Bernd Richard Deutsch – Nachtseiten, Krisen, Abgründe

Das Werk “Martyrium oder Die Dinge sind” vom österreichischen Komponisten Bernd Richard Deutsch erlebte am 8. Februar dieses Jahres im Stuttgarter Theaterhaus seine Uraufführung. Ein kleiner Leitfaden durch dieses gewaltige “Neurotische Oratorium” von Walter Weidringer.

 “Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht”: Die hellsichtige Erkenntnis des geschundenen Woyzeck in Büchners gleichnamigem Dramenfragment formuliert zugleich ein künstlerisches Bedürfnis (nicht erst) der Moderne, die Widrigkeiten, Nachtseiten und Krisen des menschlichen Daseins zu benennen und zu bannen. Den musikalischen Blick in einen solchen riesenhaften psychischen Schlund wagt nun Bernd Richard Deutsch in seinem bisher umfangreichsten Werk. Im Auftrag des SWR Stuttgart und zum größten Teil bereits 2001 entstanden, aber in vierjähriger Arbeit mehrfach umgestaltet, bis die endgültige Fassung feststand, gibt Martyrium oder Die Dinge sind ausführlich-detaillierten Einblick in die Geistesverfassung eines manisch-depressiven Menschen, eines Künstlers (Schriftstellers, wie der Komponist präzisiert) in psychischer Krise zwischen Depression und Kreativität, Alkohol und Tabletten, der bereits mehrmals in stationärer psychiatrischer Behandlung war und an einer problematischen Beziehung zu einer Frau leidet und zum Teil von einer mephistophelischen Figur verfolgt und von deren Einflüsterungen getrieben scheint. – Dafür ist konsequenterweise ein Riesenapparat nötig: drei Gesangssoli (Sopran, Tenor und Bariton), zwei Sprecherparts, großer Chor, Orchester (u. a. mit vierfach besetzten Bläsern und reichhaltigem Schlagzeug) und Orgel nebst Videozuspielungen, die unter der Regie des Komponisten eigens produziert wurden und das “Neurotische Oratorium”, so der Untertitel, auch zum multimedialen Kunstwerk machen.

 

Den Text dazu hat der Komponist selbst aus ganz verschiedenen Quellen so zusammengestellt, dass die einzelnen Stellen zum Teil dialogisierend abwechseln. So treffen einander Dante Alighieri (1265-1321) mit seiner Divina Commedia, übersetzt von Wilhelm G. Hertz, der deutsche Barockdichter Andreas Gryphius (1616-1664), der niederländische Maler Vincent van Gogh (1853-1890), der durch eigene Hand gestorben ist, der an Syphilis zugrunde gegangene Komponist Hugo Wolf (1860-1903), dessen geistige Verwirrung einen Selbstmordversuch im Traunsee zur Folge gehabt hatte, der linke italienische Schriftsteller Cesare Pavese (1908-1950), der sich mit einer Überdosis Schlafmitteln das Leben nahm, der provokativ-avantgardistische österreichische Schriftsteller Konrad Bayer (1932-1964), der ebenfalls den Freitod gewählt hat, zwei weitere österreichische Literaten, die durch tragische Umstände ums Leben gekommen sind, nämlich der alkoholkranke Dramatiker Werner Schwab (1958-1994) und die Lyrikerin und Schriftstellerin Ingeborg Bachmann (1926-1973), sowie als einziger lebender Autor der 1947 geborene deutsche Philosoph und Essayist Peter Sloterdijk.

 

Bei der Erstellung des collagierten Librettos sei ihm bald klargeworden, verrät der Komponist in seinem Konzept für die Videozuspielungen, “dass es sich um drei Arten von Text handelt: zu singender ,lyrischer’ Text [.], zu sprechende Texte [.] und solche, die einer visuellen Umsetzung bedürfen, also ein szenisches Element aufweisen, was den Einsatz von Videozuspielungen nahelegt. Bei den Videos handelt es sich somit um einen integralen Bestandteil des Werks und der Vermittlung eines großen Teils der darin vorkommenden Textpassagen.”

