„BEIM KOMPONIEREN KOMMT MAN ZU SICH, ES IST EIN IN-SICH-HINEIN-GEHEN.“ – SYLVIE LACROIX IM MICA-INTERVIEW

Die Flötistin und Komponistin SYLVIE LACROIX arbeitet, nach vielen Jahren als anerkannte Interpretin alter wie zeitgenössischer Musik, nun vermehrt an eigenen Kompositionen – Instrumentalwerke von Solo bis Ensemble, darunter auch einige mit Elektronik. Mit Michael Franz Woels traf sie sich im Café Bräunerhof, um in traditioneller Kaffeehaus-Atmosphäre über lyrische Ordnungs- und Unordnungssysteme, lebendige Grabkammern oder die Phasen des Komponierens zu sinnieren.

Liebe Sylvie Lacroix, es stehen im Mai ein paar Konzerte von dir an. Zum Beispiel am 12. Mai im Brick15 die Veranstaltung „Herzkranzverflechtung“, organisiert von der ÖGZMÖsterreichische Gesellschaft für zeitgenössische Musik in Zusammenarbeit mit der Konzertreihe Ambitus.

Sylvie Lacroix: „Herzkranzverflechtung“ ist der Titel eines Gedichtbandes des österreichischen Dichters Semier Insayif. Der orientalische Name verrät seine Herkunft. Insayif ist ein großer Virtuose der deutschen Sprache, es ist ein Vergnügen sich mit seiner Dichtung zu beschäftigen. Der Komponist Norbert Sterk hat ein paar Komponistinnen und Komponisten eingeladen, Teile von seinen Sonetten zu vertonen. [Anm.: Weiters noch dabei sind Rudolf Hinterdorfer, Fritz Keil, Katharina Roth, Alexander Wagendristel]

Ich habe alle Sonette durchgelesen, sie sind faszinierend und sehr anspruchsvoll. Aber für mich war irgendetwas zu viel, die Sprache wird im Laufe der einzelnen Gedichte immer heftiger. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich damit auseinandersetzen wollte – so entschied ich mich dafür, das Vorwort zu vertonen. Ein sehr origineller und starker Text, in dem Zitate von Rainer Maria Rilke aus den „Duineser Elegien“ und von Francesco Petrarca eingeflochten sind.

„ICH FINDE DEN TEXT SO WIENERISCH […]

Das Instrumentarium für „Ordnungen“ habe ich so gewählt, damit die Atmosphäre schon im Klang vorhanden ist: Bassklarinette, Posaune, große Trommel. Das ist die Hauptbesetzung. Es kommen noch zwei Streicher hinzu, die auch als Sprachchor eingesetzt werden. Ich finde den Text so Wienerisch, er hat eine Art von dunklem Humor, der gut hier ins Caféhaus passt …

Sylvie Lacroix breitet die Partitur am Caféhaus-Tisch aus und liest aus dem Libretto vor:

„ich wache ohne meinen rechten arm auf und meine linke hand liegt unter einem fremden schädel.“ Sie blättert rasch um: wer oder was in mir schläft oder wacht kann ich nicht sagen geschweige denn feststellen welcher teil ein teil von mir selbst ist oder welcher teil von mir selbst ein teil eines anderen körpers …

Das beschreibt eigentlich, was Insayif mit seinem Text gemacht hat. Satzteile erspüren, zusammenlegen oder trennen. Ist er vielleicht auf der Suche nach einer Ordnung, oder ist es bloß ein Spiel?

„… was davon belebt oder unbelebt ist kann ich nur ahnen nur erfragen.

Dieser Text geht für mich sehr weit. Er stellt das eigene Denken in Frage: Denke ich „… in einem fremden Schädel?“ Und dann noch diese Stelle:

„das alphabet meiner gliedmaßen ist jedenfalls getrennt in eine mir fremde sprache und in eine mir vertraute sprache … Das Fremde und das Vertraute: „Wo findet das Ohr wieder etwas, das heimeliger wäre?“ Brisante Fragen, die lange nachhallen. Ich wollte den Inhalt unruhig, aber gut wahrnehmbar in Form eines Sprechgesangs gestalten, wie man es von Arnold Schönbergs „Pierrot Lunaire“ kennt. Die lyrischen Zitate werden gesungen.

Warum heißt dein Stück „Ordnungen“?

Sylvie Lacroix: Das Wort ist aus dem Text herausgenommen „Wer, wenn ich schriee hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?“  Im Moment beschäftige ich mich intensiv mit Ordnung, wahrscheinlich wegen der Orientierungslosigkeit, die uns während der Pandemie befallen hat, und dem Chaos, das ein Krieg verursacht. Mir geht es nicht um die Ordnung der Engel, sondern um Ordnung im künstlerischen, musikalischen Sinn. Was ist Ordnung? Ordnungen ist im Plural, also gibt es mehrere Ordnungen, die über-, in- und nebeneinander existieren?

