Im Rahmen des Projekts „Crossways in Contemporary Music“ begab sich Michael Franz Woels auf die Suche nach österreichischen bzw. in Österreich lebenden Komponistinnen und Komponisten, die einen individuellen Zugang zur Natur in ihrer Musik herstellen.
Während Part 1 sich mit Neuer Musik und Natur im Zusammenhang mit Bioakustik beschäftigt, ist die Ökomusikologie in Part 2 im Hauptfokus. Eine Einleitung führt in das Thema ein, bevor einzelne Komponistinnen und Komponisten und ihre Arbeiten zum Thema Ökomusikologie vorgestellt werden. Bisher erschienen: Angelica Castello, Tanja Brüggemann, Katharina Roth, René Staar und Katharina Klement – alle haben sie unterschiedliche Bezüge zum Element Wasser. Susanna Ridler hingegen beschäftigt sich in ihren Kompositionen unter anderem mit dem Klang von wachsenden Pflanzen während Gabriele Proy sich auf Verlust, Wandel und Kristallformationen konzentriert.
Neben der Bioakustik ein Feld, das im 21. Jahrhundert aus ökologischen und umweltethischen Gründen immer stärker an Bedeutung gewinnt, ist die Ökomusikologie. Als Sammelbegriff für viele Forschungsbereiche, die von ethnomusikologischen Feldforschungen bis zu klimarelevanten Aspekten der Nachhaltigkeit von Musikproduktionen und -performances reichen, beruft sie sich auch auf die bewusstseinsschaffende Arbeit des kanadischen Komponisten, Klangforschers und Autors Raymond Murray Schafer, der erst kürzlich verstorben ist. In den 1970er Jahren entwickelte dieser das Konzept der Soundscape-Ecologies, rief 1971 das World Soundscape Project ins Leben – heute weitergeführt vom World Forum for Acoustic Ecology – und entwickelte hörpädagogische Konzepte wie das Ear Cleaning: „In der Kunst versuchen wir, die Menschen dazu zu bringen, ihre Sinne zu benutzen. Aufmerksam zuzuhören, die Dinge genau zu betrachten – das bereichert unser Leben.“
„Aufmerksam zuzuhören, die Dinge genau zu betrachten – das bereichert unser Leben.“
Nora Bammer, Ethnomusikologin der Universität Wien, hat natürlich auch Bücher von Raymond Murray Schafer, wie das Grundlagenwerk „Klang und Krach. Eine Kulturgeschichte des Hörens“ aus den 1980er Jahren, studiert und kann es bei der Erforschung des auditiven Wissens der Shuar anwenden: „Für die Indigene Nationalität der Shuar im südöstlichen Amazonasbecken Ecuadors gibt es – wie für viele andere Indigene Gesellschaften – keine Unterscheidung zwischen Natur, Kultur und Musik. Es gibt auch keine direkte Übersetzung des Begriffs Musik. Stattdessen wird die Umgebung mit all ihren sichtbaren und unsichtbaren Wesenheiten, also Menschen, Tieren, Geistern und Gottheiten als eine Einheit verstanden.“ In ihrer Forschungsarbeit über Konzepte und Kontexte des Gesangs bei den Shuar beschäftigt sie sich „unter anderem mit Liedern, die unterhalten, rituelle Momente begleiten oder der Kommunikation mit nicht-sichtbaren Entitäten dienen.“ Die Menschen im Urwald lernen ihre Lieder: „im Traum oder in Visionen von Geistern – oft durch Tiere als Medien –, um sich vor gefährlichen Wesen zu schützen, um die Ernte zu beeinflussen, um kakáram (Lebens-)Kraft zur erlangen oder um die Seelen entfernter oder verstorbener Menschen zu beschwören.“
Was hat das alles nun mit Neuer Musik zu tun?
Der Vorarlberger Komponist Wolfram Schurig reicht in seinem Werkkommentar einen verbindenden Ast: „kokoi nennen die Emberá, eine Indigene Stammesgemeinschaft eines schwer zugänglichen Gebietes in der kolumbianischen Chocó-Region, jenen knallgelben und hochgiftigen Blattsteigerfrosch, mit dem sie traditionell ihre Blasrohrpfeile vergiften. Diese Nutzung ist heute nicht allein aus praktischen Gründen nur noch wenig verbreitet: die kokoi sind längst genauso in ihrer Existenz gefährdet wie die Emberá selbst. Letztere sehen sich nunmehr als Hüter ihres lebenden Schatzes und versuchen, soweit als irgend möglich, ihren gemeinsamen Lebensraum vor den üblichen zivilisatorischen Verwüstungen zu schützen. Aus einer überlebenswichtigen Ressource ist ein Symbol für die Verteidigung eines fragilen Ökosystems geworden.“
Die kompositorischen Überlegungen zu dem Stück „kokoi“, das 2020 im Rahmen von Wien Modern uraufgeführt wurde, und einen bedrohten Lebensraum mit seinen spezifischen Formen und Möglichkeiten des Zusammenlebens thematisiert, formuliert Wolfram Schurig so: „Zunächst einmal bildet der Ruf des Phyllobates terribilis – so die wissenschaftliche Bezeichnung für den kokoi – in vielfältigen Abwandlungen und Abstrahierungen den musikalischen Ausgangspunkt vor allem für die melodischen Entwicklungen des Oboenparts. Die Solostimme fungiert hierbei gewissermaßen als Identifikationsfigur. Das Stück verhält sich wie ein Organismus verschiedener Formen von klanglichen Koexistenzen mit zum Teil sehr unterschiedlichen Eigenschaften: eng verflochten, parallel verlaufend, invasiv, usw.; manche haben das Potenzial zur Transformation, andere stagnieren oder lösen sich auf, sind kurzlebig, weil sie nur auf einem sehr hohen energetischen Level aufrecht erhalten werden können.“
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Für die in Mexio City geborene und mittlerweile in Wien lebende Komponistin Angelica Castello ist das Meer auch ein Symbol für das Unterbewusste. Als Zehnjährige wollte sie unbedingt Meeresbiologin werden, sie erinnert sich noch lebhaft an Sommerausflüge mit ihren Großeltern. In einem Boot mit durchsichtigem Boden fuhren sie durch die Bucht von Acapulco. Sie schildert diese Kindheitserinnerungen aus den 1970er Jahren so: „Der Geruch nach Benzin war irre, der Lärm des Motors unglaublich und sicher ganz schlecht für die Tiere unter Wasser. Aber diese Mischung und das Unterwasser-Schauen, auch von Müll, das war ein so absurd friedliches Bild.“ Noch immer ist ihre Faszination und Begeisterung für das Meer groß.
Ozeanische Klanglandschaften mittels Radiogeräten
Sie findet das Meeresrauschen auch in Alltagsgegenständen, zum Beispiel in Radiogeräten, die sie auf Flohmärkten sammelt: „Muscheln aus dem Urlaub, die man im Wohnzimmer hat, hält man ans Ohr und hört das Meer und ist so mit dem Klang des Meeres verbunden. Das Radio ist sozusagen meine elektronische Muschel.“ So schafft das Arbeiten und Experimentieren mit rauschenden Radiogeräten Klanglandschaften, die ein „ozeanisches Gefühl“, wie es einst der französiche Literat und Musikkritiker Romain Rolland zu Lebzeiten Sigmund Freuds bezeichnete, vermitteln: Das Gefühl, mit allem eins zu sein. Eine der ersten Kompositionen von Angelica Castello, in der das Meer zentral war, war „Musique pour la mer“ im Jahr 2005, entstanden im Rahmen einer Residency in Topolo, Italien.
Sie verwendete dafür eine verstärkte Kontrabass-Paetzold Blockflöte und ein Tonband. Die Paetzold-Blockflöte ist ihr Hauptinstrument, und in ihrer kompositorische Arbeit spielt der Sammelprozess immer eine zentrale Rolle: „Ich brauche Bilder oder Wörter, um Klänge zu verstehen und ihnen eine Funktionalität zu geben.“ Die Paetzold-Blockflöte mit ihrem eckigen Sperrholzkorpus scheint wie geschaffen, um mit dem breiten Klangspektrum und der Tendenz zum Geräuschhaften geheimnisvolle, dunkle Klänge zu erzeugen, die aus Unterwasseraufnahmen, aus dem uns noch immer unbekannten Lebensraum Tiefsee stammen könnten. Am liebsten spielt sie die Paetzold-Flöte elektronisch verstärkt, denn Hall ist ein wichtiges Element, da die Flöte selber keinen Nachhall hat. Was sie damit evoziert sind „Tunnelsounds“, mit denen sie ganz detailiert arbeiten kann.
