„DA ENTSTEHT FÜR MICH ETWAS UMHÜLLENDES, HALTENDES UND LOSLÖSENDES GLEICHZEITIG.“ – PETER JAKOBER IM MICA-INTERVIEW

Einen Übergang von Klanginstallation zu Komposition nennt PETER JAKOBER sein Auftragswerk „Saitenraum II“ für das Festival WIEN MODERN. Es eröffnet die 36. Ausgabe mit dem Motto „GO – Bewegung im Raum“, und dafür werden sogar die Saaltüren des Wiener Konzerthauses geöffnet. 60 Streicher:innen der Wiener Symphoniker befinden sich auf drei Räume verteilt und werden dabei auf Millisekunden genau über 60 verschiedene Clicktracks – über Ohrhörer zugespielt – koordiniert. Der maschinellen Exaktheit wird das Phänomen der steten, auskomponierten Nicht-Gleichzeitigkeit der Musizierenden entgegengesetzt. So wie das Sujetfoto von WIEN MODERN aus dem Jahr 1965 einen Astronauten auf einem Trainingsgelände der NASA zeigt, der das Gehen in der Schwerelosigkeit übt, so kann das heurige Eröffnungskonzert von PETER JAKOBER womöglich das Schweben in der Pulslosigkeit des Hörens begehbar machen…

Lieber Peter, ich habe mir erlaubt, unseren Fragen Zitate des Architekten Peter Zumthor voranzustellen. Hier zur Einstimmung ein paar Fragen zur Schönheit: „Ist Schönheit eine konkrete Eigenschaft einer Sache, eines Objektes, beschreibbar und benennbar, oder eher ein Geisteszustand, eine Empfindung des Menschen? Ist Schönheit ein besonderes Gefühl, ausgelöst durch eine besondere Form, Gestalt oder Gestaltung, die wir wahrnehmen? Hat Schönheit eine Form?“

Peter Zumthor wird heuer bei Wien Modern zu Gast sein und eine Woche im Rahmen der Musikverein Perspektiven mitkuratieren. „Das menschliche Vermögen, Melodien, Harmonien und Rhythmen zu erfinden, versetzt mich in Erstaunen“, so Peter Zumthor. Nun aber zu dir, was versetzt dich in Erstaunen?

Peter Jakober: Persönlich gesprochen, mein Leben bestand in letzter Zeit vor allem aus dem Musikschreiben und dem Spielen und Gemeinsam-Sein mit den Kindern am Abend. Das Stück „Saitenraum II“ ist ja auch meinen beiden Kindern gewidmet. Da entdeckt man dann auch seine Erfahrungen neu. Man ist nochmal konfrontiert mit seinen Vorstellungen, seinen Prägungen. Man ist anhand seiner Kinder immer wieder auch mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert. Und das erstaunt – und überrascht auch sehr.

Das Performance-Projekt „ORACLE and SACRIFICE in the woods“ im letzten Jahr im Wiener Prater von Claudia Bosse, bei dem ich die Musik für den Chor geschrieben habe, hat mich auch in letzter Zeit sehr erstaunt. In der Mitte der zweiteiligen Performance, nach dem Part mit dem von ihr eingesprochenen Audioguide, habe ich auf der Wiese sitzend die Stille sehr magisch empfunden. Diesen Moment hat Claudia sehr lange wirken lassen, bis dann der zweite Teil der Veranstaltung losging. Auch die Gegenüberstellung von Natur und Inszenierung hat mich sehr fasziniert und berührt.

„MAN UNTERLIEGT DEM REIZ DER BEHAUPTUNG.“

„In einer Gesellschaft, die das Unwesentliche zelebriert, kann Architektur in ihrem Bereich Widerstand leisten, dem Verschleiß von Formen und Bedeutungen entgegenwirken und ihre eigene Sprache sprechen“, befindet Peter Zumthor in einem Vortrag. Inwiefern, würdest du sagen, leisten deine Stücke Widerstand? Was ist das Unwesentliche?