Ein weiteres Stück von dir, das am 23. Mai im Rahmen eines Komponistinnenportäts in der Musiksammlung der Nationalbibliothek uraufgeführt wird, heißt „C’est un ordre d’amour“, was übersetzt so soviel wie Liebesordnung bedeutet.

Sylvie Lacroix: Das französische Wort ordre hat auf Deutsch zwei deutlich voneinander zu unterscheidende Bedeutungen, und zwar: Ordnung und Befehl. „C’est un ordre d’amour“ ist nur sehr schwer zu übersetzen. Es beinhaltet den Zwang oder Druck und das Geordnete. Und da sind wir wieder bei den Engelsordnungen. Kommen wir noch einmal zurück zu dem Text von Semier Insayif: Dieser Text beschreibt ein komplettes Durcheinander. Das Skelett, die Knochen, und jedes kleinste Detail, von dem er spricht, entwickelt er in alle möglichen Richtungen. Man hat das Gefühl, dass man sich in einem Chaos verliert. In den Sonetten, die darauf folgen, unterwirft sich der Autor einem strengen System – einer Ordnung. Als Komponistin habe ich mich in das bunte und überraschende Chaos des Vorwortes hineingespielt und -gelebt, und die Dinge für mich geordnet.

Wie hast du dich dieser spielerischen Ordnung angenähert?

Sylvie Lacroix: Ich habe versucht, Wort für Wort die Sprachmelodie und den Rhythmus zu hören und diese aufzuschreiben. Dabei bin ich einfach meinen Emotionen gefolgt. Wenn ich den Text einem Schauspieler oder einer Schauspielerin gegeben hätte, dann wäre es ganz anders geworden. Aber es sollte eben meine Ordnung werden. Die Bassklarinette und die Posaune spielen und kommentieren die Sarkophag-Atmosphäre, die Atmosphäre einer frischen Exhumierung

Und wie hört das Stück dann eigentlich auf?

Sylvie Lacroix: Wie geht man mit Teilen oder Teilchen um, mit Worten und Ideen, Tönen, der Musik und natürlich Menschen: „sie unter umständen verkaufen. für gutes geld? sie neu einpflanzen in andere gedichtkörper? mit gutem recht? wie ein fötusherz in einen wenige milimeter großen zellhaufen? ist nicht jedes diakritische zeichen, jeder staubteil, jeder noch so flüchtige gedanke ein potentielles fötusherz?“ Vor lauter Exkursionen und Chaos und Versuchen, Ordnung zu machen, löst sich alles wieder in etwas Ruhiges auf. Denn der Anfang des Vorwortes lautet: „wer wenn ich endlich schliefe hörte mich (träumen):“ und der Text endet dann mit: „wer wenn ich endlich träumte hörte mich (schlafen):“

Ein schöner Gedanke. Kommen wir zum ÖBN Komponistinnen-Porträt des IÖM – Institut für Österreichische Musikdokumentation. Beim Musiksalon am 23. Mai wirst du kammermusikalische Werke für verschiedene Besetzungen präsentieren.

Sylvie Lacroix:  Ich hatte schon öfter die Gelegenheit, dort Werke von in Österreich lebenden Komponisten und Komponistinnen zu spielen. Dieses Mal darf ich meine Arbeit präsentieren.  Es freut mich sehr. Am 23. Mai wird „Gris Sur Bleu aufgeführt. Das ist 2013 entstanden, ich war in Osttirol und überwältigt von der kontrastreichen Bergkulisse: Granitgrau gegen strahlendes Himmelblau und weiches Grün. Das Stück, für Flöte, Schlagzeug, Klavier, Posaune und eine Zuspielung hat fünf Sätze. Ich habe versucht, die Emotionen, die diese Landschaft in mir ausgelöst hat, in Musik zu fassen. Die Kontur eines Berges habe ich als Leitlinie für eine Melodie verwendet. Ich habe verschiedene Klangstrukturen entwickelt, das Flache, das Raue, das Weiche zusammengeschichtet.

Da die Arbeit im Studio für die Zuspielung von „Gris Sur Bleu“ so interessant war, habe ich eine zweite, rein elektronische Version gemacht. Für meine CD „flute extended“, die im Rahmen der Edition Ö1 entstanden ist, wurde diese zweite Version „Gris Sur Bleu II“ als Tonbandstück veröffentlicht.

Ein paar Jahre später bin ich vom Wiener Akusmonium, von Thomas Gorbach eingeladen worden, im Semperdepot das Stück mit dem Lautsprecher Orchester aufzuführen. In diesem Rahmen wurde das Stück so plastisch und greifbar. Aber wie gesagt, am 23. Mai wird wieder die erste, ursprüngliche Variante mit vier Instrumenten gespielt.