„Ich brauche Bilder oder Wörter, um Klänge zu verstehen und ihnen eine Funktionalität zu geben.“
Den Topos Ozean und seine unheimlichen Lebewesen als Blaupause für elektroakustische Experimente und Verdichtungen findet man auch auf Arbeiten wie „Bestiario“ (Mosz Records) oder der Kassettenveröffentlichung „Silvertone e il sentimento oceanico“ (Monotype Records), sowie der Komposition „principio sin titulo“ für das Haydn-Klaviertrio.
Um ein Video zu ihrem 2013 auf „Silvertone e il sentimento oceanico“ veröffentlichten Stück „tuba piece“ zu drehen, hat sich die Musikerin Angelica Castello mit der Filmemacherin Meritxell Colell Aparicio zusammengetan. Die transatlantische Filmpoetin Meritxell, die vor kurzem ihren gemeinsam mit Lucia Vassallo gedrehten Film „Transoceanicas“ fertig gestellt hat, setzt die imaginär-maritime Klangkulisse von Castello in Bilder um. Ein Musikvideo als „Ode an das Versickern von Erinnerungen und psychischen Landschaften“.
Sonic Blue
Ein wesentliches Stück, inspiriert vom Sehnsuchtsort Meer ‒ nach Jules Verne „die lebende Unendlichkeit“, für Thomas Mann „das Erlebnis der Ewigkeit“ ‒ stellt das transdisziplinäre Projekt „sonic blue“ aus dem Jahr 2013 dar. In Auftrag gegeben wurde es vom ORF musikprotokoll im steirischen herbst als Teil von „Networking Tomorrow’s Art for An Unknown Future“ des Festivalnetzwerks ECAS/ICAS (European and International Cities of Advanced Sound). Gemeinsam mit der musikprotokoll Co-Kuratorin Susanna Niedermayr begab sich Angelica Castello auf eine Reise zu den Lofoten, einer Inselkette an der norwegischen Nordküste, um die Gründerin der Organisation Ocean Sounds, Heike Vester, bei ihren Monitoring-Ausflügen zu begleiten. Die Biologin und Bioakustikerin widmet sich der Erforschung von Meeressäugetieren und dem Schutz der Meeresumwelt, und hat nach fünfjähriger Sammeltätigkeit ihre besten Hydrophon-Aufnahmen unter dem Namen Ocean Sounds auch als CD mit dem Titel „Marine Mammals and Fish of Lofoten and Vesterålen“ (Grünrekorder Records) veröffentlicht. Diese CD, Feldaufnahmen und Geräusche, die sie auf gemeinsamen Bootsausflügen sammelten, bildeten den bio- und geophonen Rahmen für „Sonic Blue“.
Unter Wasser gibt es einen immensen Hall. Die Laute der Tiere sind so angepasst, dass sie die Topographie des Meeres durch das zurückkommende Echo erkennen können. Echo-Ortungs-Tiere kommunizieren oft im Ultraschall-Bereich. Die Klick-, Quietsch-, Pfeiftöne haben eine Frequenzen bis 100 kHz, normale Aufnahmegeräte für Menschen hören bei 20 kHz auf. Daher arbeitet die Bioakustikerin Heike Vester mit einem Aufnahmegerät, das Frequenzen bis zu 96 kHz aufzeichnet und bis zu 20 Meter ins Meer hinuntergelassen werden kann.
„…über das Meer, über seine Klänge, über Sehnsucht und Leidenschaft…“
Die Hydrophon-Aufnahmen der Kommunikationslaute der Unterwassertiere werden allerdings in regelmässigen Abständen durch das Lärmen der expandierenden Ölindustrie gestört. Auf der Suche nach neuen Öl- und Gasfeldern werden durch Unterwassersprengungen mit Druckluft seismische Schockwellen erzeugt. Die zurückgeworfenen Schwingungen liefern Informationen über Lage, Dichte, Form und Zusammensetzung der Gesteinsschichten, stellen aber auch einen massiven Eingriff in die natürliche Klangwelt der Wasserlebewesen dar. Angelica Castello hatte beim Hören dieses seismischen Unterwasserlärmes eine beunruhigende Assoziation: „Der Klang der Explosionen unter Wasser klingt wie eine bedrohliche Kirchenglocke. Die Todesglocke des Meeres?“
2014 wurde Angelica Castello für ihr klingendes Blau, für „Sonic Blue“, mit dem Outstanding Artist Award Interdisziplinarität des Bundesministeriums für Kunst und Kultur ausgezeichnet. „Sonic Blue“ schichtet und verknüpft die nördlich des Polarkreises von Heike Vester gemachten Unterwasseraufnahmen mit Instrumentalklängen der Subkontrabass-Paetzold-Blockflöte, Zuspielungen, Elektronik und den Sounds von alten Radios. „Sonic Blue“ ist laut Angelica Castello „ein Stück in sieben Kapiteln über das Meer, über seine Klänge, über Sehnsucht und Leidenschaft, darüber, was es uns gib und darüber, was wir ihm geben …
Hoffentlich noch kein Requiem auf das größte zusammenhängende und noch unerforschteste Ökosytem des blauen Planeten Erde.
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Die Unergründlichkeit von ozeanischen Tiefen und horizontalen Schichtungen
Wenn sich der Nebel lichtet, wird die Sicht frei auf die Unergründlichkeit von ozeanischen Tiefen und horizontalen Schichtungen: Die freischaffende Komponistin Tanja Brüggemann beschäftigte sich von 2014 bis 2019 in ihrem AOA Zyklus mit Unterwasserklängen des PALAOA-Perannial Acoustic Observatory of the Antartic Ocean, einem auf Schelfeis erbautem Observatorium des Alfred Wegener Instituts Bremerhaven.
Einen poetischen Blick unter die Oberfläche des Eises konnte die Komponistin mit Hilfe von akustischen Aufnahmen der Antarktis-Forschungsstation, unter Anwendung der FFT-Klanganalyse, werfen. Effekte und Filter verdichten und durchmischen das assoziative Eintauchen in ein hypnotisches Klangfluidum. Der meditative Film dazu, „AOA I-Skizze A“ mit der Filmemacherin Susanne Hofer, wurde unter anderem hier gezeigt: Crossing Europe Filmfestival, Schweizer Filmfestival, Soundtrack Cologne, Kontexty Festival Polen, CamerImage Winterthur, Juke Boxx New Music Award.
Die Antarktis ist einer der wenigen Orte, an denen noch „in Ruhe“ akustische Meeresforschung betrieben werden kann. In allen anderen Meeren hat die Lärmbelastung durch Industrie, Militär und Schifffahrt in den letzten Jahren so stark zugenommen, dass sie nicht nur akustische Veränderungen unter Wasser verursacht, sondern auch der gesamten Tierwelt schadet. Die antarktische Umwelt ist jedoch keineswegs ruhig, und manchmal verursachen kollidierende Eisberge enorme Ausschläge im Frequenzspektrum…
Kunst & Wissenschaft
Für ihre Kompositionen befand sich die in Wien, Linz und St. Florian lebende und arbeitende Tanja Brüggemann immer wieder im Austausch mit Dr. Lars Kindermann vom AWI (Alfred-Wegener-Institut) und dem ÖFAI (Österreichisches Forschungsinstitut für Artificial Intelligence). Das Verhältnis von Neuer Musik und Natur ist für sie mit unterschiedlichen Fragestellungen verbunden: „Wenn ich mich dem Komponieren des Jetzt in der Natur widme, stoße ich auf Unmengen von Daten und akustischen Aufnahmen, die die Wissenschaft verschiedenster Disziplinen bietet. Ist alleine das Erstellen von Transpositionen dieser Aufnahmen das Ergebnis des künstlerischen Prozesses?“
Hier beginnen für Tanja Brüggemann die Fragestellungen, denen sich Komponistinnen und Komponisten stellen können, denn sie bringen „das Wesen, das Verstehen und Deuten des Menschen in seinen jahrhundertealten Traditionen der menschlichen Prägungen in Bezug zur Natur mit sich.“ Diese Fragestellungen an das „Einordnen, Gliedern, Bewerten und Hinterfragen eröffnen einen Prozess des Sich-selbst-in-Fragestellens.“ Werden diese Fragestellungen manchmal vernachlässigt, weil man mit diesen Positionen angreifbar werden würde? Sie fordert daher: „Als Künstlerinnen und Künstler sind wir gefordert, gerade diese vielfältigen fragestellenden Positionen einzunehmen, indem wir von einer anthropologischen Konditionierung umschwenken, um uns auf fremde, ferne, nicht sofort bereitliegende, wohl nur in der künstlerischen Neudefinition zu findenden vorsichtigen Formulierung einer Sprache und Äusserung wiederzufinden. Und diese im selben Moment zu verlieren und wieder loszulassen.”
