Der Versuch einer Bestandsaufnahme des österreichischen Singer-Songwriting seit dem Jahr 2000. Von Robert Rotifer.
Anfang der Nullerjahre muss es gewesen sein, da spielte die Band Alalie Lilt „irgendwo draußen in der Pampa.“ Eine Reporterin der Nieder- österreichischen Nachrichten kam vorbei und stellte Clara Humpel, der Sängerin der Band, die Standard-Frage nach ihren musikalischen Einflüssen: „Ich hab gesagt, ich verorte mich in der amerikanischen Singer-Songwriter-Tradition.“ Im Artikel der NÖN fand sich die Antwort als „Sing-a-song-writer“ transkribiert. „Exemplarisch“, wie Humpel, heute besser bekannt als Clara Luzia, rückblickend meint.
Tatsächlich war Österreich historisch nie ein guter Boden für jenes Genre gewesen, dessen Name in Wahrheit nur seinen Herstellungsprozess beschreibt. „Das Wort Singer-Songwriter ist die Behauptung einer Kunstform, die einzig darauf beruht, dass einer, der Lieder schreibt, sie auch vortragen kann“, übersetzt Ernst Molden ernüchternd und charakterisiert die in den letzten sechs bis acht Jahren an- und abgeschwollene Welle österreichischer Singer-Songwriter-Begeisterung als „harmlose Plage nicht schädlicher Nagetiere.“ Andererseits sei, sobald man über den mit einer akustischen Gitarre behangenen Genre-Stereotyp hinausblickt, durchaus eine Blüte der „auktorialen Popmusik“ zu beobachten, die neben Mika Vember, Clara Luzia und Anna Kohlweis (Paper Bird bzw. Squalloscope) genauso gut auch Gustav beinhaltet. „Wir sitzen noch immer am Lagerfeuer, aber heutzutage kann es auch ein elektronisches sein“, formuliert Klaus Totzler, Journalist und Co-Gründer der Vienna Songwriting Association, distanziert sich aber von jeder Assoziation seines Sinnbilds mit dem deutschsprachigen Typus des Liedermachers: „Dessen Zeit ist vorbei.“ Und da endet auch schon der Konsens. „Das Liedermacherwort ist durchaus ein ehrenwertes“, widerspricht Ernst Molden, „das den Schrecken seiner Auswüchse der deutschen Laubsäge-Liedermacher schon lange abgelegt hat.“
Im Kern dieser Meinungsverschiedenheit liegt einer der Hauptgründe für das späte Keimen der Singer-Songwriterei in Österreich runde 40 Jahre nach ihrem ersten angloamerikanischen Boom, 20 Jahre nach dem ersten Auftauchen von Anti-Folk bzw. ein halbes Jahrzehnt nach der großen Fingerpicking-Renaissance des sogenannten New Acoustic Movement in Großbritannien und Skandinavien. Der die Hippie-Traumata der Post-Punk-Generation beschreibende, alte Morrissey-Schmähsatz aus „Shakespeare’s Sister“ „I thought if you had an acoustic guitar / Then it meant that you were / A protest singer“ schien hier länger als sonstwo auf seine Pointe zu warten: „Oh I can smile about it now / But at the time it was terrible.“ Ewig regierte im deutschsprachigen Raum das mit gestrigen Denkschemata handlich konform gehende Anti-Warmduscher-Ethos des Rockismus. Dazu gesellte sich in den Neunzigern noch die von einem fehlgeleiteten Progressivgedanken inspirierte Annahme, der Track werde endgültig die antiquierte Form des Lieds ersetzen. Ein Irrtum, der immerhin dazu gut war, zehn Jahre später elektronischen Acts Gelegenheit zur „Wiederentdeckung“ der Songform zu geben. Aber ich schweife ab.
