„Courage bedeutet für mich Selbstverantwortung“ – BENJAMIN TOMASI im mica-Interview

BENJAMIN TOMASI ist ein österreichischer Musiker und Klangkünstler, der sich seit bald 20 Jahren im Bereich der Sound Art von geografischen, musikalischen und thematischen Grenzen löst. Ausgangspunkt sind poetische Denkanstöße, die die Zuhörerinnen und Zuhörer mit sich selbst konfrontieren sollen. Immer wieder setzt sich TOMASI dabei mit seinem Geburtstort Bozen in Südtirol, mit Religion, Natur, der digitalen Übersättigung, der städtischen Schnelllebigkeit und Unkontrollierbarkeit auseinander. 

In Kollaboration mit seiner Schwester, der Performancekünstlerin CLAUDIA TOMASI, werden seinen musikalischen Installationen körperliche Merkmale hinzugefügt. Gemeinsam definieren sie sich als ein Organ, das in erster Linie künstlerisch und intuitiv auf den jeweiligen Ort, das jeweilige Arbeitsumfeld reagiert. Seit 2016 arbeitet TOMASI außerdem mit SAMUEL SCHAAB für das „sound and media performance duo“ HALL zusammen. Die Räumlichkeit spielt auch hier eine wesentlich Rolle: Im Dezember 2018 wurde für die Veranstaltungsreihe „Sägezahn“ im SCHAUSPIELHAUS WIEN eine spezielle Performance gestaltet und gezielt für das Publikum und die Bühne konzipiert. Im Gespräch mit Julia Philomena äußerte sich der Musiker zur Notwendigkeit von Reisen und Herausforderungen, zu seiner Arbeitsweise mit Licht und seiner Affinität zur Zeitlosigkeit.

„Ich will kleine poetische Zusammenhänge schaffen, damit die Komplementierung des Ganzen im Kopf der Rezipientinnen und Rezipienten stattfinden kann.“

„The artist does not provide answers, and thus he refers us back to ourselves.” Ein Zitat in Zusammenhang mit Ihrem Projekt „Neustift“ im Jahr 2015. Wie kann man diese Aussage auch unabhängig vom Projekt verstehen?

Benjamin Tomasi: Unabhängig vom Projekt stelle ich immer gerne Fragen in meiner Kunst, mehr als ich Fragen beantworten möchte. Meine Fragen sollen auch nicht unbedingt konkret auf eine Antwort hinweisen, sondern eher auf einen Weg. Eine Tür öffnen. Es geht darum, dass die Betrachterinnen und Betrachter auf sich selbst zurückgeworfen werden. Dabei soll jede und jeder verstehen, was er oder sie verstehen möchte oder kann. Ich will die Leute nicht aufs Glatteis führen. Ich will kleine poetische Zusammenhänge schaffen, damit die Komplementierung des Ganzen im Kopf der Rezipientinnen und Rezipienten stattfinden kann.

Kannst du den Interpretationsspielraum beim Projekt „Neustift“ schildern?

Benjamin Tomasi: „Neustift“ war eine Installation in Brixen, Südtirol, in einer alten Kapelle, die ursprünglich ein altes Hospiz gewesen war. Dabei war die architektonische Struktur sehr wichtig, die Gegenüberstellung von dem ganz Äußeren der Kapelle und dem ganz Inneren, dem Tunnel. Im äußersten Raum habe ich getrocknetes Moos aufgelegt. Dabei ging es mir um den Zustand der Kryptobiose, wo das Moos weder Tod noch lebendig ist. Im innersten Raum gab es als starken Kontrast eine Soundinstallation. In dem Raum war es sehr dunkel, eigentlich schwarz und sehr laut. Es gab ein riesiges Becken, das durchgehend motorisch beschlagen wurde. Das Einzige, das man gesehen hat, war ein goldener Strich in der dunklen Landschaft, der sich ein bisschen bewegt hat, weil ich das Becken beleuchtete und dadurch der Eindruck von einem Horizont entstand. Sehr spannend fand ich dabei eigentlich den Übergang zwischen den beiden Räumen. Wenn man in einen schwarzen Raum hineinkommt, muss man sich ja immer erst mal an die Dunkelheit gewöhnen, die Augen sind überfordert und in dem Fall kam die akustische Überforderung noch dazu.