Der experimentelle Animationsfilm „reglos“ mit Conny Zenk verarbeitet visuelles Material der antarktischen Forschungsstation PALAOA des AWI – Alfred-Wegener-Instituts, instrumental wird das durch einen Algorithmus ständig verschwimmende digitale Bild von der Flötistin Sylvie Lacroix und elektronisch bearbeiteten Originalklängen begleitet.
Im fünften Teil des Zyklus AOA V AMA werden die Unterwasseraufnahmen mit einem Gedicht von Tanja Brüggemann verschmolzen, gesungen und gesprochen von Anna Maria Pammer: „The stars are my friends / sweet smile in the darkness / of the universe / because of your golden face / I keep on living / sometimes all stars gather / to embrace me / and my blue womb / that I came from, I go back to // my innerself – spots of illusions / spots of endless eternal / illusions / parts realized in endless seconds / an ending of a neverending glimpse / a neverending glimpse to my illusions / glimpses on illusions of / neverending seconds / my reality – weightless illusions.“
Ama bedeutet auf Japanisch wörtlich „Frau des Meeres“. Diese wurden bereits im Jahr 750 in einer sehr alten japanischen Gedichtsammlung, dem Man’yoshu, erwähnt. Auf das Freitauchen spezialisierte Frauen waren nur mit einem Lendenschurz bekleidet und konnten bis zu 9 Meter tief in kaltes Wasser tauchen. Mit Hilfe spezieller Techniken hielten sie bis zu zwei Minuten am Stück die Luft an und arbeiteten so mehrere Stunden am Tag, um Abalone, Seetang und andere Muscheln zu sammeln. Kopfhörer können Sauerstoffgerät und Stirnlampe ersetzen und einen halbstündigen, akustischen Tauchgang durch eine eisige Unterwasserlandschaft von Tanja Brüggemann ermöglichen:
Die Frage nach der Natürlichkeit
„Was ist Natur? Was ist natürlich? Ist nicht alles, was vom Menschen kommt, in gewisser Weise konstruiert?“, diese Fragen stellt sich auch die deutsche Komponistin Katharina Roth. Sie verweist auf eine der bekanntesten Komponistinnen Österreichs und schließt sich Olga Neuwirth mit ihrer Auffassung an, dass Natürlichkeit einem „Sehnsuchtsort, etwas Imaginärem, das nicht mehr existiert“ entspricht.
Ein kompositorisches Beispiel von Katharina Roth mit einem eindeutigen Naturbezug ist das Stück „madschra“ für Bassflöte, Klavier, 2 Perkussionistinnen bzw. Perkussionisten und Elektronik aus dem Jahr 2019. Es entstand in Kollaboration mit dem Ensemble Reflexion K und dem Ensemble NEOPERCUSIÓN, die Uraufführung fand in Madrid statt. Das arabische Etymon madschra / مَجْرى / maǧrā, aus dem später der Name der Stadt Madrid entstand, bedeutet soviel wie Kanal, Wasserleitung oder Flussbett. Das lateinische Etymon matricem bezeichnet die Quelle eines Flußes oder Stromes. „Wasser bildet den zentralen Klang meines Stückes“, führt die zur Zeit in Linz und Wien lebende Komponistin aus, „das Stück selbst ist quasi ein Wasserritual. In der Elektronik werden ausschließlich Wasserklänge benutzt und auch die Perkussionistinnen bzw. Perkussionisten benutzen viele verstärkte Wasserklänge, wodurch Instrumente und Elektronik ineinander greifen.“
„Ist nicht alles, was vom Menschen kommt, in gewisser Weise konstruiert?“
Ein weiteres Stück mit geophonen Elementen ist das ebenfalls 2019 entstandene „Mahakala“. Gewitterartige Klänge mischen sich mit Stimmklängen, die sich immer wieder aufs neue auf- und entladen. Die Komposition für 5 Stimmen und Live-Elektronik für die Neuen Vocalsolisten Stuttgart hat ihren Namen von einer mächtigen Gottheit im tibetischen Buddhismus, die in Thangkas sehr zornvoll dargestellt wird. Das Sanskrit-Wort kann vage übersetzt werden mit „der große Schwarze“, aber auch „über der Zeit stehend“. Sie hat die enorme Kraft und Macht alles zu zerstören und zu vernichten und wird gleichzeitig als Schutzgottheit verehrt. „Der Ausdruck dieser enormen Kraft und Spannung zwischen Schutz und Vernichtung war für mich die Hauptinspiration dieses Stücks“, so die Komponistin zu ihren dramaturgischen Überlegungen.
„…die Tasteninstrumente haben unser Ohr gründlich eingeschult, so dass wir nicht mehr fähig sind anders zu hören…“
Prägend für die kompositorische Entwicklung von Katharina Roth war neben der Begegnung mit Tilo Medek unter anderem auch Luc Ferrari‘s Zyklus „Presque rien“. „Sein Schaffen von neuen Klangsphären mit präexistierenden Naturklängen hat mich inspiriert,“ so die eigentlich auf Kammermusik spezialisierte Komponistin, „zu erforschen, wie es möglich ist, mit sehr direkten Klängen zu arbeiten, diese jedoch in neue Kontexte zu setzen. Bei Luc Ferrari habe ich immer die Narrativität seines Materials bewundert, die die direkten Klänge in einen neuen Zusammenhang stellt, sodass eine ganz eigene Welt entsteht.“ Katharina Roth zitiert auch den italienischen Pianisten und Komponisten Ferruccio Busoni, der in seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst schreibt: „Wir haben die Oktave in zwölf gleich voneinander entfernte Stufen abgeteilt. Namentlich die Tasteninstrumente haben unser Ohr gründlich eingeschult, so dass wir nicht mehr fähig sind anders zu hören – als nur im Sinne der Unreinheit. Und die Natur schuf eine unendliche Abstufung.“
Bei einem einjährigen Studienaufenthalt in Indien 2015 konnte sie erfahren, wie sehr ihr Hören und Denken durch das Hauptinstrument Klavier geprägt ist: „Seit meinem 8. Lebensjahr war ich täglich am Klavier und durch dieses geprägt. Reine Intervalle zu hören und zu singen und sich auf viel kleinere Tonschritte und deren Verbindungen einzustellen, war für mich zu Beginn sehr ungewohnt. Der Indienaufenthalt war für mein kompositorisches Denken sehr bedeutsam. Neben einer anderen Art zu Hören ist es eine andere Zeitlichkeit, die ich dort kennen gelernt und aufgesogen habe. Und auch das Improvisieren ist für mein eigenes Schaffen seitdem bedeutsamer geworden.“
„…oft entsteht das wirklich Interessante in den Zwischenräumen.“
„Snake Charmer“, ein Stück aus dem Jahr 2013, arbeitet mit Übergängen von Komposition und Improvisation und „greift das Moment der nahenden Gefahr auf, das dem Beschwören von Schlangen eigen ist.“ Bassflöte, Bassklarinette, kleines Schlagzeug, Violine und Violoncello arbeiten mit zwei sich kontrastierenden Teilen. Diese sind gekennzeichnet durch die Gegensätzlichkeit der Tempi – Teil B hat das doppelte Tempo von Teil A. „Des weiteren kommen Signale hinzu, sogenannte Rufe. Sie stiften Verwirrung, deuten Veränderung an“, führt Katharina Roth näher aus: „Durch das ganze Stück hindurch ziehen sich Linien in unterschiedlichen Gestalten. In gewisser Weise durchziehen sie das Stück wie ein roter Faden – wie Schlangen auf der Suche nach ihrer Beute. Doch sie werden getäuscht durch falsche Rufe.“
Aber nicht nur „unberührte Natur“, sondern vor allem „ihre Reaktionen auf die Gattung Mensch“ interessieren die Komponistin zunehmend. „Ansonsten dienen mir häufig eher psychologische oder klangliche Phänomene als Inspiration“, bekennt sie und stellt nochmal klar: „Ich mag die dualistische Weltauffassung von natürlich-unnatürlich, gut-böse, normal-anormal nicht. Das Spektrum ist meistens sehr groß, und oft entsteht das wirklich Interessante in den Zwischenräumen.“
„Vom Phänomen der Musikerzeugungsfähigkeit pflanzlicher Musikanten“