Was alle vereint, die für diesen Text befragt wurden, ist jedenfalls ihre Weigerung, sich selbst als Teil irgendeiner Form von Singer-Songwriter-Bewegung zu begreifen. Nicht umsonst repräsentiert das von ihnen gewählte Format den Inbegriff musikalischer Egomanie. Sie sei „nicht wahnsinnig teamfähig“, sagt etwa Clara Luzia. Georg Altziebler, seit 2003 als Son of the Velvet Rat einer der eigensinnigsten und gerade deshalb überzeugendsten Singer-Songwriter des Landes, bekennt wiederum offen, dass er nach dem „kreativen Ausfransen“ seiner alten Band Bloom05 (schon in den frühen Neunzigern als Pure Laine bekannt) einfach „nicht mehr künstlerische Prozesse mit anderen diskutieren wollte. Daher war die Solo-Sache für mich ein logischer Schritt und auch eine glückliche Entscheidung.“ Altziebler ist grundsätzlich kein menschenscheuer Gesellschaftsfeind. 2005 veranstaltete er ein gelungenes zweitägiges Festival mit dem Titel „Blue Moon“ im Grazer ppc, bei dem er – nicht ohne Sinn für Ironie – zehn Singer-Songwriter (inkl. mir selbst) zur gemeinsamen Huldigung der archetypischen Hart/Rogers-Hymne an den Solipsismus einlud („Blue moon / You saw me standing alone“).
Ein launiges Love-In zur Pflege der Community ist allerdings sichtlich nicht seine Sache: „Es gibt in Österreich zwar viele Singer-Songwriter, aber wenige davon finde ich beeindruckend. Alles eh nett und herzig irgendwie. Ich bin auch in dieser Szene nicht vernetzt bzw. auch persönlich nicht verbunden“, sagt Altziebler in seiner Email aus L.A., wo er gerade – möglichst weit weg von zuhause – an seinem nächsten Album arbeitet. Tatsächlich übt niemand schärfere Kritik an der Figur des Singer-Songwriters als narzisstischer Fadgas-Produzent als seine KollegInnen, derer es aus Prinzip immer zu viele gibt – ein logisches Problem der dem Genre innewohnenden Selbstermächtigung, potenziert durch die billige Erhältlichkeit digitaler Aufnahmetechnik. „Jeder kann sich Songwriter nennen“, sagt der Bernhard Eder, der Mitte des vergangenen Jahrzehnts infolge seines temporären Umzugs nach Berlin seine Stammband Wa:Rum aufgab und sich mit atmosphärischen englischsprachigen Eigenbrötler-Songs und seinem eigenen Plattenlabel Tron Records auf eigene Füße stellte. Mittlerweile zeigt er sich überfüttert durch „zuviel Akustik, zuviel Melodica und Geigen.“ Wenn ein Sound „so massentauglich wird“, fühle er sich unwohl. Also hat er sich nun erst recht wieder eine elektrische Band zugelegt. Seine Band, wohlgemerkt, zur Begleitung seiner Songs, nicht zum stundenlangen Jammen im Verein – eine wesentliche Unterscheidung, die selbst Gitarre-, Bass- und Schlagzeug-Line-Ups einen vom Typus der Band als von ihrer gemeinsamen Dynamik beseelten Gang weit entfernten Vortragston verleiht. Siehe etwa die Salzburger Songschreiberin Mel, die solo oder mit Band gleichermaßen den Eindruck einer Begegnung unter vier Augen vermittelt.
Oder Florian Horwath mit seiner von Album zu Album sorgfältig neu kuratierten Inszenierung, in der er als künstlerischer Freigeist durch die Welt des konventionellen Musikertums schwebt. Oder Violetta Parisini, Coshiva und Lylit, deren Songwriting in der Schule des Autorinnen-Soul und R&B verwurzelt ist und die live genauso gut im Ensemble wie völlig allein in Erscheinung treten. Oder Ernst Tiefenthaler alias Ernesty International, der live in großer Besetzung umsetzt, was er in seinem Heimstudio großteils als Ein-Mann-Band entworfen hat. Oder Willi Landl, der auch im Verein mit seinem Jazz-Ensemble immer mehr Autor ist als Solist oder Bandleader.