Wie waren die Reaktionen?

Benjamin Tomasi: Die Reaktionen waren ganz unterschiedlich. Manche haben das als sehr meditativ empfunden und waren dort sehr lange drin. Ich selbst kann nur dazu sagen, dass das Ganze für mich spezifisch nichts Eindeutiges bedeutet hat, ich also verstehen konnte, dass die Menschen unterschiedlich reagierten, die Installation ablehnten oder annahmen. Mein Ausgangspunkt war eine Auseinandersetzung mit frühchristlichen Sekten, die zu einer Zeit aufgekommen sind, als das Christentum noch nicht wusste, wohin es eigentlich möchte. Von diesen Sekten gab es ganz viele Untergruppen; was sie aber alle vereint hat, war der Glaube daran, dass das Heilige nicht von draußen, sondern von dir kommt. Also eine relativ humanistische Weltanschauung, die ich mir für diese Installation als Leitmotiv genommen habe.

„Absurdität hat mich immer neugierig gemacht.“

Du setzt dich häufig mit unterschiedlichen Kultur- und Lebenswelten auseinander, teilweise aus privater Motivation, teilweise arbeitsbedingt. Sind Reisen ein essenzieller Bestandteil deiner Arbeit?

Benjamin Tomasi: Das Reisen ist für mich definitiv ganz wichtig und ausschlaggebend. Ein neuer Ort löst neue Eindrücke, neue Empfindungen aus und man lernt sich selbst besser kennen. Selbst wenn es schwierig ist, sich auf einen Ort einzulassen, profitiert man zumindest immer von neuen Informationen. Vor zwei Jahren war ich zum Beispiel dank einer Residency in Armenien. Das war spannend, weil es mich zum einen oft an Orte verschlägt, die ich davor nicht kannte, und zum anderen an Orte, die ich schon immer aufsuchen wollte. In Armenien liegt thematisch sehr viel offen. Das Land hat eine sehr alte, sehr christliche und vorchristliche Kultur, mit alten Tempeln aus einer bronzezeitlichen Siedlung, daneben steht dann aber plötzlich ein Neubau aus der Sowjetunion, wieder daneben ein Hilton-Hotel. Absurdität hat mich immer neugierig gemacht. In dieser Zeit sind auch einige Arbeiten entstanden.

Benjamin Tomasi (c) Elis Unique

Du hast in Armenien für ein Videoprojekt zum ersten Mal mit einer Drohne gearbeitet.

Benjamin Tomasi: Ja, beziehungsweise habe ich dort zufällig jemanden gefunden, der eine Drohne hatte. Das war ein Künstler, der normalerweise Hochzeiten damit filmt, die in Armenien ja sehr spektakulär sind. Er hat mir auch paar seiner besten Aufzeichnungen gezeigt, das war sehr lustig.

Zwar eine ganze andere Kunstform, aber eine, die dich inspiriert?

Benjamin Tomasi: Ja, schon. Aber schwierig zu sagen, was mich wann und warum inspiriert. Oft passiert es, dass mir Ideen kommen, wenn ich auf experimentellen Konzerten bin. Im besten Fall startet bei mir dann ein Kopfkino.

Du startest deine Projekte meistens aus eigener Initiative, manchmal sind es aber auch Aufträge. Deine Arbeit „Alex“ ist 2014 im Zuge einer dreimonatigen Residency und Recherche in Bozen zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt entstanden und war bei der Ausstellung „cose da uomini / Männersache“ in der Galleria Civica di Bolzano zu sehen.

Benjamin Tomasi: Auslöser war eine Einladung, das Thema kam also eigentlich gar nicht von mir, sondern von der Kuratorin Susanne Sara Mandice, die drei künstlerisch tätige Männer engagieren wollte, die sich mit dem Thema befassen wollten und zwischen 30 und 40 Jahre alt waren, also genau in dem Alter, in dem die meisten gewalttätigen Männer laut Statistik Gewalt ausüben. Die Recherchezeit war unglaublich intensiv, wir hatten ganz viele Lectures, ganz viele Gespräche mit Polizistinnen und Polizisten, Psychologinnen und Psychologen, Philosophinnen und Philosophen und Justizwachebeamtinnen und -beamten.