„Ich hatte einen Garten übernommen und Blumen und Gemüsepflanzen angepflanzt. Das Erkunden und Beobachten der prachtvollen Farben und Formen, die aus winzigsten Samen in einem ziemlich beachtlichen Tempo heranwuchsen, war ungemein faszinierend“, erinnert sich die Komponistin und Vokalperformerin Susanna Ridler, die sich seit 2013 im Rahmen von Kompositionsaufträgen intensiver mit dem Werk des Dichters Gert Jonke beschäftigt. Ihre Komposition „CHLOROPHYLLKLANGPULVERSTAUB oder Die Erforschung des botanischen Tongewebes“, uraufgeführt von Peter Burwik und dem ensemble XX. Jahrhundert, die sie im Zuge ihrer mehrjährigen musikalischen Auseinandersetzung mit dem literarischen Werk von Gert Jonke schrieb, entstand auch in der Natur ‒ für Susanna Ridler eine essenzielle Inspirationsquelle: „Ja, Natur hat eine Funktion für mich. Sie führt mich hin zum intuitiven Schreiben, was nicht heißt, dass der rationale Aspekt keine Rolle bei meinem Komponieren spielt. Ich würde jedoch sagen, dass ich im Garten sitzend, oder beim Komponieren in die grüne Weite blickend, meine Ideenimpulse intensiver wahrnehme.“
Ihre forschende Auseinandersetzung mit dem österreichischen Lyriker, Dramaturgen und Hörspielautor Gert Jonke mündete heuer, gemeinsam mit dem Kontrabassisten Peter Herbert und dem Saxofonisten Wolfgang Puschnig, in der Veröffentlichung einer sehr speziellen musikalischen Hommage mit dem klingenden Titel: „Geometrie der Seele“. Sie stieß auf ein unveröffentlichtes Textfragment, in dem „vom Phänomen der Musikerzeugungsfähigkeit pflanzlicher Musikanten“ die Rede war.
„Natur hat eine Funktion für mich.“
„Mir war sofort klar, dass ich diesen wundersamen Text vertonen muss. Ich begann also, in meinem Garten sitzend, mit dem 1. Satz (Anm. der Komposition „CHLOROPHYLLKLANGPULVERSTAUB oder Die Erforschung des botanischen Tongewebes“) und schrieb Musik über musizierende Pflanzen. Es war höchst skurril. Die Vorstellung, dass Pflanzen tatsächlich Geräusche und Töne von sich geben könnten, schien mir jedoch, je mehr ich mich in die Arbeit vertiefte, gar nicht mehr so abwegig. Vielleicht ist nur unser Hörvermögen nicht fein genug, das Schließen und Öffnen der Blättern und Blüten akustisch wahrzunehmen?“ überlegt die Komponistin und verweist auch auf wissenschaftliche Experimente, „bei denen mit Hilfe von Elektroden und Sonifikationssystemen elektrische Spannungsveränderungen von Pflanzen in Klang verwandelt werden. Dennoch ist der zu hörende Klang nicht jener der Pflanze; er resultiert nur vom Signal der Pflanze her. Aber immerhin: Auch dies ist ein anregender Gedanke, wenn es darum geht, neue Musik zu schreiben.“
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Als Kind ist Susanna Ridler am Land aufgewachsen und verbrachte ihre Zeit am liebsten draußen. Immer wieder gab es dann auch urbane Phasen, sie studierte Schauspiel in Wien, Musik und Gesang in Maastricht, Amsterdam und Los Angeles. Nun bekennt sie aber: „Das Naturbedürfnis kehrt aber langsam wieder zurück.“ Für 2022/23 arbeitet Susanna Ridler an neuen Kompositionen mit dem Titel „Letzte Lieder für die Erde“. Musik wird darin aufgefasst als Pamphlet, als Transmitter, als Satellit, der uns über die Erde hinweg alle miteinander verbindet. Am Ende dieses Artikels muss unbedingt auch der Musikalität des Sprachkomponisten Gert Jonke etwas Platz eingeräumt werden. Im Epilog von „CHLOROPHYLLKLANGPULVERSTAUB oder Die Erforschung des botanischen Tongewebes“ spricht Susanna Ridler einen Text aus Gert Jonkes Roman „Der Ferne Klang“ und beschwört folgende Pflanzenmusik-Vision herauf: „Die Landschaft verbreitet ihre Musik weiter, aus allen Fluren himmelwärts. Bis eines Tages der ganze Planet nicht nur von einer Lufthülle, sondern von einer Klanghülle, Musikhülle, einer Musikatmosphäre umgeben sein wird.“
„Musik ist eine zutiefst in der Natur verwurzelte Kunst.“
„Musik ist ein Kind der Natur.Denken wir nur daran, dass die Stimme ein Instrument des menschlichen Organismus ist, Instrumente aus Gestein oder organischen Materialien wie Holz, Bambus oder Kürbissen hergestellt wurden, die Haare eines Bogens vom Pferd stammen oder Saiten ursprünglich aus Darm hergestellt wurden. Denken wir an die Entdeckung der Obertonreihe aus mathematisch-physikalischen Experimenten heraus“, so beginnt der Komponist René Staar, künstlerischer Leiter des Ensemble Wiener Collage, seine Überlegungen zum Thema Neue Musik und Natur. Eine tiefe Verbindung zur Natur hat er in seinem Werk mehrmals verdeutlicht, zuweilen durch Titel wie „Der Tag nach dem Regen“ oder „Schwarzer Schnee“, in denen die Beziehung zur Natur symbolisch zum Ausdruck kommt. Sehr anschauliche Einblicke in diese Art des natursymbolischen Komponierens erhält man anhand des Stückes „Divertissement Suisses“ aus dem Jahr 1984; dem 2. Satz der Klavierfassung mit dem Titel „Minuit à la Perle du lac – un ciel étoile“ ‒ zu Deutsch: „Mitternacht an der Perle des Sees – ein sternenklarer Himmel“:
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Seine aktuellen Ausführungen zum Thema Neue Musik und Natur setzt René Staar mit folgenden ökomusikologischen Gedanken fort: „Aber wir müssen uns fragen, was denn jetzt eigentlich Natur ist. Ist es jene Sphäre, die Leben ermöglicht ‒ die durch Wasser oder Luft lebende Wesen wie Pflanzen oder Tiere hervorbringt ‒ und die uns so viele Anregungen für hohe Kunst geschenkt hat?“ Er verweist auf die Inspirationen durch Laute von Singvögeln, exemplarisch auf die vielen verschiedenen Kuckucksrufe in Werken von Haydn und Beethoven, bis Ligeti oder Messiaen:
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Ein Werk von René Staar, in dem die Natur auch als „inhaltliche Substanz“ auftaucht, ist das zwischen 2002 und 2008 entstandene Oratorium „Hammabbul“, eine Interpretation der Noaherzählung aus der Bibel. Hammabbul ist hebräisch und bedeutet Sintflut. Ein kurzer Teil dieses Oratoriums ist mit dem Titel „Passagierliste Arche Noah“ versehen. Tierstimmen, vom Zirpen der Grillen über das Quaken der Frösche bis hin zu Singvögeln, werden hier sozusagen verdoppelt dargestellt: „Einerseits durch musikalische Effekte, andererseits durch sprachliche Ausdrücke von Tierstimmen – Beispiel: im Deutschen quakt der Frosch, im Amerikanischen macht der Ochsenfrosch „ribid ribid“ (die der Chor nachmacht). In einer Art Gitterform kreuzen sich die musikalischen und textlichen Tierstimmen-Imitate, wobei Sprache neben Musik als weitere Entwicklung aus natürlichen Möglichkeiten heraus verstanden wird.“ Weitere bedeutungsvolle Natur-Symbole sind der Regenbogen oder eine Taube, und „natürlich die Flut als nacheiszeitliche Naturkatastrophe, die auch den Klimawandel apostrophiert.“
„…sind auch jene lebensfeindlichen, außerirdischen Welten gemeint, die durch Strahlung oder Gifte, Trockenheit oder klimatische Extreme jede Entwicklung einer Lebensform verhindern?“
Eine dystopische Weiterführung des Gedankens, was man alles unter dem Begriff Natur subsumieren könnte, führt René Staar weg von Gaia, der Erde und ihrer Biosphäre: „Oder sind auch jene lebensfeindlichen, außerirdischen Welten gemeint, die durch Strahlung oder Gifte, Trockenheit oder klimatische Extreme jede Entwicklung einer Lebensform verhindern?“ Einen Hauch davon vermeint René Star beim Anhören des 2. Streichquartetts von Schönberg zu verspüren, wenn im 4. Satz von einer Sopranstimme aus dem Gedicht „Entrückung“ von Stefan George schrill die Sentenz „Ich fühle Luft von anderem (sic) Planeten“ erklingt.
