dabei das Thema Freiheit, wobei natürlich auch dieser nur relativ zu verstehen ist: zeitliche Begrenzung oder Besetzung ist ja bei Auftragswerken auch oft vorgegeben, aber die Dramaturgie, der zeitliche Verlauf, Stimmungen, Stil, Material sind alles meine Entscheidungen, die ich bei Filmmusik und angewandter Musik oft nicht habe. Das ist auch eine Grundlage meines pädagogischen Ansatzes, dass das Komponieren für die Bühne, also das Komponieren zeitgenössischer Instrumentalstücke, und die angewandte Komposition zwar unterschiedliche Arbeitsstrategien und handwerkliche Fähigkeiten erfordern, jedoch das eine dem anderen nicht übergeordnet werden kann. Die kompositorische Arbeit im angewandten Bereich ist genauso wertvoll und verlangt hohe handwerkliche Fähigkeiten von der Komponistin bzw. dem Komponisten. Und was das Ergebnis betrifft: Qualität ist vom Stil unabhängig. In jedem Genre kann man schlecht oder gut komponieren.
Wird die Besetzung bei Filmmusik oft vorgeschrieben? Wird dort oft zum Beispiel Klavier verlangt?
Judit Varga: Manchmal. Man bekommt die Filme ja schon vorgeschnitten. Diese Arbeit basiert auf Musik und das hat praktische Gründe: Ohne Musik schneidet man tempolos und oft viel zu schnell, weil ohne Musik die Szenen diese Länge nicht wirklich aushalten oder ertragen. Und wenn diese darunterliegende Layoutmusik ein Klavier beinhaltet und sich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schon darin verliebt haben, kommt oft die Anweisung: „Bitte mit Klavier!“
Dabei muss man auf den Punkt komponieren.
Judit Varga: Ja. Es gibt schon andere Genres oder auch Medien, wie zum Beispiel Animation, wo das nicht so oder sogar ganz umgekehrt ist. Aber vor allem bei großen Filmproduktionen kann man das Bild nicht mehr ändern. Ich musste lernen, dass meine Musik dort nicht so laufen darf, wie sie gern möchte. Ganz entgegen dem Grundsatz aus dem Kompositionsstudium, wo man immer angehalten wird, aus dem musikalischen Material viel zu lernen und die Musik sich selbst formen zu lassen. Diese Kräfte muss man in der angewandten Musik bändigen. Anfangs habe ich auch gedacht, dass es nicht geht, und war so verzweifelt … aber es geht. Das sind handwerkliche Fähigkeiten, die man mit viel Arbeit erlernen kann.
„Was man gern macht, das macht man viel. Und was man viel macht, das wird aus einem.“
Ist das eine zwangsläufige Entwicklung: von der Pianistin und Kammermusikerin zur Komponistin?
Judit Varga: Nicht unbedingt. Ich habe nur die Erfahrung gemacht, dass Kinder, wirklich kleine Kinder, fast alle noch aus einem ganz natürlichen Antrieb heraus improvisieren – also komponieren – und erst später viele damit aufhören. Ich habe aber nicht aufgehört, auch wenn es für mich als Teenager eher eine nebensächliche Sache war und ich unbedingt Pianistin werden wollte. Wahrscheinlich, weil ich dort mehr Vorbilder gesehen habe. Offiziellen Kompositionsunterricht bekommt man auch erst viel später. Als Kind war es insofern gar nicht möglich, komponieren zu lernen. Mein Werdegang hat sicher etwas mit Glück und mit Veranlagung zu tun. Ich musste feststellen, dass beide Arbeiten extrem zeitaufwendig und einsam sind – beim Komponieren macht mir diese Einsamkeit aber nichts aus, beim achtstündigen Klavierüben schon. Es stellt sich da auch die Frage, ob man bereit ist, das Leben einer erfolgreichen Konzertpianistin zu führen, die so gut wie nie zu Hause ist. Aber so etwas weiß man doch zu Beginn seiner Ausbildung nicht, es kristallisiert sich erst im Laufe der Zeit heraus, auf was für einen Beruf man sich da eigentlich eingelassen hat. Ich hatte ein riesiges Glück hierbei, dass ich Pianistin, Komponistin und Lehrerin, also gleich drei, mittlerweile schon vier Jobs ausüben kann. Was man gern macht, das macht man viel. Und was man viel macht, das wird aus einem.