 

 
Der Titel des Oratoriums ist eine inhaltliche Gegenüberstellung zweier Pole, drückt alternative Weltsichten aus: “Das Wort ,Liebe zur Kunst’ ist nicht richtig; man müsste Glauben sagen, Glauben bis zum Martyrium” heißt es in einem Brief van Goghs, während Konrad Bayer lakonisch feststellt: “DIE DINGE SIND IN ORDNUNG / DIE DINGE SIND IN DER ORDNUNG / DIE DINGE SIND”. – Ob man also überzeugt ist, ein Martyrium zu durchleiden, oder ob man einfach akzeptiert, wie “die Dinge sind”, bleibt dem einzelnen überlassen. Die dreizehn Teile des eineinhalbstündigen Werks gehen ineinander über und sind nur an wenigen Stellen durch Generalpausen getrennt. Drei große Orchesterzwischenspiele an zweiter, vierter und achter Stelle zeigen in den Worten des Komponisten eine klare “Tendenz nach unten”, beschreiben ein großes Absacken der Kräfte: Vom Schaffensrausch im ¾-Takt der Energie über den als Filmmusik zu realisierenden Abschnitt Ein Hundeleben bis zu Der Rhythmus der Einsamkeit verläuft ein großer, erschlaffender Bogen. Lärmende Geschäftigkeit kann eben auch dazu dienen, Probleme zuzudecken – und mündet nur allzu oft in Depression.

Inschrift (1.) – Leise eröffnet der Chor das Werk mit jenem Spruch, der in Dantes Commedia über dem Tor der Hölle geschrieben steht: “Durch mich gelangt man zu der Stadt der Schmerzen.” – in Stein gehauene, bald schmerzlich sich aufbäumende Expressivität, die in die schon erwähnte Energie (2.) übergeht. Die hyperaktive, vielfältige Geschäftigkeit flaut ab und öffnet das Tor zu Die Hölle (3.): Ein rezitativisches Posaunensolo und das Intervall der pendelnden kleinen Terz ruft Assoziationen an Gustav Mahler hervor (namentlich Dritte Symphonie). “Ach! und Weh!”, klagt der Solosopran zunächst allein, dann im Duett mit dem Bariton, während der Chor Gryphius’ Gedicht Die Hölle skandiert: “Mord! Zetter! Jammer / Angst / Creutz! Marter! Würme! Plagen .” Allmählich weitet sich der Ambitus im Chor, bis sich schließlich in dramatischen Aufwallungen auch Schreie und Pfiffe ins Geschehen mengen. Da hat jedoch bereits der Sprecher 1 alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen: “Durch Lüfte hört ich ohne Sternenlicht.”, so setzt er (notiert mit angedeuteten Tonhöhen) Dantes Dritten Höllengesang fort, vom Chor lautmalerisch begleitet. “Hieronymus Bosch als Musik” fasst Deutsch den Inhalt des Teils in Anspielung auf den niederländischen Maler (1450-1516) zusammen, Das Geschehen führt direkt ins bizarr anmutende Hundeleben (4.), das in den geteilten Bratschen mit einem schleppenden Grundrhythmus aus punktierter Viertel und folgender Achtel anhebt.

“Zu diesem als ,Filmmusik’ bezeichneten Orchesterzwischenspiel satirisch-dramatisch-grotesken Charakters”, so verlangt der Komponist, “wird ein Stummfilm gedreht, dessen Verlauf aus der Musik heraus entwickelt sein soll. Dabei ist es der Phantasie des Regisseurs überlassen, inwieweit er versucht auf die formale Struktur bzw. den genauen Ablauf der Komposition einzugehen oder diese Faktoren zu konterkarieren. Da die Musik vorwiegend kompliziert und übersteigert wirkt, empfiehlt es sich eine betont einfache Bildsprache zu suchen. Die handelnden Personen sind dieselben wie in den übrigen Videozuspielungen. Der Titel Ein Hundeleben verweist einerseits auf den Stummfilm A dog’s life von Charlie Chaplin aus dem Jahr 1918, andererseits parodistisch auf Ein Heldenleben von Richard Strauss.” – In An sich selbst (5.) nach Gryphius spricht nun erstmals, nach der allgemeinen Hölle ringsum, ein Ich: “Mir grauet vor mir selbst, / mir zittern alle Glider” singen Sopran und Bariton in einer gespenstisch anmutenden, zum Teil von Cembaloklängen begleiteten Beschreibung körperlichen Verfalls – eine Reaktion, wie der Komponist verrät, auf die Überalterungs-Diskussion der westlichen Welt zu Beginn des dritten Jahrtausends.