Wie konntest du künstlerisch einen Leitfaden finden?

Benjamin Tomasi: Schlussendlich wollte ich mich damit auseinandersetzen, dass ich sprachlos bin. Dass ich dieses Thema für mich nicht adäquat übersetzen kann. Ich habe mich auf einen trockenen Text gestützt, der eigentlich wie eine Statistik funktioniert, rein faktisch und ohne Geschichte gewesen ist. Ich wollte die Emotionalität weglassen, nur die Fakten nehmen und dann durch den Wolf drehen. Ich habe den Text erst mal von der Apple-Software „Alex“ vorlesen lassen. Alex deswegen, weil es Mann und Frau sein kann. Und danach habe ich diesen Text wie ein Rauschen klingen lassen, damit alles wie Nebel war, man nichts mehr sah. Gewalt kann überall passieren, wir sind sprachlos und wir sehen nichts. Daneben stand ein Bild von Tina Modotti, einer wichtigen Frauenrechtskämpferin.

„[…] ich würde es nie forcieren, tagespolitische Kunst zu machen.“

Welche Rolle spielt die Tagespolitik bei deiner Arbeit?

Benjamin Tomasi: Tagespolitik finde ich schwierig. Ich würde es nie forcieren, tagespolitische Kunst zu machen. Mich beeinflusst das Zeitgeschehen persönlich stark, ich bin empört und gehe demonstrieren. Aber in meiner Kunst geht es mir viel allgemeiner um die menschliche Existenz, die nicht an Aktualität gebunden ist. Mich fasziniert, was der Mensch macht. Der Mensch ist Natur und auf der anderen Seite das Gegenteil, und er versteht beides nicht. Er versteht seine Natur nicht und versteht aber auch nicht, was er tut. Das finde ich sehr spannend.

Du meintest in einem Interview, Courage mache dich glücklich.

Benjamin Tomasi: Der Begriff ist auch schwierig. Für mich bedeutet Courage Selbstverantwortung. Also die Frage: Was tu ich mir an, was tu ich mir nicht an? Konsumiere ich zu viel, konsumiere ich zu wenig? Wenn ich mir diese Fragen stelle, für mich richtig beantworten kann und dann auch in die Tat umsetze, dann bin ich glücklich.

Stichwort Selbstverantwortung und Konsum: Welchen Stellenwert hat das Digitale für dich?

Benjamin Tomasi: Ich bin sehr fasziniert von der digitalen Welt. Ich bin jeden Tag im Netz unterwegs und betrachte es als öffentlichen Raum. Ich finde es großartig, was dort alles möglich ist. Was dort von sich gegeben wird. Das finde ich spannend, vor allem weitergehend die künstliche Intelligenz. Ist das noch ein Mensch oder ein Gott? Ist das falsche Information oder nicht? Das Internet ist wie ein großes Experiment, nur weiß niemand genau, damit umzugehen. Eigentlich ähnlich, was ich vorhin über die Menschen gesagt habe: Niemand weiß genau, was es ist, was es kann und wohin es geht.

Du hast 2012 in Japan für deine Videoinstallation „DL“ abgefilmte LED-Werbetafeln aus dem öffentlichen Raum übereinandergelegt, sodass die eigentliche Information nicht mehr zu erkennen war. War das Leitmotiv die Überforderung?

Benjamin Tomasi: Es geht auf jeden Fall um Überforderung und um das, was übrig bleibt, nämlich Licht. Ein Lichtsog, der dich einsaugt. Ob das sehr schön oder schrecklich ist, muss jede und jeder für sich entscheiden.

Im Zuge derselben Japan-Residency ist eine ganz ruhige, naturalistische Arbeit entstanden, nämlich „A“. In dem Video sieht man ein Stück Wald, in dem es regnet.

Benjamin Tomasi: Das war in einem Zen-Garten. Ein verrückter Ort. Japan ist generell speziell, wenn es darum geht, die Umwelt zu formen. Da funktionieren Werbetafeln ähnlich wie Natur. In diesem Zen-Garten ist einfach alles gebaut, alles geformt. Alles wie gemalt. Da hat mich die Frage beschäftigt, was echt und was nicht echt ist. Stehe ich wirklich vor Natur oder nicht? Und die Wahrheit ist, es stimmt ja immer beides.