Der vierte Job ist die Professur?
Judit Varga: Ja, gerade ist mein erstes Semester auf der mdw als Professorin für Medienkomposition und Komposition/Instrumentalkomposition vergangen. Hier liegt im Unterschied zum herkömmlichen Kompositionsstudium der Schwerpunkt auf angewandter Komposition, also auf Film, Theater, Hörspiel, Animation und anderen Medien. Meiner Meinung nach steht dieses Fach für Diversität. Ich möchte, dass meine Studierenden sich in vielen, vielen Bereichen und Genres auskennen und sich weniger auf einen Strang spezialisieren wie bei der Instrumentalkomposition. Das Fach soll offen gehalten sein und beispielsweise auch Video-Gaming oder das Arbeiten mit VR ermöglichen. Auch ein Blick nach außen ist wichtig: Unsere Studierenden sollen bereits während des Studiums die Möglichkeit haben, mit Partnerinnen und Partnern außerhalb der mdw zusammenzuarbeiten und sich in „echten“ Produktionen auszuprobieren. Aktuell haben wir zum Beispiel gerade die musikalische Untermalung eines ganz besonderen Destinations-Videos für WienTourismus mit meinen Studierenden produziert und einen großen musikalischen Flashmob vorbereitet, wozu ich natürlich noch nichts Konkretes sagen darf, denn es soll ja eine Überraschung werden!
Aktuell gab es auch im Januar in Budapest die Weltpremiere von „Anamophoses02“, der erste Teil „Anamorphoses01“ wurde 2019 uraufgeführt.
Judit Varga: Das entstand in Koproduktion mit zwei Festivals und wurde von der Ernst von Siemens Musikstiftung gefördert. Das erste Festival, Berliner Heroines of Sound, zu dem nur Komponistinnen eingeladen werden, wurde mit meinen „Anamorphoses01“ eröffnet, und das zweite Festival war Transparent Sound in Budapest in diesem Jahr, wo beim Eröffnungskonzert die Uraufführung von „Anamorphoses02“ stattgefunden hat. Und beim Festivalabschlusskonzert war die ungarische Erstaufführung von „Anamorphoses01“ zu hören. Diese beiden Festivals haben miteinander kooperiert und mich als Verbindungsglied mit jeweils einem Eröffnungsstück beauftragt.
Also gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Stücken?
Judit Varga: Genau, der zeitliche Ablauf ist gleich und die Besetzung ist sehr ähnlich, beide Stücke sind gleich lang und das eine Stück ist genauso gegliedert wie das andere. Ich habe mir ein abstraktes Konstrukt ausgedacht, damit ich nicht nur zwei beliebige Stücke komponiere. Ich wollte die zwei Festivals in Verbindung bringen und eine Brücke bauen, die man hoffentlich erkennt.
Das ist ja die große Chance bei der Konstruktion und Neufindung: Möglichkeiten, auf anderem Wege Verbindung oder Vermittlung zu schaffen. Es stellt sich die Frage, wo du dich einordnest bzw. ob du überhaupt eine Notwendigkeit siehst, dein Schaffen einzuordnen, wenn du beauftragt wirst?
Judit Varga: Ich glaube schon, dass ein Auftrag mit einer gewissen Erwartungshaltung verbunden ist, wenn Ensembles beispielsweise auf bestimmte Richtungen spezialisiert sind oder der Aufführungsrahmen an bestimmte Bedingungen geknüpft ist. Und sicher könnte ich auch enttäuschen, wenn ich plötzlich etwas ganz anderes komponieren würde. Aber trotzdem versuche ich es zu vermeiden, solche Erwartungshaltungen fraglos zu bedienen, dafür ist mir das Komponieren zu schade. Ich schaue also vor dem Hintergrund des Auftrags trotzdem immer, dass ich authentisch bleibe.