Dann gibt es zwei Miniaturen für Violine Solo, mit dem Namen „Nu Bleu“. Sie beziehen sich auf die blaue Scherenschnitte-Serie von Henri Matisse. Weiters dann noch das Stück „C’est un ordre d’amour“. Auf der Suche nach französischer Lyrik bin ich auf André Laude gestoßen, von dem ich davor noch nie gehört hatte. André Laude ist 1996 gestorben, er hatte sein Leben als Anarchist und Anti-Kapitalist durchgezogen. „C’est un ordre d’amour“ ist eine Art Hymne auf die Schöpfung, der Dichter löst sich in der Betrachtung der Dinge auf. Es ist eine profunde Meditation, die zur Essenz der Dinge, der Gedanken führt. Ich habe den Text 2013 zu Beginn des Syrischen Krieges das erste Mal gelesen. Ich war so bewegt, dass ich den Text sofort vertont habe.

„Alleine in einer Grabkammer, so nah dem Tod, in einem stillen Raum.“

Sprechen wir noch über das Stück „Tarquinia“, das ebenfalls im Mai aufgeführt wird …

Sylvie Lacroix: Tarquinia ist eine moderne Stadt in Italien mit einem etruskischen Ausgrabungsort, an der mediterranen Küste nördlich von Rom. In dieser etruskischen Siedlung wurden Gräber gefunden. Als Besucherin bzw. Besucher kann man in diese finsteren Grabräume hinabsteigen. Wenn dann plötzlich das Licht angeht, ist man in einer anderen Zeit und Welt, denn die Wände sind mit Malereien verziert. Für mich war das ein sehr intensiver, berührender Moment. Alleine in einer Grabkammer, so nah dem Tod, in einem stillen Raum.Im Gegensatz dazu sind die Malereien auf den Wänden sehr lebendig. Diese Lebendigkeit hat über 2500 Jahre hier geschlummert, durch diese Malereien nimmt man Anteil an einem längst vergangenen Leben. In meiner Musik habe ich diese antiken Eindrücke als musikalische Räume gestaltet.

Könnte man das Komponieren auch als eine Art künstlerischer Ausgrabungstätigkeit bezeichnen? Du widmest dich ja mittlerweile ausschließlich dem Komponieren. Wie geht es da damit, wie gehst du vor?

Sylvie Lacroix: Beim Komponieren kommt man zu sich, es ist ein In-sich-hinein-Gehen. Vieles kann ich auch gar nicht richtig benennen. Ich habe das Komponieren lange Zeit dem Unterrichten oder dem Erlernen von neuen Stücken untergeordnet. Komponieren braucht Zeit und eine gewisse Freiheit. Seit dem letzten Sommer habe ich viel geschrieben. Es ist eine wunderbare Art des Musizierens.

Es gibt verschiedene Phasen des Komponierens. Zuerst geht es darum, Gedanken und Emotionen, Erlebtes und Gefühle zu sammeln. Dann gibt es den Wunsch, diese in Klang umzusetzen. Das kann lange dauern, ich lasse es reifen und wachsen, gehe gerne in den Wald. Mit der Hand schreibe ich ausführliche Skizzen. Die Gedanken werden im Detail entwickelt. Dann geht es um das Formen und Ordnen. Die Skizzen sind eine Stütze; das Stück entfaltet sich aber manchmal in eine ganz andere Richtung. Das Herausarbeiten der letzten Details und Korrekturen ist eine fordernde Phase, die in Zusammenarbeit mit den Interpretinnen und Interpreten stattfindet.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Michael Franz Woels

Termine:
Donnerstag, 12. Mai 2022, 19.30 Uhr, Brick 15
Herklotzgasse 21, 1150 Wien
„Herzkranzverflechtungen“, ein Ambitus-Projekt rund um den Text von Semir Insayif
Sylvie Lacroix: „Ordnungen“ für Countertenor, Bassklarinette, Posaune, Große Trommel, Viola und Violoncello und andere Werke

Montag, 23. Mai 2022, 19.30 Uhr, Musiksammlung der National Bibliothek
Palais Mollard, Herrengasse 9, 1010 Wien
Komponistinnenporträt Sylvie Lacroix mit Werken für Sopran und Ensemble, Kammermusik für Percussion, Klavier, Flöte und Electronik, Violine Solo

Freitag, 27. Mai 2022, 19.30 Uhr, Brick 15
Herklotzgasse 21, 1150 Wien
Sylvie Lacroix: „Tarquinia“ für Harfe und Streichquintett

Link:
Sylvie Lacroix (Soundcloud)
Sylvie Lacroix (music austria Datenbank)