Oder das spannende Alternativ-Modell eines Kollektivs einander gegenseitig begleitender Singer-SongwriterInnen. Zwei herausragende Beispiele dafür sind Nowhere Train (Jakob Kubizek, Stephan Stanzel, Frenk Lebel, Stefan Deisenberger und Ian Fisher) und Loose Lips Sink Ships (Meaghan Burke, Mimu Merz, Simon Usaty, Werner Kitzmüller, David Schweighofer und Matthias Frey), beides Zusammenschlüsse von Persönlichkeiten, die jede und jeder für sich kein Problem damit hätten, eine Bühne im Alleingang zu bespielen. An dieser Stelle muss ich als Autor Befangenheit bekennen: Anfang der Neunziger vergeudete ich einiges an ergebnislos verpuffter Energie an den Versuch, in Wiener Konzertlokalen Solo-Auftritte zu organisieren. Solcherlei Selbstüberschätzung wurde damals von VeranstalterInnen kaum für abendfüllend erachtet, es sei denn, einer hieß Bernd Begemann und kam von ferne her.
Zehn Jahre später kämpfte Clara Humpel immer noch mit demselben Problem. Inspiriert von Ani Di Franco, deren „politischem Anspruch“ und anderen „Frauen mit Gitarren“, die sie beim Herumstöbern auf dem sich gerade erst zur Musikplattform entwickelnden Internet entdeckt hatte, begann sie, „Nummern zu schreiben und herumzuklampfen.“ Aber als Solo-Act „waren keine Konzerte zu kriegen.“ Also formierte sie mit ihrer Schwester und ein paar Freundinnen Alalie Lilt als Vehikel für ihre Songs, selbst wenn der Rest der Band nicht ihre musikalischen Vorlieben teilte. Ein paar durchaus erfolgreiche Alben später entschloss sich Clara Luzia, wie sie nun hieß, um 2005 herum dann doch zu einer Solokarriere. Aus dem Kreis der MusikerInnen, die sie dabei live und im Studio begleiteten bzw. rund um Claras eigenes Label Asinella Records bildete sich eine der Hauptquellen der Wiener Singer-Songwriting-Szene, siehe Percussionistin Mika Vember, Multiinstrumentalist und Produzent Alexander Nefzger, sowie Schlagzeuger Bernhard „Börn“ Moshammer. Eine der erstaunlichsten Asinella-Entdeckungen der späten Nullerjahre war die mutig spröde Marilies Jagsch, die einen ihrer ersten Solo-Auftritte 2007 bei der Veranstaltungsreihe „Songwriter-Gipfel“ gespielt hatte. Für diesen einen Abend trug sie das Pseudonym Emmylou Reed, das ihr kein anderer als Ernst Molden angedacht hatte.
Dahinter steckt lange Geschichte, die erzählt zu werden lohnt, schließlich war die Blase rund um Molden eine weitere unbewusste Singer-Songwriter-Kaderschmiede jener Zeit. In den Elektronik-begeisterten Mitt- bis Spätneunzigern war Molden mit seiner Band Teufel und der Rest der Götter der damals denkbar uncoolsten Fusion von Folk und Poesie, einem „literarischen Liedermacherprojekt“, nachgegangen. Nach dem Ende seiner nächsten Formation Nachtbus waren ihm, wie er selbst sagt, „nach und nach die Mitmusiker weggebrochen. Ich war entblättert worden wie ein kranker Baum, der keine Musiker mehr tragen kann.“ Bei einem Auftritt im Chelsea im Jahre 2002 entdeckte ihn der dortige Booker, Autor und Linzer Punk-Legende Rainer Krispel, mit dem Molden später das gelegentlich zum Trio auswachsende Duo The Red River Two gründen sollte.
Molden fand seinen idealen Schlagzeuger im Kärntner Wahlwiener Heinz Kittner und schließlich 2005 einen neuen Bassisten namens Stephan Stanzel. „Er war ein Fan von mir, schon relativ früh, wo das noch ziemlich obskurantisch war, zu meinen Auftritten zu kommen,“ erzählt Molden, „Und kaum hat er begonnen, bei mir in der Band zu spielen, bin ich krank geworden und hab ein Jahr lang nur drei oder vier Gigs gespielt.“ Mit einem Theatermusikauftrag für 20 Abende am Burgtheater raffte Molden sich schließlich zu einer Rückkehr an die Öffentlichkeit auf und stieß dabei, offene Feindseligkeit gewohnt, auf immer mehr offene Ohren. Der Schlüssel dazu war das Entstehen eines von medialem Zuspruch unabhängigen Kreises von Verbündeten. In seiner Nachbarschaft im dritten Wiener Gemeindebezirk hatte Molden die Wirtin seines liebsten kleinen Trinklokals, des seit den Siebziger Jahren so gut wie unveränderten Mali-Pop in der Ungargasse überredet, ihr Etablissement für einen musikalischen Abend zur Verfügung zu stellen.