„Soll ich Brücken verbrennen oder darf ich dieses alte Wissen und Handwerk […] gar nicht mehr verwenden?“
Was glaubst du, wie es zu deiner Handschrift kommt?
Judit Varga: Ich bin zwar keine postmoderne Komponistin, die in alten Stilen komponiert, aber natürlich trägt meine Arbeit den Abdruck meiner sehr stark klassischen Ausbildung. Wenn man das Konzertfach Klavier studiert, bedeutet das, dass man 25 Jahre mit Klassikern verbracht hat – ich kenne die Musikliteratur wahrscheinlich viel besser von einer klassischen Seite als Komponistinnen und Komponisten, die kein Instrument als Hauptfach studiert haben. Hier spielt sicher auch meine Ausbildung in Ungarn noch eine prägende Rolle, die sehr viel traditionsbewusster als die Ausbildung etwa in Wien ist. Das hat sicher auch mein Können beeinflusst, denn erstens komponiert man nur das, was man kann, und zweitens ist Tradition so eine Sache. Es ist eine extreme Stärke, wenn man die alten Stile gut kennt, aber was mache ich dann damit? Soll ich Brücken verbrennen oder darf ich dieses alte Wissen und Handwerk, das mich doch deutlich von vielen meiner Kolleginnen und Kollegen unterscheidet, gar nicht mehr verwenden? Oder soll ich versuchen, diesen Schatz in einen neuen Kontext zu integrieren, in dem ich mich eher zu Hause fühle? Tradition ist eine großartige Sache, aber ich bin sicher, ich könnte viel freier agieren, hätte ich nicht 25 Jahre Klavier studiert und so viele Stilübungen komponiert.
Du schiebst das Klavier aus dem Komponieren also raus?
Judit Varga: Ja, das ist eine Befreiung. Das Klavier wirkte wie ein Knebel und dirigierte meine Finger zu einem Schreiben, wo ich mit meinem Kopf nicht sein wollte. So habe ich das Klavier auch aus meinem Studio verbannt, es steht jetzt in der Ecke. Es kamen dann viele Jahre, in denen ich nur in meinem Kopf mit dem inneren Gehör komponiert habe, und stehe jetzt vielleicht auf einer dritten Stufe, wo ich versuche, moderne Technologien, auch moderne Medien und Software in den Kompositionsprozess einzubinden. Die Tools, die man verwendet, beeinflussen maßgeblich das Ergebnis. Und nun mische ich alle drei, je nachdem, was ich gerade brauche oder was mich gerade inspiriert. Und als angewandte Komponistin bin ich ja tagtäglich in der Begegnung mit modernen Stilen und zum Beispiel auch U-Musik. Und das alles hinterlässt natürlich Abdrücke im Hinterkopf. Da herrscht ein riesiger Eklektizismus in meinem Kopf.
„Wenn Konzerte also nicht divers programmiert sind, erfüllen sie ihre Aufgabe nicht.“
Du wurdest nicht sehr häufig von Festivals nur für Komponistinnen angefragt.
Judit Varga: Richtig. Es gab bisher erst besagtes Festival letzten Sommer und ein finnisches Trio, das jetzt ein Stück von mir in einem Rahmen nur für Frauen gespielt hat. Mich reizt diese Isolierung der Geschlechter aber auch nicht besonders und ich mag auch keine Konzerte bloß mit männlichen Komponisten. Ich finde, die Gesellschaft ist divers und keine Monokultur. Für mich hat Kunst die Verpflichtung, ihre Umgebung oder die Gesellschaft widerzuspiegeln. Wenn Konzerte also nicht divers programmiert sind, erfüllen sie ihre Aufgabe nicht. Ich mag gemischte Konzerte extrem gern, und zwar gemischt in jedem Sinn: Geschlecht/Gender, Alter, Stil, Genre etc. Und da ich auch oft Konzerte kuratiere, achte ich sehr darauf, dass da wirkliche Vielfalt herrscht. Sicher ist die Quote ein brauchbares Tool zur Bewusstwerdung für so manch geistige Beschränkung. Mein Statement hierzu ist jedoch ganz einfach: Qualität. Qualität als Kriterium für Entscheidungen.