 

Darauf folgen Wider-Sprüche (6.): Der Tenor-Solist feuert dümmliche Sentenzen ab, scheinbar hilfreiche und gute, aber letztlich nur gut gemeinte, platte Lebensweisheiten, die aus der Misere helfen sollen, die Kluft zwischen depressiver Weltsicht und Pseudo- und Zweck-Optimismus aber nur vertiefen: “Leiden ohne sich zu beklagen, das ist das einzige, was es in diesem Leben zu lernen gilt”, wird grundiert von den Agitations-Rhythmen etwa des Banjos, die den Gehalt der Zeilen schonungslos desavouieren. In raschem, direktem Wechsel und Überlagerungen zwischen beiden Sprechern und Chor ergibt sich in Deutschs Worten ein “hysterischer Wasserfall möglicher Gedanken”, ein “Einblick in die Gedanken- und Erlebniswelt” des Künstlers “zwischen Euphorie und Depression, zwischen Schaffenskraft und Leere”, leidenswilligem “Künstler-Ethos [.] und suizidaler Verzweiflung”. Das findet auch seine filmische Entsprechung: “Eine Aneinanderreihung gegensätzlicher Emotionen und Begebenheiten. Die einzelnen Sequenzen sind kurz, die Schnitte häufig. Als Inspirationsquelle dient der ebenfalls kompliziert verschachtelte und kontrastreiche Text”.

 

Sloterdijks von Bhagwan (1931-1990) inspirierte Ansicht, dass wir “Missgeburten im Kopf” hätten, geht einher mit einer ironischen Mischung aus H-Dur-Weihnachtslied (“das passiert oft”) und den rhythmischen Verschleierungen des Tristan-Liebesduetts. – An zentraler siebenter Stelle folgt darauf Bayers idiot: Sprecher 1 trägt die von hemmungslos übersteigerter Brutalität geprägte Szene vor, während die illustrative Musik die geschilderten Entsetzlichkeiten minimal mildert: Deutsch beschreibt dies als Action-Film, der sich ins Absurde wende. Antwort gibt der Rhythmus der Einsamkeit (8.). Ein Motiv aus Viertelnote gefolgt von zwei Achteln, Schuberts “Wanderer”-Rhythmus, durchpulst in verschiedenen simultanen Tempi die Musik, eine im Schlagzeug dramatisch tönende Säge, die ein Holzscheit zerscheidet (inspiriert von einer Szene aus Ingmar Bergmans Film Das siebente Siegel), rückt etwaigen Assoziationen an eine Schatten spendende Linde gleichsam physisch zu Leibe. Das starre Ende leitet in Die schöne Gesellschaft. Schrei in der Nacht (9.) über, worin der narzisstische Künstler (zu Bayers der sechste sinn) sich in die von ihm verachtete Gesellschaft begibt und (ein letztes Mal?) deren leere, äußerliche Rituale beobachtet und ihre Dialoge als Scheingespräche von Untoten erlebt. Ein letztes Mal visualisiert hier eine Videozuspielung das Geschehen. Die Kadenz des Leidens (10.) greift sodann das Konzept der Wider-Sprüche auf: “Leiden ist eine Dummheit, Leiden ist immer unsere Schuld”, lässt sich der Chor vom Tenor überzeugen.

 

Eine von den Hörnern aufgespannte Klangfläche ist es, welche die Vision (11.) eröffnet, die auf die bedrohte Natur im Rhythmus der Einsamkeit verweist: Werner Schwabs Ruf nach einer Landschaft ohne Menschen bedeutet den Wunsch, Tod und Leiden endlich entfliehen zu können. Die Musik folgt dem Text mit sensiblen Klangmalereien. Hohes Holz und Klavier stimmen sodann die rätselhaft wechselnden Akkorde von Enigma (12.) an: “Nichts mehr wird kommen”, klagt der Solosopran ausdrucksvoll trauernd mit Ingeborg Bachmann. Den Schluss markiert ein ähnlich lapidarer Chor, wie die Inschrift zu Beginn: Man könne nichts ändern, kurz: “Die Dinge sind”. Das vom Orchester dahinter gesetzte Rufzeichen aber klingt “falsch”: ein durch zusätzliche Töne verunreinigtes c-Moll. Das Geschehen erlischt, endet aber doch mit einem Fragezeichen, wenn der Chor zuletzt ironisch flüstert: “Nun wollen wir mal das Bewusstsein erweitern”.

 

Martyrium oder Die Dinge sind beschreibe insgesamt einen Weg vom Äußeren ins Innere, erklärt der Komponist. Der Mensch ist ein Abgrund, gewiss. Aber “je weiter man einer Sache auf den Grund geht, desto näher kommt man dem Nichts”, erwidert Bernd Richard Deutsch.
Das muss kein Fehler sein.

(aus: klang:punkte Herbst 2008)

 

Fotos Bernd Richard Deutsch: Renate Publig/Musikverlag Doblinger