Für René Staar werfen sich Fragen auf wie: „Welcher Planet da wohl gemeint ist? Ob es denn überhaupt so etwas wie Luft – und damit Schallwellen – auf anderen Planeten gibt?“ Das extraterrestrische Gedankenkreisen endet im Irdischen und „damit gibt es aber auch eine Brücke zu experimenteller Musik.“ Um dann gleich wieder gedanklich den Planten Erde zu verlassen: „Auch auf unserer Erde und in unserem Leben werden andere Himmelskörper oder astronomische Konstellationen für uns zu einem Objekt der musikalischen Inspiration. Denken wir daran, wie oft wohl Sonne, Mond und Sterne in der klassischen Musik besungen werden. Als Symbole der Liebe oder auch für sich selbst stehend, in unzähligen romantischen Liedern, oder auch in Werken wie Holsts Planeten oder Schönbergs Pierrot. Oder wie oft die durch die Erdumlaufbahn hervorgerufenen Jahreszeiten wohl für neue musikalische Einfälle gesorgt haben. Daran können auch durch menschliche Erkenntnis hervorgerufene Entwicklungen wie die temperierte Stimmung oder die Dodekaphonie nichts ändern. Musik ist eine zutiefst in der Natur verwurzelte Kunst.“
„Zeitgenössische Musik muss zum Scharfstellen des Hörens einladen“
„Ich muss grundsätzlich immer wieder in die Natur gehen, mich dort auslüften und gleichzeitig Inspiration sammeln. Sie ist für mich der Raum, in dem Ideen entstehen, der Raum, in dem ich sie einfange. Dort findet ein erstes Möglich-Machen von Gedanken statt. Bei Spaziergängen in der Natur schaue ich mir oft genau die Pflanzen an, wie sie wachsen und leben, was sie an Formen hervorbringen, allein das ist ein Fundus für kompositorische Gedanken“, beschreibt Katharina Klement, die sich als Composer-Performer im Bereich von notierter und improvisierter, elektronischer und instrumentaler Musik bewegt. „Die Ganzheit der ‚natürlichen Phänomene‘ von Sternenkonstellationen, Planetenbahnen, Wetterphänomenen bis hin zu Begriffen wie Entropie, Gravitation oder Zellteilung ist kaum zu erfassen, bietet mir aber immer wieder Ansatzpunkte für musikalische Verfahren oder formale Gestaltung an“, so die Komponistin mit besonderem Interesse am Instrument Klavier und dafür erweiterte Spieltechniken und Klanginstallationen. „Natur ist in jeder meiner Arbeiten in gewisser Weise im Spiel. Die Frage nach ‚Natürlichkeit‘ und ‚Künstlichkeit‘ stellt sich immer wieder neu, ist wohl ein Drehkreuz, ein unsichtbarer Übergang darin”, überlegt Klement, die ihre Schwerpunkte gerne auf räumliche Konzepte und querverbindende Projekte in den Bereichen Musik-Text-Video-Performance legt.
„Die Ganzheit der ‚natürlichen Phänomene‘ von Sternenkonstellationen, […] bis hin zu Begriffen wie Entropie, Gravitation oder Zellteilung […], bietet mir […] immer wieder Ansatzpunkte für musikalische Verfahren oder formale Gestaltung an“
Im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum Thema „Publikumswandel: Herausforderung für die Kunstmusik in der ganzen Welt”, veranstaltet 2008 von mica – music austria, IGNM (Internat. Gesellschaft für Neue Musik) und IMC (International Music Council), hielt Katharina Klement einen Vortrag mit dem Titel „Zeitgenössische Musik als Neo-Oralität im 21. Jahrhundert“, und fordert im Sinne eines Murray Schafer eine erwartungslose Hör-Haltung, mit der man sich auf etwas Ungewisses und Unmittelbares einlassen kann: „Jeder junge Mensch sollte einmal zum aktiven Hören angehalten werden und lernen, eine achtsame Haltung des Hörens, des Horchens, einzunehmen, um überhaupt einmal das Gehörte differenzieren zu können. Und er sollte einmal aufgefordert werden, ohne Vorlage ein Musikstück zu bauen, ähnlich wie es im Zeichenunterricht längst Usus ist. Sich selbst sozusagen vor das leere weiße Blatt setzen.“ Am Ende des Referates zieht sie folgendes Resümee: „Zeitgenössische Musik muss zum Scharfstellen des Hörens einladen, ein Ereignisraum bleiben, der das Offene beherbergt, keine Hochglanzprodukte liefert, und per se keine Unterhaltung. Sie bleibt damit ein sensibles und ständig neu in Erscheinung tretendes Vorhaben.“
Als Lehrende an der mdw macht sie sich in dem genannten Vortag auch Gedanken über elektroakustische Musik: „Die Elektronik mit ihrer Speichermöglichkeit jeglichen hörbaren Materials revolutionierte natürlich auch den ästhetischen musikalischen Zugang: vom bellenden Hund bis zum abfahrenden Zug, von singenden Pygmäen bis zum Violinton; das Mikrofon, Tonband bzw. Harddisk und der Lautsprecher wandeln alles zur virtuellen Sample-Datenbank um. Längst haben wir uns auch schon vom Schock erholt, die Existenz von Interpretinnen und Interpreten in Frage zu stellen, da sie von Lautsprechern als letzte Instrumente der elektronischen Musik verdrängt zu werden schienen. Friedlich agieren Instrumentalistinnen und Instrumentalisten, Laptopistinnen und Laptopisten, DJs, Live-Elektronikerinnen und -elektroniker, Sound Artists usw. nebeneinander in der Konzertlandschaft. Wir leben in einem transparenten Übereinander vielfältiger musikalischer Kulturen.“
Die Rückbezüglichkeit zur natürlichen physikalischen Welt
Da sich ein komplexes räumliches Konzept nicht in einem Stereo-Hörraum abbilden lässt, plädiert sie für das Live-Erleben: „Oberste Prämisse bleibt, dass man in solche Konzerte gehen muss, um diese Musik hören zu können, egal, wo sie stattfindet ‒ im Konzerthaus, im Club, im Kinosaal oder im Freien…“ Und ihre Überlegungen zu Neuer Musik und Natur schließt sie mit folgenden Gedanken zur von Murray Schafer sogenannten Schizophonie, einem Klang, der durch elektroakustische Reproduktion von seinem ursprünglichen Kontext getrennt wurde: „In der elektroakustischen Musik, insbesondere in der sogenannten akusmatischen, die ganz bewusst für Lautsprecher komponiert ist, in der es keine optische Komponente der Klangerzeugung mehr gibt, ist die Rückbezüglichkeit zur natürlichen physikalischen Welt besonders deutlich. Ein lauter Knall, auch wenn er rein elektronisch, ‚künstlich‘ erzeugt ist, wird immer die Assoziation von starker Krafteinwirkung auslösen, unsere ‚natürliche‘ Klangerfahrung steht dafür Pate.“