Eine Gruppe von Kunststudentinnen hatte mit Stephan Stanzels neuer Band A Life A Song A Cigarette (ihrerseits ein klassischer Fall von Singer-Songwriter-Musik in Band-Format) ein Video gedreht. Eine der Studentinnen war Marilies Jagsch. Die habe auch Songs, ließ ein verliebter Stanzel Molden wissen, und das Ergebnis war der erste Teil einer Reihe von insgesamt sechs „Songwriter-Gipfeln“, die von da an im Project Space der Kunsthalle am Karlsplatz stattfinden sollten. Spätestens ab hier sind die Verflechtungen nicht mehr zu entknüpfen, denn an diesen Abenden spielten unter anderem auch Clara Luzia, sowie Christian Wirlitsch, Laura Rafetseder und ein gewisser Hubert Weinheimer bzw. sein mit dem Exil-Deutschen Hans Wagner frisch gegründetes Duo Das Trojanische Pferd. Die Geschichte der Bekanntschaft zwischen Weinheimer und Molden ging auf einen weiteren Nährboden der Wiener SängerInnen- und SongschreiberInnenmanie zurück, nämlich die Vienna Songwriting Association, kurz VSA.
Schon Anfang des Jahrtausends hatten der ORF-Kultur-Journalist Klaus Totzler und FM4-Mitarbeiterin Jenny Blochberger begonnen, Bands zu Konzerten in ihrer Wohnung einzuladen, die dann auch noch mitgefilmt wurden – von den burgenländischen Pop-Poeten Garish über Ex-Play the Tracks of-Sänger Frenk Lebel, das Billy Rubin Trio, den Exil-Amerikaner Ian Fisher, Dorit Kreisler, Marilies Jagsch, den Exil-Amerikaner Daniel Smith (damals Mölksmith), den Iren Robotnik und Firewater-Keyboarder Paul Wallfischs Botanica und die omnipräsente Clara Luzia bis hin zu einem der ersten Solo-Auftritte von Eloui. 2004 heckten Totzler, Blochberger, Mölksmith, Eva Woska von der Folk-Band Peony and Seaweed und Manfred Horak vom Online-Magazin Kulturwoche die erste Veranstaltung der Vienna Songwriting Association aus: „Fruit Tree“, ein Tribute-Abend zum 40. Todestag von Nick Drake im Wiener Porgy & Bess, unter anderem mit David Kitt und Martin Finke aus Irland, The See Saw (alias Stootsie aus Salzburg, zu jener Zeit gerade ohne Band), Daniel Mölksmith, Lovely Rita, Novi Sad, James Harries, Nikko Weidemann, Pollard Berrier (sonst auch bei Bauchklang), Garish, Son of the Velvet Rat, Bernhard Eders Band Wa:Rum, sowie meine Wenigkeit.
Der Abend war ausverkauft und ermutigte die VSA dazu, jährlich ein internationales Songwriter-Festival namens „Bluebird“ zu veranstalten. In den kommenden Jahren sollten dort Andreas Spechtl (von den damals noch unbekannten Ja, Panik!), Alalie Lilt und Bernhard Schnur (in den Neunzigern Frontman bei Snakkerdu Densk), Agnes Milewski, Anna Kohlweis als Paper Bird und Squalloscope, Gustav, Marilies Jagsch, Clara Luzia, Lonely Drifter Karen, Pieter Gabriel, Sweet Sweet Moon, Mika Vember und Garish auftreten. Dazu kamen Konzerte der Reihen „VSA presents“ und „VSA specials“, bei denen sich Namen wie Martin Klein und Simon Usatys Protestant Work Ethic unter internationale KünstlerInnen mischten, die keine Veranstalter außer der VSA buchen wollten – in der Fehlannahme, es gäbe für Singer-Songwriter-Konzerte keinen Markt; seither hinreichend widerlegt durch engagierte Plattformen wie platoo in Graz, den Roten Salon in der Arge Salzburg, die Songreiterei im Wiener Augarten und einige mehr an allen Enden Österreichs. Zum Auftakt des zweiten Blue Bird-Festivals fand eine Podiumsdiskussion statt, an der unter anderem Ernst Molden, Klaus Totzler, der Profi-Musiker Thomas Rabitsch und Falco-Macher Markus Spiegel teilnahmen. Es war nach Moldens Erinnerung eine eher träge Affäre, bis zu dem Moment, als „ein extrem bärtiger Typ“ auf die Bühne kam und „Borgts ma ana die Gitarr!“ rief.
