Das brasilianische WIENER CHORO FESTIVAL feiert in diesem Jahr seine Premiere. Zwischen dem 25. und 27. Juni werden die Stadtbahnbögen 22-23 in eine Welt voller traditioneller Musik und spannenden Workshops verwandelt. Irina Stöckl hat mit dem Produktionsleiter und Sprachwissenschaftler Dr. Étienne Clément einen Blick hinter die Kulissen des Events geworfen und über die Geschichte des brasilianischen Choros gesprochen.
Was hat es mit dem Genre CHORO auf sich?
Dr. Étienne Clément: Das ist schwer zu erklären. Choro ist ein Musikgenre, das im 19. Jahrhundert in Rio de Janeiro geboren wurde. Es handelt sich um eine Fusion aus Polka, Walzer, europäischer Musik mit afrikanischem Einfluss. Zum Beispiel Capoeira oder Batuk. Man kann vielleicht sagen, Choro ist eine brasilianische Interpretation europäischer Musik. Letztes Jahr ist Choro 150 Jahre alt geworden. Es ist das erste Genre, das in Brasilien entstanden ist. Choro stellt heute aber nicht nur mehr alleine ein Genre dar, sondern eine Kultur. Er wird mittlerweile auf der ganzen Welt gespielt. Auch in Österreich, vor allem von Musikerinnen und Musiker, die aus Brasilien stammen und in den 1980er Jahren hierhergekommen sind, wie etwa Alegre Corrêa und Fernando Paiva.
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Wie würdet ihr die Musikrichtung „Moderno é tradiçāo“ beschreiben?
Dr. Étienne Clément: Der Choro ist in der europäischen Tradition des Jazz und der klassischen Musik ebenso zu finden, wie es auch umgekehrt der Fall ist. Musikerinnen und Musiker nehmen verschiedene Musikeindrücke auf und komponieren mit diesen einen neuen Choro. Jede Generation von Musikerinnen und Musikern bezieht Neues aus der Umgebung mit ein. Zum Beispiel Musik vom Balkan oder klassische Musik. Choro-Musikerinnen und -musiker sind sehr neugierig und lassen sich gerne inspirieren. Hamilton de Holanda hat einmal gesagt „Choro ist die Tradition im Modernismus. Es ist immer im Dialog. Es gibt keinen Modernismus ohne Tradition und ist ein Zusammenspiel aus allem. Die Idee ist der Einfluss.“
Viele brasilianische Musikerinnen und Musiker, die nach Wien gezogen sind, haben an der Kunstuniversität in Graz studiert. In Brasilien haben sie noch fast ausschließlich Samba gespielt, hier in Österreich sind dann die Einflüsse aus dem Jazz und der klassischen Musik hinzugekommen, wodurch sich der Choro wieder weiterentwickelt hat. Choro kann man also als einen Prozess ansehen. Ein Stil, der sich immer in anderer Form erneuert.
Als wichtiger Künstler des Choro Genres gilt übrigens der klassische Komponist Heitor Villa-Lobos. Er war Teil dieser brasilianischen Bewegung. Er hat lange in Frankreich gelebt und ist auch im Wiener Musikverein sehr angesehen.
Welche Message soll das Wiener Choro Festival an sein Publikum vermitteln?
Dr. Étienne Clément: Die Idee ist, dass wir eine Verbindung zwischen klassischer Musik und der Jazzszene fördern. Wir wollen erklären, woher die Musik kommt. Sie kommt aus Europa, aus Wien, aus Deutschland, aber wir möchten durch unser Festival auch diesen brasilianischen Akzent präsentieren. Wir haben viele Musikerinnen und Musiker aus Brasilien, die hier leben. Aber es gibt auch Musikerinnen und Musiker aus Österreich und Rumänien, die Choro Musik spielen. Unsere Idee ist, diese Interaktion zu fördern und so die Geschichte zu vermitteln. Wir können nicht über Choro sprechen, ohne dabei eine Verbindung zur europäischen Geschichte herzustellen. Wir müssen immer an die Verbindung zwischen Brasilien und Europa denken. Um das noch mehr zu fördern, gibt es bei diesem Festival neben Konzerten deswegen auch Vorträge über diese Themen.
Musik ist eine Sprache, um die Gesellschaft zu verstehen. Das Festival hat das Ziel, verschiedene Themen zu verbinden, um über die brasilianische Kultur und Politik nachzudenken. Ich bin auch Forscher und arbeite an der Uni. Wir sind als Musikerinnen und Musiker sozusagen Botschafterinnen und Botschafter von der brasilianischen Kultur und haben auch das Bedürfnis, über diese Themen zu sprechen und nicht nur Musik zu spielen. Das Publikum muss wissen, was in Brasilien gerade passiert.
„Wien atmet die Musik”
Wie seid ihr auf die Idee gekommen das Festival in Wien zu veranstalten?