Peter Jakober: Ich finde generell, wir leben in einer Zeit, in der immer wahnsinnig schnell behauptet wird. Und das betrifft auch mich selbst, man unterliegt dem Reiz der Behauptung. Ich gebe dir ein Beispiel, wenn ich sage: „Ich bin der Komponist, der mit Tempopolyphonie arbeitet. Ich arbeite mit unterschiedlichen Tempi.“ Ich stelle eine Behauptung auf und schaffe Identifikation. Aber ich benutze auch viele andere Kompositionswerkzeuge. Sich dann von einer Behauptung wieder loszulösen, sie weiter zu denken, das ist oft nicht leicht. Vielleicht sind diese Behauptungen oft auch Unwesentlich, auch wenn sie anders wirken.

Ein politischer Aspekt in meiner Musik ist das Scheitern-Dürfen der Musiker:innen am Exakt-Maschinellen. Die menschliche Umsetzung der maschinellen Klicks schafft den ästhetischen Reiz: Das teilweise Scheitern – oder sagen wir das Nicht-exakt-Sein – als zentraler Parameter.

Mir fällt in diesem Zusammenhang auch Alvins Luciers „Hit“ „I am sitting in a room“ ein.
Ein von ihm eingesprochener Text wird ständig wiederaufgenommen und zugespielt bis die Raumakustik diesen Text zu einer Klangfläche verzerrt. Und Lucier hat gestottert, als er den vermutlich etwa eineinhalbminütigen Text eingesprochen hat. Bei einer Stelle stärker. Und genau diese Stelle schafft beim Verzerren des Textes durch die Raumakustik immer wieder einen Orientierungspunkt. Genau an dieser Stelle weiß ich durch den „Rhythmus des Stotterns“ auch bei einem fast nur mehr als Klangteppich existierenden Sound, wo im Text ich bin. Dadurch wirkt der Prozess für mich noch stärker. So wird eine vermeintliche Schwäche zu einer Qualität eines Stückes. Ich hatte ja selber einmal ein Problem mit dem Stottern, als ich ein Kind war. Deshalb berührt mich dieses Stück neben der großartigen Idee und dem allgemeinen Klangergebnis auch sehr. Dass eine vermeintliche „Schwäche“ zu einem zentralen Bestandteil des Machens von Kunst, von Musik wird, ist großartig.

„ICH VERSUCHE RÄUME ZU SCHAFFEN, IN DENEN SICH DIE REZIPIENT:INNEN SELBST ERFAHREN UND ERHÖREN KÖNNEN.“

Und letztes Jahr habe ich eine Messe [Anm.: aufgeführt in der Konzilsgedächtniskirche in Lainz-Speising, Miteinstudiert von Jury Everhartz] geschrieben. Im Gloria starteten alle Sänger:innen des Chors zum gleichen Zeitpunkt einen MP3-Player. Sie hörten in den Kopfhörern eine sich langsam verändernde Melodie, die sie mitsangen. Jede dieser Melodien in einem anderen Tempo, es entstand ein großer tempopolyphoner Klang. Der Klang der vielen Stimmen in unterschiedlichen Tempi, der überlagerte Klang von unterschiedlich ausgebildeten Stimmen war für mich ein intensives Erlebnis.

Ich versuche Räume zu erschaffen, in denen sich die Rezipient:innen selbst erfahren und erhören können. Ich weiß nicht, ob ich das als Widerständigkeit bezeichnen würde. Ich würde das eher als ein Möglichkeiten-Geben verstehen. In meiner Arbeit richte ich mich oft nicht gegen etwas, sondern ich versuche eher (Klang-)Räume zu erschaffen, Möglichkeiten und vielleicht Fragen zu stellen.