Es sind ja nicht nur für dich Orte ausschlaggebend, sondern auch für deine Schwester, mit der du seit einigen Jahren arbeitest. Was ist euer gemeinsames Thema?

Benjamin Tomasi: Für Claudia ist das wichtigste Thema immer der Berg und für mich der Horizont. In dem Moment, wo man auf dem Berg steht, sieht man den Horizont, insofern passt das ganz gut zusammen, obwohl ich nie gerne auf einen Berg gegangen bin, ich habe immer lieber geschaut.

Ihr meintet mal in Zusammenhang mit eurem Projekt „Völs im Herzen“, ein neuer Ort sei eine neue Herausforderung.

Benjamin Tomasi: Das stimmt mit Sicherheit immer. Die Herausforderung war in diesem Fall besonders die Aufgabe, das Umfeld, das wir seit der Kindheit kannten, neu zu erforschen, uns einen Weg zueinander zu bahnen, aber auch zum Umfeld, das wir mit neuen Augen sehen wollten.

Mit Claudia spielt besonders die Körperlichkeit eine große Rolle. Wie hast du dazu einen Zugang gefunden?

Benjamin Tomasi: Bei meiner ersten Arbeit mit Claudia habe ich nicht nur musikalisch, sondern auch gleich körperlich performt. Ich war es überhaupt nicht gewohnt, auf der Bühne zu tanzen, mich zu bewegen. Deswegen hatte ich als Requisite eine Melone, einfach als Schutztier. Meine Schwester wollte einfach unbedingt, dass zwei ungleiche Körper auf der Bühne zu sehen sind, die zwar gleich aussehen, aber sich ganz anders bewegen. Das war eine große Herausforderung. Und deswegen war die Melone so wichtig für mich, weil ich etwas in der Hand hatte und wir gleichzeitig etwas damit machen konnten. Ich habe die Melone aufgeschnitten, in der Melone war ein Apfel drin und in den hat Claudia dann reingebissen.

Seit zwei Jahren arbeitest du auch mit Samuel Schaab zusammen, und zwar für HALL. Das Projekt oszilliert zwischen Klangkunst, Clubmusik, Theater und Performance. Würdest du auch sagen, dass Humor eine zentrale Rolle spielt? Hat sich das entwickelt oder war der Plan, sich aus dem Ganzen auch einen Spaß zu machen?

Benjamin Tomasi: Humor spielt auf jeden Fall eine große Rolle! Die Technik steht im Zentrum, gemeinsam mit Licht, Nebel, Rauch, Club- und Musikkultur. Wir arbeiten gerne mit Referenzen und wenn Leute bei bestimmten Passagen der Performance lachen ist das auch super.  Der Grat zwischen Ironie und Clownerie ist zwar sehr schmal, aber wir versuchen, das so hinzukriegen, dass es für uns passt.

„[…] etwas Neues ist immer der beste Ausgangspunkt.“

Es spielt ja auch wieder die Räumlichkeit eine Rolle für euch. HALL hatte im Schauspielhaus Wien eine Performance – in der Grellen Forelle würde die vielleicht wieder ganz anders aussehen?

Benjamin Tomasi: Ja, das stimmt! Mich würde das auch wahnsinnig reizen, mal in einem Club zu performen. Oder nicht nur auf der Bühne eines Theaters, sondern für ein Theaterstück. Da muss man natürlich jeweils von einer ganz anderen Aufmerksamkeit und Ernsthaftigkeit ausgehen, aber etwas Neues ist immer der beste Ausgangspunkt.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Julia Philomena

Termine:
18. Mai 2019 – Hall live, Punctum / Prag
29. Mai 2019 – Ausstellung in Prag 
22. Juni 2019 – Benjamin Tomasi Soundperformance, Club Radiokoje, Kongressbad Wien

Link:
Benjamin Tomasi (Website)
Benjamin Tomasi & Claudia Tomasi (Vimeo)
Benjmain Tomasi (Soundcloud)
Benjamin Tomasi (Vimeo)