Was ist denn gute Musik für dich?
Judit Varga: Oh, das ist so subjektiv. Natürlich versuche ich, so objektiv wie möglich zu sein, wenn ich in die Position komme, Musik bzw. Musikerinnen und Musiker zu bewerten. Aber es ist nicht machbar. Es bin immer nur ich, die da bewertet, und ich kann die ganze Welt nur durch meine eigene subjektive Brille betrachten. Natürlich versuche ich, diese Brille ein bisschen zu dehnen, wenn ich kuratiere oder Leute beurteile. Ein gewisses Ausmaß an Handwerk kann man schon objektiv feststellen, aber das ist nicht unbedingt die Garantie für gute Musik. Es braucht etwas in der Musik oder im Spiel, was dich fesselt, etwas ganz Neues. Ich schätze aber auch gutes Handwerk und Individualität. Man muss sich zudem im Klaren darüber sein, dass etwas völlig Fremdes, etwas außerhalb der eigenen kulturellen Blase Entstammendes nicht einschätzbar ist, man kann dann eben nicht feststellen, wie gut etwas ist. Man braucht immer eine Referenz, um solche Einschätzungen überhaupt vornehmen zu können.
Die aktuellen COVID-19-Maßnahmen haben gravierende Auswirkungen auf den Kunst- und Kulturbetrieb. Wie beeinflussen sie dein Leben?
Judit Varga: Der Unterricht an der mdw wird derzeit online durchgeführt. Das ist zwar in diesem Ausmaß für alle eine große Umstellung, jedoch für mich und meine Studenten nichts gänzlich Neues: Ich habe den Studierenden in den letzten Jahren immer wieder ergänzend zum Normalbetrieb auch Online-Betreuung angeboten, um deren Vorteile, wie zum Beispiel die damit verbundene Flexibilität, nützen zu können. Als Komponistin geht das Leben fast wie gewohnt weiter. Aktuelle Aufführungstermine werden zwar verschoben oder abgesagt, was natürlich sehr schade ist. Meine aktuellen Kompositionsaufträge sind aber weiterhin intakt. Ich kann mich also in mein Arbeitszimmer zurückziehen und komponieren. Ganz ehrlich? Ich würde dieser Tage ohne diese COVID-19-Maßnahmen auch nichts anderes machen.
Die Realität für viele Musiker und Musikerinnen sieht aber aktuell oft anders aus: Die ausgefallenen Veranstaltungen bedeuten für viele bereits jetzt große finanzielle Einbußen. Ohne staatliche und private Unterstützung werden viele selbstständige Künstlerinnen und Künstler und Institutionen die Krisenzeit finanziell nicht überleben.
Autorinnen und Autoren wie zum Beispiel Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Drehbuchautorinnen und Drehbuchautoren, Komponistinnen und Komponisten werden die Auswirkungen spätestens in näherer Zukunft spüren, aktuell wird einiges vorproduziert. Dies führt später zu einem Rückstau und somit dann zu ausbleibenden Aufträgen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Nächste Termine:
Freitag, 24. April 2020: „Mosar“ (EA) und „Tiny Little People, Big Big Feelings“ (UA), Bridges, Konzerthaus Wien (VERSCHOBEN)
Freitag, 1. Mai 2020: „Borowski und der Fluch der weißen Möwe“ – Kinopremiere (ABGESAGT)
Sonntag, 10. Mai 2020: „Tatort“: „Borowski und der Fluch der weißen Möwe“, NDR (TV-Premiere)
Freitag, 19. Juni 2020: „Happy Birthday, Major Ludwig!“ – Elbphilharmonie, Hamburg
Freitag, 5. März 2021: „Around a Roundabout“, UA mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien, Wiener Konzerthaus
Sonntag, 7. März bis Samstag, 13. März 2021: Spanien-Tournee des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien
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Judit Varga