Eine Analogie fällt mir noch zur Tempopolyphonie, zu den Tempo-Überlagerungen ein: Wenn man rausgeht und anderen Menschen begegnet, nimmt man unterschiedliche, doch annähernd ähnliche Schritt-Tempi wahr. Man hört dauernd diese räumlichen Verläufe. Es gibt keinen Grundpuls – denn ein gemeinsamer Grundpuls würde ja militärisches Marschieren bedeuten.

„Die Dinge sind darin zu sich gekommen, sind bei sich. Weil sie dann das sind, was sie sein wollen.“ Dieses Zitat von Peter Zumthor erinnert mich auch an unsere erste Begegnung, einem Interview gemeinsam mit Paul Wenninger für das Musikjournal skug zu der Performance „Dingen“.

Peter Jakober: Mit Paul Wenninger habe ich oft zusammengearbeitet. Zum Thema 100 Jahre 1. Weltkrieg gibt es einen Animationsfilm und eine Performance mit dem Titel „Uncanny valley“, zu der ich die Musik gemacht habe. Wir haben dabei den Zugang: Wir beobachten den Beobachter. Wie wirkt die Geschichte auf einen Menschen heute, weniger die Gräueltaten per se. Ich finde das einen spannenden Zugang: Fragen zu stellen und zu beobachten. Bei einer Aufführung von „Seitenraum I“ ist zum Beispiel etwas Interessantes passiert. Man kann ja auch darauf achten, wie sich die Leute durch das Stück bewegen. Plötzlich begann eine Person, schneller zu gehen. Auf einmal laufen ihm fünf andere Besucher:innen hinterher, und auch andere beginnen schneller zu gehen – das Erleben des Menschen in der Herde.

„Der Körper der Architektur, ganz am Anfang, ist Konstruktion, Anatomie, Logik des Konstruierens“, konstatiert Peter Zumthor. Wie sieht es mit deiner Logik des Konstruierens beim Komponieren aus?

Peter Jakober: Ein Vorstellungs-Bild bezüglich der vielen unterschiedlichen Tempi in meinen Kompositionen, das ich sehr gerne verwende: Nehmen wir eine schöne Vase, die ich auf den Boden werfe. Sie zerbricht mir in hundert Stücke. Ich reiße eigentlich auch die Gleichzeitigkeit und das Miteinander eines Stückes auseinander, und klebe dann die Scherben kompositorisch wieder zusammen. Es kommt ein zusammengeflicktes Tutti-Stück heraus, mit einer nicht mehr exakten „Was-es-einmal-war“-Form, die trotzdem eine fast unheimliche Schönheit entwickelt. Auch beim Schreiben denke ich an dieses Zerreißen und Zusammenbauen.

„ABER WIE FINDEN ANDERE IHREN WEG DURCH DAS STÜCK?“

Das führt dann aber auch wieder zu rein technischen Problemen: Bei der Durchführung so eines Stückes sind es etwa die unterschiedlichen Abspielgeschwindigkeiten von MP3-Playern. Starten wir alle MP3-Player exakt gleichzeitig, bist du zum Beispiel in zehn Minuten schon mehrere Sekunden auseinander. Ein Tempopuls wäre dadurch dann weg. Deshalb baut Winfried Ritsch vom Atelier Algoryhmics für „Saitenraum II“ kleine, zentral-gesteuerte Module, die wie MP3-Player aussehen. Sie sind synchronisiert, damit nach den zehn Minuten Klangentwicklung am Anfang des Stückes die Pulse im Tutti starten. Ich arbeite das erste Mal mit dem tollen Bastler, Klangtüftler und Komponisten Winfried Ritsch. Er hat zum Beispiel auch den Klangraum für das Stück „Fama“ von Beat Furrer gemacht, die Automatenklaviere für „Maschinenhalle#1“ von Bernhard Lang und baut vielfältige automatische Instrumente.