Der musikalische Spontan-Aktionist war niemand geringerer als Hubert Weinheimer. Es sollte bis 2009 dauern, ehe – vielsagenderweise auf Cheap Records Rock!, dem Rock-Ableger des Labels der Techno-Pioniere Pulsinger/Tunakan – das Debüt-Album seines gemeinsam mit Hans Wagner gegründeten Duos Das Trojanische Pferd erschien; ein gewagter Ausritt in Richtung hochdeutschen Melodramas ohne falsche Scham und Höflichkeit. Althergebrachte Annahmen über Coolness und Peinlichkeit wurden genüsslich ignoriert, Zeugnis eines Selbstbewusstseins, das der muttersprachlichen österreichischen Songschreiberei seit dem Niedergang des Austro-Pop abhanden gekommen war. Bei Gelegenheit eine kleine Zwischenbemerkung, wo hier zuvor schon der Name Andreas Spechtl fiel: Natürlich gehören Ja, Panik! mit ihrem offensichtlichen Dylan-Bezug auch in die hier beschriebene Welt, die Burgenländer teilten sich schließlich damals auch den Meidlinger Probekeller, ihren ersten in Wien, durch dessen Lüftungsschlitze das Laub von der Straße herein gefallen kam, mit ALASAC und Ernst Molden, den ich selbst erst um 2006 oder 2007 kennen lernte, und zwar über Myspace.
Der Niedergang jener ersten großen Web 2.0-Plattform gegen Ende des letzten Jahrzehnts war so rapide, der Hype davor so überzogen, dass es aus heutiger Sicht schwer fällt, sich in den Enthusiasmus der Myspace-Tage hinein zu versetzen, aber wie Molden richtig behauptet, gab es eine Zeit, da man sich dort „jeden Tag in einen neuen Musiker verknallen“ konnte. MusikerInnen, die keinerlei persönliche Verbindung zu den etablierten Szenen hatten, stellten ihre Heimdemos ins Netz und gerieten an Ohren weit außerhalb der Hörweite ihrer lokalen Umgebung, so zum Beispiel auch mich in England.
Einer von ihnen kam aus jener klassischen Brutstätte des Pop namens Hietzing und hieß bezeichnenderweise M.O.B., Mann ohne Band. Raphael Sas sollte als Mob ohne Pünktchen mit seiner Band zwei der unterbelohntesten österreichischen Pop-Platten der letzten Jahre veröffentlichen, bis heuer schließlich sein erstes Solo-Album unter seinem bürgerlichem Namen erschien. Dazwischen spielte er aber auch Klavier und Gitarre in der Band eines anderen jungen Songschreibers, dessen erste paar Demos mich damals über ein obskures Myspace-Konto aus Floridsdorf namens „Problembär“ erreichten: Der Nino aus Wien war ein singender Songschreiber, wie ihn sein Land noch nie gehört hatte. Anders als der ihm an Exzentrik gleichkommende Sir Tralala war er kein Multiinstrumentalist, der sich selbst zur Band erheben konnte, sondern ein furchtloser Meister der Reduktion musikalischer Manierismen zugunsten des manchmal schneidenden, manchmal kunstvoll stockenden Worts. Einer, der schon mit 21 kaltschnäuzig genug war, sein Publikum warten zu lassen. Auf die nächste Zeile oder die nächste Bewegung. Genau so lang, wie es braucht. Die Ankunft des Nino aus Wien markiert den Zeitpunkt, da insbesondere die Wiener Songwriter-Szene, wie Ernst Molden es formuliert, von dem Streben nach einem internationalen Niveau zur Etablierung von einer Art „Wiener Niveau“ fand, das „in den besten Momenten was von Cabaret Voltaire (dem historischen Dada-Club, nicht der nach ihm benannten Industrial-Band, Anm.), in den schlechtesten was von einem Handarbeitskurs an sich hat.“ Eine Zusammenarbeit, die sich zu jener Zeit ewig anzukündigen schien, aber über gemeinsame Bühnenmomente und private Konferenzen nie hinaus ging, war die zwischen dem Nino aus Wien und einer singenden Songschreiberin, die im Gegensatz zu ihrem geselligeren jungen Kollegen völlig außerhalb des beschriebenen Kosmos zu existieren schien.