Nun noch zu drei konkrete Beispiele im Kontext Neuer Musik und Natur. Die 2021 entstandene Arbeit „natura morta“ ist ein Kurzvideo der Künstlerin Doris Schmid mit Musik von Katharina Klement. Sie nimmt als optische Ausgangssituation Fotografien und Videos eines gleichbleibenden Landschaftsraums: „Unterschiedliche Tages- und Jahreszeiten beginnen sich darin unabhängig und damit ‚unnatürlich‘ zu bewegen, z.B. glitzern Wellen am See in Slow-Motion, die Blätter der Bäume bewegen sich dagegen in Zeitraffung im Wind. Die Musik arbeitet entsprechend mit sich verändernden Vorder- und Hintergründen, unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Das Vorbild der Natur dient hier zur Sicht- und Hörbarmachung von modellierten Zeit- und Raumverhältnissen.“
Eine weitere Komposition, die heuer entstanden ist, nennt sich „Monolith“ und „arbeitet mit und im Landschaftsraum des Maltatals in Kärnten. Aus verschiedensten Wasseraufnahmen von dort – aus Glucksen, Tropfen, Rinnen und Rauschen wird ein sich permanent verändernder klanglicher Monolith entwickelt. Die Arbeit steht in Zusammenhang mit Steinskulpturen aus Gneis, Granit und Schiefer, die zur gleichen Zeit im Maltatal entstehen werden.“ Inspiriert von geologischen Begriffen wie „Paralleltextur“, „Kristallinkomplex“ oder „trigonale Symmetrie“, die in Zusammenhang mit diesen Gesteinsarten stehen, lässt Katharina Klement ihrer „kompositorischen, künstlerisch-freien Übersetzung davon in musikalische Ordnungsmuster bzw. Aggregatzustände freien Lauf.“
In der Arbeit „soundscape Schrattenberg“ aus dem Jahr 2011 für stabile und mobile Klangquellen bzw. Musikerinnen und Musikern geht es am ausgesuchten Ort, der Umgebung rund um die Ruine des Schlosses Schrattenberg bei Scheifling in der Steiermark, um „Landmusic“ mit und in einem ausgesuchten Landschaftsraum ‒ ähnlich dem Ansatz von Landart in der bildenden Kunst. Während der achzigminütigen Aufführung wurde dieser Platz von zehn Musikerinnen und Musikern abgegangen und durchschritten. Die restlichen sieben waren an bestimmten Stellen wie Hochständen, Türme oder kleine Räume des Meiereigebäudes bei geöffneten Fenstern immobil stationiert. „Der Ort wurde als offener Ereignisraum bzw. Konzertraum bespielt, die Musikerinnen und Musiker folgten bestimmten vorgegebenen Routen in der Landschaft, es kam so zu stetig wechselnden kleinen Ensembles von Duo bis Quartett.“
„Mein Ansatz in der Musik ist die Hörkunst“
„Eine wesentliche Inspirationsquelle für meine Kompositionstätigkeit war und ist die Natur. Naturbezüge finden sich sowohl in meinen Instrumental- und Vokalwerken als auch in meinen Soundscape Kompositionen“, so die langjährige Präsidentin des Forum Klanglangschaft Gabriele Proy. Die in Wien geborene Komponistin könnte man als eine Pionierin im Bereich der Soundscape Kompositionen in Österreich bezeichnen. „Gleich einem ‚Zeitanhaltenwollen‘ sollen meine Stücke eine gewisse innere Ruhe ausstrahlen und auch nach hochdramatischen Passagen in eine innere Ruhe einpendeln. Mein Ansatz in der Musik ist die Hörkunst: Es geht mir als Komponistin darum, dass die Zuhörerin oder der Zuhörer ein intensives Hörerlebnis hat – ich möchte auch mit zeitgenössischer Komposition Menschen berühren“, so Composer und Sound Artist Gabriele Proy.
„Es geht mir als Komponistin darum, dass die Zuhörerin oder der Zuhörer ein intensives Hörerlebnis hat“
Im Kontext Neue Musik und Natur sieht sie auch ihre Komposition „Azurit“, ein Instrumental-Stück, das vom Verlust eines geliebten Menschen erzählt und 2012 von Christina Schorn-Mancinelli beim Internationalen Gitarrenfestival der Società Aquilana dei Concerti B. Baratelli in L’Aquila uraufgeführt wurde: „Über die Zeit verwandelt sich Azurit allmählich in Malachit – die Zeit der Trauer und des Erinnerns ist auch eine Zeit des Wandels.“ Das Stück für Gitarre solo ist in der Tradition eines Tombeaus geschrieben. Tombeau bedeutet im französischen Grabmal, und war im 17. und 18. Jahrhundert der Name für französische Instrumentalkompositionen zum Gedenken an bekannte Persönlichkeiten: „So wie die tiefblaue Farbe das Mineral Azurit von allen anderen Mineralien unterscheidet, so bewahren wir die Besonderheit der Begegnung in bleibender Erinnerung.“ Die Gitarristin Gabriele Proy, die den intimen Klang dieses Instrumentes sehr schätzt, geht noch etwas detaillierter auf ihre kompositorischen Überlegungen ein: „Die 6. Saite ist einen Ganzton tiefer gestimmt und durch das gesamte Largo schwingen die tiefen Basstöne der D-Saite. Die Unerbittlichkeit der Pendel- oder Glockenschläge wird durch rasante Melodiefolgen und Arpeggio-Klänge unterbrochen. Schließlich vermag sich mit Behutsamkeit ein zweistimmiger Satz zu behaupten, um dann mit einer aufsteigenden Flageolett-Melodie das Stück zu beschließen.“ 2021 wurde das Stück „Azurit“ im Rahmen des Women‘s History Month als Live-Online-Konzert in der Alte Schmiede Wien aufgeführt.
„Das Plötzliche aufhalten wollen, das Plötzliche vergessen wollen, das Plötzliche verstehen müssen“
Farbe bekennt die vielfach ausgezeichnete Komponistin Gabriele Proy auch in ihrer Komposition „Türkis“, ein Duo für Flöte und Gitarre aus dem Jahr 2012. Es entstand in Gedenken an die Opfer der Tohoku Erdbeben- und Tsunamikatastrophe in Japan 2011: „In der Weite der Landschaft bleibt die Frage. Beben, Wassermassen, Wellenberge, Schlamm. Das Plötzliche aufhalten wollen, das Plötzliche vergessen wollen, das Plötzliche verstehen müssen. Zu plötzlich. In der Unerbittlichkeit gehen lernen, verstehen lernen. Dazwischen. Türkis spiegelt das Meer. Die ferne Klage der Flöte vermag an die japanische Shakuhachi erinnern, das Crescendo der Gitarren-Arpeggios an die kraftvollen Klänge der Shamisen im Norden Japans.“ Die Komposition „Türkis“ von Gabriele Proy wurde 2012 in Wien uraufgeführt, und ist 2021 in #JapanRevisited202x: then-now-after des Österreichischen Kulturforums Tokyo erschienen.