Peter Zumthor manifestiert folgendes: „Wir müssen versuchen, die Anschauung der Landschaft in uns groß werden zu lassen, wenn wir einen Ort der Konzentration in ihr schaffen wollen, der ein neues Oben und Unten, ein neues Rechts und Links, ein neues Vorne und Hinten herstellt. Neue Wahrzeichen.“

Peter Jakober: Die innere Landschaft des Stücks – das wäre eine Frage für die Zuhörer:innen nach dem Konzert von „Saitenraum II“. Ich kenne ja meine Stücke und erwische mich bei den Aufführungen oft dabei, dass ich meist zu den Musiker:innen gehe, die gerade spielen. Aber wie finden andere ihren Weg durch das Stück? Da freue ich mich auf die Rückmeldungen.

„Ich finde, es ist wunderschön, ein Gebäude zu bauen und dieses Gebäude aus der Stille heraus zu denken. Das heißt, es ruhig zu machen, das braucht heute ziemlich viel, weil unsere Welt so lärmig ist“, befindet Peter Zumthor. Entstehen deine Stücke eigentlich aus der Stille heraus?

Peter Jakober: Wenn ich mit dem Fahrrad zu meinem Studio in der Zacherlfabrik fahre, höre ich oft mit dem Kopfhörer Musik. Ich brauche diese Musik, sie gibt mir Kraft. Ich komme also sozusagen aus der Musik und finde dann in meine Musik. Und beim Komponieren taste ich mich generell von einem Stück zum nächsten. Meist entsteht bei der Komposition eines Stückes in mir eine Frage, die ich dann in einem weiteren Stück bearbeite oder ausbaue. Obwohl das Bild, aus der Stille heraus zu arbeiten, wahnsinnig schön ist, arbeite ich irgendwie aus der Musik heraus. Was auch irgendwie absurd tautologisch klingt.

„Ich achte auf die sorgfältige Inszenierung der Spannung zwischen Innen und Aussen, Öffentlichkeit und Intimität, achte auf Schwellen, Übergänge und Grenzen“, bekennt Peter Zumthor. Worauf achtest du bei dieser Inszenierung? Worauf sollten die Besucher:innen achten?

Peter Jakober: Jedes Instrument hat einen anderen Einschwing-Vorgang, der auch die Klanglichkeit des Instruments festlegt. Wenn 60 Instrumente ein Tutti-Tempo spielen, ist es beim genauen Hinein-Zoomen ausgefranst. Dieses Ausfransen versuche ich durch meine Kompositionsweise zu emanzipieren. Diese Tempopolyphonien verlangen dann nach räumlichen Lösungen. In „Saitenraum II“ wird man das nach einer langen, sich entwickelnden Klangfläche erleben. Plötzlich beginnt in jedem der drei Räume eine Tutti-Pulsation, ein harmonischer Verlauf, der ansteigt und wieder liegen bleibt. Immer abwechselnd in den verschiedenen Räumen. Der Grundpuls zerfällt dabei in immer mehr sich überlagernden Tempi. Der Anstieg, das Liegen des Klanges, findet aber immer wieder zur gleichen Zeit statt. Also bei gleichbleibender Form wird dir nach und nach mehr der Boden, der Grundpuls entzogen. Da entsteht für mich etwas Umhüllendes, Haltendes und Loslösendes zugleich. Durch das tempopolyphone Geflecht entstehen immer wieder andere zeitliche Zwischenräume zwischen den einzelnen Pulsationen und den verschiedenen Tempi. Die kann man durch die Bewegung im Raum immer wieder neu erfahren und erhören. Auf das könnte man vielleicht achten, oder man lässt sich einfach auf diesen, für mich magischen Gesamtklang der Tempoüberlagerung ein.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Michael Franz Woels


Termin:
Eröffnungskonzert Wien Modern
Peter Jakober: „Saitenraum II“
Dienstag, 31. Oktober 2023, 19:30 Uhr
Wiener Konzerthaus

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