Anja Plaschg, die von 2006 an unter dem Namen Soap&Skin auftrat, hatte 2008 als bloß 18-jährige mit der Titelrolle im Stück „Nico – Sphinx aus Eis“ die ideale Plattform zur Etablierung ihres Rufs als geniale Wiedergängerin jener verstorbenen Avant-Pop-Legende gefunden – auch wenn Nico im Vergleich zu Plaschg erst wesentlich später mit dem Schreiben eigenen Materials begann. Soap&Skins Debüt „Lovetune for Vacuum“ erreichte einen in Österreich für herausfordernde Musik am äußersten Rand des Popbegriffs ansonsten völlig unvorstellbaren Platz fünf der Album-Charts, sie wurde damit – ganz abgesehen von ihrem internationalen Status – zur kommerziell bei weitem erfolgreichsten Vertreterin des österreichischen Singer-SongwriterInnen-Booms. Welchen es ja so nie gab, wenn man seine VertreterInnen fragt. „Da war kein Boom, weil niemand ist reich geworden“, bringt es Ernst Molden auf den Punkt. Selbst eine Clara Luzia könnte „ein bisschen mehr Geld gut brauchen, weil ich immer im Dispo am Rand zur Hölle herumgrundel.“
Und somit kommen wir zu guter Letzt zum prosaischsten aller Gründe für das Erstarken des Singer-Songwriter-Formats im vergangenen Jahrzehnt: In einem zunehmend ausgehungerten Musikmarkt erscheint die Kombination von Gitarrenkoffer und ÖBB-Vorteilscard als ökonomisch zwingende Lösung für MusikerInnen mit unbeugsamem Sendungsbewusstsein. „Deswegen spiel ich jetzt auch ganz gern allein, weil da bleibt unterm Strich schon mehr über“, gibt Clara Luzia zu, „Obwohl es potenziert schon mehr Spaß mehr macht, je mehr Leute ich mit mir auf der Bühne hab.“ Auch Bernhard Eder, der nach seinen Berliner Jahren immer noch rege Kontakte in Deutschland unterhält, geht international alleine auf Tour. „So kannst du zurückkommen und ein gutes Packl Geld auf die Bank mitnehmen.“
Der soziale Subtext ist klar: Letztendlich ist die Singer-Songwriterei als das pop-musikalische Äquivalent des Freelancer-Modells in ihrem unaufhaltsamen Drang zur Melancholie sowohl Symptom als auch Ausdruck einer individualisierten, entsolidarisierten Gesellschaft, wie geschaffen zur Vermittlung von Einzelgängerperspektiven für Einpersonen-Haushalte in der Abgeschiedenheit des Klangkonsums per Kopfhörer.
Dementsprechend gibt es in diesem Genre ganz genau wie in der Wirtschaftslage eben auch keinen Boom, sondern einfach ein beharrliches Weiterstrudeln. Selbst wenn der Pop-Traum mit der Illusion der ewigen Konsumgesellschaft zu Ende gehen sollte, was zu singen wird es immer geben.
PS: Bitte um Vergebung an Norb Payr im Namen aller anderen verdienten Singer-SongwriterInnen, deren Nennung im obigen Text dem Versuch zum Opfer fiel, die große Vielfalt des Genres in einem Narrativ zu vereinen.
Foto Clara Luzia © Sarah Haas
Foto Ernst Molden © Magdalena Blaszczuk
Foto Son of the Velvet Rat © Gert Kragol
Foto Bernhard Eder © Werner Zettinig
Foto Nowhere Train © Andreas Jakwerth
Foto ALASAC © Andreas Jakwerth
Foto Nino aus Wien © Pamela Russmann
Foto Soap&Skin © Marco Prenninger