Soundscape: Waldviertel
Die Soundscape Komposition „Waldviertel“ von Gabriele Proy war ein Auftragswerk des Österreichischen Außenministeriums für das EU-Japan-Jahr-2005. Es wurde im Oktober 2005 in Hirosaki in Japan uraufgeführt, und ist 2013 in „The Art of Immersive Soundscapes“ der CPRC University of Regina Press in Kanada erschienen. Gabriele Proy beschreibt ihr Stück folgendermaßen: „Den unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten lauschend, lässt sich eine Poesie der Klanglandschaften erahnen, wie sie sich im Rhythmus der Jahreszeiten spiegeln. Über ein ganzes Jahr lang habe ich Klangrecherchen im Nordwesten von Niederösterreich durchgeführt. Mit einem Vogelkonzert am frühen Morgen im Frühlingswald von Friedersbach tauchen wir ein in die Klanglandschaften des Waldviertels. Langsame und rhythmische Ruderschläge am Ottensteiner Stausee und das unaufhörliche Zirpen der Grillen führen uns mitten hinein in die Klangwelten eines geruhsamen Sommertages im Nordwesten von Niederösterreich. Die typischen Mittagssirenen und die Klänge der Kirchenglocken erzählen von Tradition und Lebensalltag in dem kleinen Dorf Friedersbach. Und an lange, kalte Waldviertler Winterabende erinnert das herbstliche Feuerknistern im Kamin.“ Im SUAL Archiv des transdisziplinären Festivals (von 2006 – 2018) für Sound Art shut up and listen! kann man den poetischen Klangbildern des Waldviertels lauschen:
Waldviertel (soundscape composition) von Gabriele Proy – SUAL Archives
„Die unmittelbarste natürliche Komponente in der Musik ist für mich persönlich der Atem“
„Die Natur – ein Ort des Rückzugs und der Besinnung – eine unerschöpfliche, wandelbare und doch Halt gebende Quelle der Inspiration: Jeder kompositorische Prozess stellt eine Rückkehr, wie auch ein ständiges Schöpfen aus eben dieser ursprünglichen Quelle dar. Neben dieser Funktion als persönliche Inspirations- und Kraftquelle, wird die Natur – damals wie heute – unmittelbar imitiert und mit ebendiesen ‚natürlich‘ vorhandenen Motiven gearbeitet“, so beginnt die Sängerin, Dirigentin und Komponistin Tanja Elisa Glinsner ihre Überlegungen zum Thema Neue Musik und Natur. In ihren Werken spielen Spektralklänge oftmals eine zentrale Rolle, die der Faszination für die Musik von Tristan Murail, Gérad Grisey und Georg Friedrich Haas geschuldet ist. Ihre Klangästhetik orientiert sich unter anderem an der Musik ihres Professors Michael Jarrell, der klangfarbenreichen Musik von Olivier Messiaen und Toshiro Mayuzumi, und an der „zerrenden Tiefe“ eines Toru Takemitsu. Beim weiteren Nachdenken über den Ursprung von Musik findet jedoch eine deutsche Komponistin Neuer Musik Erwähnung: „Den Anfang sehe ich in der Imitation von Vogelgezwitscher ‒ damals in der Musik von den Naturvölkern, später über Vivaldis Vier Jahreszeiten, Beethovens Pastorale hinweg bis zu heutigen zeitgenössischen Werken, wobei ich Werke wie Zugvögel und Instinkt – in welchen Naturlaute von Hunden, Walen und Vögeln verarbeitet werden – von der Komponistin Carola Bauckholt, angeführt wissen möchte.“
„Instinkt“ entstand 2008 im Auftrag des Deutschlandfunkes und ist Truike van der Poel gewidmet. Carola Bauckholt erinnert sich: „2006 schenkte mir die Sängerin Truike van der Poel eine CD mit Aufnahmen des chorischen Gesanges von Schlittenhunden, die Oswald Wiener gemacht hat. Fasziniert hörte ich die ganze CD und fragte mich, warum diese Klänge so schön sind. Liegt es an der Harmonik, liegt es an der Farbe? Mühsam transkribierte ich die Klänge und setzte sie für 6 Stimmen. Auch Lautäußerungen von arktischen Polarfüchsen, Eistauchern, Wasserhühnern und Walen wurden auf die menschliche Stimme übertragen. Die Sängerinnen und Sänger bekommen diese Vorlagen und haben die Aufgabe, mit ihrem individuellen Organ den Klängen so nah wie möglich zu kommen.“
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Carola Bauckholt zu ihrer Komposition „Zugvögel“ aus dem Jahr 2012: „Meine Ohren brauchen frische Klänge, die ich meistens außerhalb der Musik finde. Wenn ich etwas höre, was mich fasziniert, widme ich mich in meinen Stücken dieser Hörerfahrung. Das befreit mich davon, Klischees von welcher Musik auch immer zu reproduzieren. Je photografischer ich bei der akustischen Erfahrung bleibe, desto besser. Ich transkribiere Klänge und übertrage sie auf gewöhnliche Instrumente. Bei dieser Übertragung muss sich die Spieltechnik und die Palette an Klangfarben erweitern – unter Mitwirkung der Musikerinnen und Musiker. Meine Aufgabe ist es, das Wesentliche der Klänge herauszuarbeiten. Dazu muss ich auch die Umgebung mitdenken und beschreiben; Räume schaffen.“
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Die Imitation von Vogelgezwitscher hat Carola Bauckholt danach immer wieder fasziniert: „Vogelstimmen haben eine unglaubliche Intensität ‒ hervorgebracht durch die Syrinx der Vogelkehle. Dabei haben sie gar keinen Kehlkopf, sondern mehrere Bronchialröhren mit inneren und äußeren Membranen, den Paukenhäuten, die durch ein komplexes Muskelsystem gesteuert werden. Dadurch können die fast zweistimmig wirkenden Sprünge und die rasanten Verzierungen erzeugt werden. Die Geige ist das einzige Instrument, dass diese extreme Höhe erzeugen kann ‒ jedoch durch einen völlig anderen Vorgang. Gerade deshalb ist es reizvoll, beide Welten zusammen zu führen, wie eine ‚Engführung‘ beim Kontrapunkt.“
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Das Streichquartett „Lichtung“ von 2011 arbeitet mit fotografisch genauen Transkriptionen von Vogelstimmen. „Bei der Aufführung vom Cikada Quartett beim Ultima Festival 2013 war ich völlig fasziniert, wie es Karin Hellqvist möglich war, die allerfeinsten Nuancen der Originalklänge z.B. eines Butcherbirds mit der Geige zu imitieren. Diese Feinheiten erfordern andere Spieltechniken und vor allem viel Einfühlungsvermögen und feinstes Gehör. Karin Hellqvist wünschte sich daraufhin, ein virtuoser Vogel sein zu dürfen“, erinnert sich Carola Bauckholt. Sie gab ihr den Auftrag, ein Solostück zu schreiben. Es entstand 2016 die Komposition für Geige und Zuspiel mit dem Titel „Doppelbelichtung“. Der Name erklärt sich so: „Die Doppelbelichtung ist eine Technik aus der analogen Fotografie, bei der ein Bild auf das vorhergehende belichtet wird. Auf diese Weise werden mehrere Realitätsebenen in einem Bild eingefangen.“
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Doch nun zurück zu Tanja Elsia Glinsner: „In meinem Werk ‚BlurRed‘ für Orchester, dessen ursprünglich geplanter Titel ‚Birds of Prey‘ (Raubvögel) gewesen war, habe ich auch auf die Imitation von Vogelstimmen zurückgegriffen. Diese kulminieren in der angeführten Passage zu einem schreienden Vogelschwarm. Erst später ergänzte ich die Einleitung – ein einen Schockzustand auslösendes Ereignis, auf welche die Vogelschreie als Antwort folgten. Infolgedessen änderte sich mein Hören der Passage, sodass ich die Schreie eher in ihrem emotionalen Ausdruck als in ihrer ursprünglichen Form wahrnahm – nämlich als ein inneres Aufschreien und Rebellieren gegen den Schockzustand.“
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„In meinen Werken ist die Auseinandersetzung mit der Natur meist von entscheidender Bedeutung, dieser Umstand allerdings oft nicht auf den ersten Blick ersichtlich: Eben jener Gesang der Naturvölker verbirgt sich z.B. in der Einleitung meines Werkes ‚Scena di Medea‘, eine ekstatische Feier, ein Tanz ums bzw. am Feuer ‒ zu einer Zeit, als der Mensch mit der Natur noch eng verbunden war. Der unmittelbare, subjektive Ausdruck, wie auch weitere noch hinzukommende Inspirationsquellen in Form von anderen Kunstwerken – seien es Gedichte, Gemälde oder Musikwerke – lassen den Bezug zur Natur in meinen Werken etwas in den Hintergrund rücken.“
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„Der Bezug zur Natur bedingt aber wiederum ihren unmittelbaren Ausdruck“. In ihren Kompositionen greift Tanja Elisa Glinsner oftmals als formgebendes Mittel auf die Fibonacci-Reihe zurück, wie zum Beispiel im Stück „GrundRISS. 100 wässrige Grundgedanken“. Der Titel verweist auf den Künstler Friedensreich Hundertwasser, der ja auch für sein ökologisches Engagement sehr bekannt wurde.