Dr. Étienne Clément: Ich habe ein Motto auf portugiesisch: “A vida é arte do encontro“. Der Spruch ist von dem Poeten Vinicius de Moraes und heißt auf Deutsch: “Das Leben ist die Kunst, Menschen zu treffen“. Ich habe vor zwei Jahren ein paar Musikerinnen und Musiker in Frankreich auf einem Festival getroffen. Zum Beispiel die jetzigen musikalischen Leiter des Festivals Antônio de Pádua und Marco Antônio de Costa, die mit mir das Festival in Wien veranstalten. Sie haben mich damals gefragt, wo ich jetzt hingehe und da der Sohn von Antônio de Pádua Drummer in Wien ist, haben wir beschlossen, zusammen einen Club in Wien zu organisieren. Vor zwei Jahren besuchten wir ein Konzert von Alec Corer. Dem ist es auch sehr wichtig, brasilianische Musik zu unterrichten und an andere zu vermitteln. Er sagte mir nach dem Konzert, dass man in Wien so eine Szene organisieren muss. Es gäbe in Wien zwar gute brasilianische Musikerinnen und Musiker, die brasilianische Musik selbst ist hier aber nicht repräsentiert. Die meisten Musikerinnen und Musiker spielen Jazz und klassische Musik und wollen ihre Identität nicht präsentieren bzw. ihre Einflüsse nicht zeigen. Was sehr schade ist, denn von der Qualität her, sind alle diese Musikerinnen und Musiker wirklich top. Vielleicht hat aber auch einfach nur der richtige Anlass gefehlt, dies zu tun.
Aus diesem Grund habe ich mich mit anderen Musikerinnen und Musikern mit dem Ziel zusammengeschlossen, einen Choro Klub in Wien zu gründen. Etwas Ähnliches habe ich ja auch schon in Frankreich gemacht. Ich habe allen gesagt: „Ich bin da und wir können das schaffen. Ich gründe den Verein, suche Lokale, suche Studenten und Let´s Go“. Zunächst waren einige noch skeptisch, aber dann beschlossen wir, uns darauf zu fokussieren. In den letzten 2 Jahren haben wir viele Workshops, Jamsessions und Konzerte veranstaltet. Das Wiener Choro Festival selber war eigentlich auch schon für das letzte Jahr geplant, nur kam dann Corona dazwischen. Es war auch nicht einfach, weil ich kein professioneller Veranstalter bin. Aber unsere Vision war so stark, dass es geklappt hat. Wir haben quasi eine Art Bewegung gegründet, der mittlerweile 20 bis 30 Studentinnen und Studenten angehören.
Ein nächster Schritt wird sein, mit dem Festival auch Verbindungen in andere Länder und Städte aufzubauen. Aber zuerst mal lassen wir es in Wien mit einem kleinen Publikum stattfinden. Wien atmet die Musik. Es gibt hier eine starke Tradition.
Wann findet das Festival statt und an welchem Standort?
Dr. Étienne Clément: Das Festival findet vom 25. bis zum 27. Juni mit der Konferenz, den Workshops, der Choro-Jamsessions und den Konzerten im Fanialive sowie in der COCO Bar statt. Eröffnet wird es mit einer Vernissage im Fania 1 in der Yppengasse.
Was erwartet das Publikum auf dem Festival?
Dr. Étienne Clément: Ich habe viele Studentinnen und Studenten getroffen, die schon sehr gespannt auf die Workshops sind. Aber auch viele Professorinnen und Professoren freuen sich auf das Festival. Wir haben diese Freundschaft zwischen den Studentinnen und Studenten und Lehrerinnen und Lehrern. Die Leute wollen etwas trinken, sich austauschen und die Musik hören. Sie kennen unsere Qualität und wollen an Jamsessions teilnehmen. Es gibt keine Grenzen. Viele wichtige Jazzmusikerinnen und -musiker werden dabei sein und sie können mit dem Publikum zusammenspielen. Bei diesem Festival gibt es keine symbolischen Grenzen zwischen Bühne und dem Publikum. Zusammen feiern, jammen und über brasilianische Kultur und Politik sprechen. Ich denke, dass deswegen auch viele kommen werden.
Welche Künstlerinnen und Künstler werden auf dem Festival auftreten?
Dr. Étienne Clément: Ich muss leider gestehen, dass nur wenige Künstlerinnen am Programm beteiligt sind, obwohl ich unbedingt eine Quote von 50 % Künstlerinnen im Programm erreichen wollte. Aber es ist sich für dieses Festival leider nicht ausgegangen. Dafür präsentieren wir aber Fotos von Fernanda Nigro. Und wir haben auch die Künstlerin Roberta Karin im Programm. Aber ich denke, dass das bei der nächsten Ausgabe anders sein wird.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Irina Stöckl
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