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Tanja Elisa Glinsner verweist am Ende ihrer Ausführungen zum Thema Neue Musik und Natur nochmal auf Carola Bauckholt: „Sie schafft es, in ihrem Werk einen Bogen von den natürlichen Anfängen der Musik hin zum Menschen – vom Beginn bis zum Ende des Lebens – zu spannen. Dies ist in situativen Stücken für Stimme wie ‚Emil‘ oder ‚Die Alte‘ nachzuvollziehen. Ein geradezu ausgleichendes Gegengewicht zu diesen unmittelbar an der Natur der Dinge orientierten Werken bilden Stücke wie Carola Bauckholts ‚Hubschrauber‘ oder ‚Schraubdichtung‘, welche konkrete Gegenstände der heutigen modernen Welt musikalisch um- und beschreiben. Durch diese Werke stellt sich mir die Frage, wie wir mit der Natur um uns herum umgehen und die aktuelle Thematik des Klimaschutzes etc. scheint nicht mehr so weit vom Schreibtisch entfernt zu sein.“
Einen ebensolchen Gegensatz erkennt Glinsner in ihrem Werk ‚Blurred Memory‘, „in welchem industrielle, maschinenartige, raue Klangfarben verarbeitet werden. Hier wird wiederum das Quietschen der Maschinen zu einem Mittel des subjektiven Aufschreis. Ein Aufschrei gegen die Maschinerie der Welt oder gegen den Verlust unserer Natürlichkeit – diese rhetorische Frage sei dahingestellt.“
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„Die unmittelbarste natürliche Komponente in der Musik ist für mich persönlich der Atem“, so schließt Tanja Elisa Glinsner ihre Reflexionen zum Naturbezug von Kompositionen. Und merkt kritisch an: „Hier stellt sich mir allerdings die Frage, inwiefern dieser in der zeitgenössischen Musik heute noch Eingang findet oder ob dies eher eine Frage auf interpretatorischer Seite ist. Inwiefern ist es in der zeitgenössischen Musik noch wichtig, zu atmen – früher lateinisch ‚animare‘ – und die Musik, dem Begriff ‚animare‘ nach, noch zu beseelen oder zu beleben? Bildet doch der Atem die eigentliche Schnittmenge von Vogelgezwitscher und ihrer Imitation. Der Atem ist für mich – als Sängerin und Komponistin – das ‚Natürlichste‘, das der Natur noch nächste, das mich in meinem Alltag begleitet, weshalb ich mehr und mehr meine Bemühungen darauf richte, den Atem auch in meine Werke hörbar miteinfließen zu lassen: Als Geräusch – als Wind … und hoffentlich auch als gestaltende, formgebende Komponente.“
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„Ich denke, dass in meiner Arbeit direkte Bezüge zur Natur eher schwer zu finden sind, vor allem auch was eine programmatische Absicht betrifft“, so der österreichische Komponist und Klangkünstler Marco Döttlinger. „Was mich aber schon immer interessiert hat, ist, an den unterschiedlichen Orten, die man absichtlich oder zufällig besucht und erlebt, genauer hinzuhören ‒ sich an den Orten hörend aufzuhalten, sie zu erschließen. Das kann natürlich der Klang einer Lichtung im Wald sein, aber auch Geräusche, die bei einer Zugfahrt zu hören sind. Es geht um eine Praxis des Hörens, eine forschende und Zusammenhang-herstellende Hörhaltung, das Praktizieren einer ästhetischen Einstellung, wenn man so will.“
Marco Döttlinger ist Mitglied von NAMES New Art and Music Ensemble Salzburg und arbeitet am INM Institut für Neue Musik der Universität Mozarteum. Seine (Instrumental)kompositionen und Klanginstallationen thematisieren häufig mikro-zeitliche Veränderungen, er arbeitet interdisziplinär im Bereich Time Based Arts. „Unsere akustische Umwelt ‒ so trivial sie oberflächlich gehört erscheinen mag ‒ eröffnet häufig sehr reiche und tiefe Klangwelten, in die es sich "hinein"-zuhören lohnt. „Zeitliche Strukturen, auf Mikro- oder Makroebene, die ich zum Teil in verschiedenen Kompositionen verwendet habe, haben ihren Ursprung im Hören vermeintlich nicht-künstlerischer akustischer Umgebungen“, erklärt der Komponist, dessen künstlerische Arbeiten häufig die Integration computergestützter Verfahren im Bereich zeitgenössischer Klangkunst beinhalten.
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Ökomusikologie ist dem Kompositum nach zu schließen eine stark interdisziplinäre Angelegenheit. Ebenfalls interdisziplinär arbeitet immer wieder auch der Komponist Matthias Kranebitter, künstlerischer Leiter des Black Page Orchestra und Gründer des Unsafe+Sound Festivals. In einigen Abschnitten eines seiner letzten größeren Stück spielen in der Natur auftretende Frequenzen eine zentrale Rolle. Die höchst dramatische Soundcollage „Encyclopedia of Pitch and Deviation“ könnte auch als Versuch gehört werden, die immer noch unglaubliche Diversität an Lebensformen, die trotz eines erschreckenden, weltweiten Ökozids noch vorhanden ist, akustisch abzubilden.
Neue Musik und Natur – Matthias Kranebitter wählt auch ein Beispiel aus, das den Naturbezug im Namen enthält. Das Kurzkonzept der Komposition mit dem akademisch anmutenden Titel „Auflösung der traditionellen Stubenmusik in die Geometrie des Alpenhauptkammes“ liest sich so: „Gefüttert mit 222 Midi-Files alpenländischer Stubenmusik sowie dem geologischen Profil alpiner Gebirgsketten spuckt der Computer musikalische Gesten für Lira und Zither aus, die genau dem entsprechen: einer Anhäufung und Überlagerung traditioneller Stubenmusik bzw. dessen extrahierter musikalischer Parameter, abgebildet auf die graphischen Verläufe des Alpenprofils.“
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Schließen wir das Mäandern durch unterschiedlichste zeitgenössische Kompositionsbeispiele aus Österreich, die einmal mehr, einmal weniger stark bioakustische und ökomusikologische Aspekte durchschimmern lassen, mit einer Komposition ab, die versucht, in direkte Kommunikation mit einem Fluss zu treten. Die „Wassermusik Suite No.2“ für fünf Posaunen entstand durch eine Zusammenarbeit von Matthias Kranebitter mit dem deutschen bildenden Künstler Sebastian Gräfe. Die Gedanken dazu: „Einem Fluss bei seiner Ankunft im Meer besondere Ehre erweisen: An der Mündung ins Meer durchläuft der Fluss einen Transformationsprozess. Er ist zu maximaler Größe gediehen und endet zugleich, löst sich auf und geht in etwas Anderes über.“ Eine Blaskapelle ‒ durch ihren Einsatz bei Begräbnissen und Prozessionen bis hin zu Staatsempfängen ein Sinnbild westlicher Traditionen ‒ spielt eine speziell für den Fluss geschriebene Komposition: „Hier spielt sie für den Fluss, sie „vermenschlicht“ ihn und macht ihn dadurch greifbarer. Die humorvolle Geste erlaubt uns, leichter mit dem Fluss, mit der Natur in Bezug zu treten, Theatralik und Schwere werden dabei spielerisch vermieden. Die musikalische Komposition bildet den Fluss jedoch weder ab, noch handelt es sich um eine schlichte Huldigung. Vielmehr ist das Werk rückübersetzt in die Logik des Flusses. Zum einen finden die musikästhetischen Qualitäten fließender Gewässer in ihrer Abhängig von Temperatur, Fließgeschwindigkeit, Salzgehalt etc. Beachtung in der Komposition. Die Blasinstrumente werden teils direkt in das Wasser geleitet – die Komposition spricht also direkt die Sprache des Flusses.“
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Michael Franz Woels