„…beim Improvisieren sind nicht mehr die Noten wichtig, sondern die Menschen“ – Christian Reiner im mica-Interview

CHRISTIAN REINER ist in diesem Jahr Artist in Residence beim 41. INTERNATIONAL JAZZ FESTIVAL SAALFELDEN (16.-22. August 2021). Zu diesem Anlass sprach Arianna Fleur mit CHRISTIAN REINER über seine Heavy-Metal-Zeit, seine Liebe zum Handwerk, das Ersticken der Erwartung, wen er als seinen Leibwächter bezeichnet, dass es Sicherheit bei Premieren gibt und warum ein Mensch, der nicht „Jazz macht“ oder sogar ein Instrument spielt, für den Job auserwählt ist.

Als Artist in Residence des 41. Saalfelden Jazz Festivals trittst du in fünf Formationen mit zwölf Personen an vier Tagen auf – allesamt Premieren auf die eine oder andere Weise. Gab es eine Quote zu erfüllen oder hast du dir das Programm komplett selbst ausgedacht?

Christian Reiner: Das habe ich mir selbst ausgedacht. Zuerst kam Mario (Steidl, Künstlerischer Leiter) auf mich zu und fragte, ob ich Artist in Residence sein möchte. Und dann fragte er, was ich machen wollte. Mir standen eigentlich alle Möglichkeiten offen. Dann dachte ich darüber nach und entschied, was mir wichtig war. Ich wollte nämlich keine übertriebenen Sachen machen; nicht alle zu sehr ausflippen lassen, mit einer Art Installationswahnsinn oder ähnlichem. Ich denke, auf einem Jazzfestival sollte man einfach gute Konzerte hören und es ist eine wunderbare Gelegenheit dazu. Alles andere – es mag funktionieren, aber es ist nicht der richtige Ort dafür. Und dennoch habe ich auch versucht, ein paar Dinge zu integrieren, die out of the box sind, aber immer noch sehr klein sind.

Saalfelden

Apropos out of the box: Reden wir über dein erstes Konzert am Festival, „Reiner Weber with Fuchs“ – eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit einem Buchbinder.

Christian Reiner: Im Grunde ist es mein langjähriges Duo mit dem Schweizer Bassisten Christian Weber und dem Buchbinder Christian Fuchs. Es ist etwas, das sich noch entwickelt, aber sicher ist, dass wir eine Art Schriftrolle erstellen, und darauf steht dieser nie endende Satz, den man auch so lesen kann. Darüber hinaus versuchen wir auch, einen Möbius-Streifen zu machen, der beidseitig bedruckt ist; und dann hast du etwas wirklich nie Endendes. Wir wissen nicht genau, wie sich das in der Aufführung ausgehen wird, aber wir werden auf jeden Fall diese kleine Schriftrolle machen, die wir dem Publikum mit nach Hause geben können.

Wurde dieses Projekt durch den ungewöhnlichen Neuzugang zu den Festivalstätten – die Buchbinderei Fuchs in Saalfelden – inspiriert?

Christian Reiner: Eigentlich hatte Christian Fuchs den größten Anteil an der Erfindung des Konzepts. Er hatte diese Idee vom Langen Satz und der damit verbundenen Druckart. Also dachten wir darüber nach, einen Satz aus der Literatur zu nehmen und ihn schließlich auf einen mit etwa 2.000 Zeichen einzugrenzen. Und daraus haben wir beschlossen, dass ich improvisiere und damit arbeite, und das wird gedruckt und aufgeführt.

Mario Steidl und Christian Fuchs/Buchbinderei Saalfelden Jazz Fest 2020 (c) Michael Geißler
Mario Steidl und Christian Fuchs/Buchbinderei Saalfelden Jazz Fest 2020 (c) Michael Geißler

Hast du so etwas schon einmal gemacht?

Christian Reiner: Nicht bei einem Buchbinder, nein. Aber ich habe immer mit anderen Kunstformen zusammengearbeitet. Ich hatte Zeiten, in denen ich viel mit Tänzerinnen und Tänzern, Malerinnen und Malern, Graffiti-Künstlerinnen und -Künstlern und mit diesem Tag-Tool-Team zusammengearbeitet habe. Und speziell beim Buchbinden kann ich sagen, dass es mich ein bisschen berührt. Weil ich Handarbeit liebe. Ich bin Handwerker. Eigentlich bin ich gelernter Maschinist.

„Du machst deine Kunst, ich mache meine Kunst, und irgendwie kommen wir zusammen“

Das wusste ich nicht! Du hast also buchstäblich mit Heavy Metal gearbeitet (nicht nur musikalisch)!

Christian Reiner: [lacht] Ja! Das war das Erste, was ich gemacht habe – ich habe eine Ausbildung zum Maschinisten gemacht und dann sogar auf einer Baustelle gearbeitet. Und deshalb schätze ich das Handwerk immer noch sehr – die Maschinen selbst, wie sie etwas zusammendrehen oder falten oder natürlich diese Buchbinderei. Es ist einfach toll und fasziniert mich. So kam es, dass ich sofort zu Christian Fuchs sagte: „Ja, du machst deine Kunst, ich mache meine Kunst, und irgendwie kommen wir zusammen.“

Wie bist du mit der logistischen Abwicklung einer marathonartigen Residency umgegangen, die in normalen Zeiten, geschweige denn während einer Pandemie, für jede und jeden eine große Herausforderung darstellen würde?

Christian Reiner: Eigentlich war es okay. Zum Glück erledigt das Festival die meisten Dinge für mich. Aber trotzdem läuft alles durch mich, so dass ich viele Führungsaufgaben bewältigen muss. Das ist ziemlich neu für mich. Und ich muss zugeben, ich bin nicht sehr gut darin. Aber es war eine interessante Herausforderung. Vielleicht stelle ich in Saalfelden ein großes Durcheinander an [lacht]. Aber ich habe das Gefühl, es funktioniert. Man muss nur mit allen klar kommunizieren. Daher bin ich froh, dass die meisten Leute, die ich für diese Residency gebucht habe, sehr enge Freundinnen und Freunde sind, so dass es einfach ist, zu kommunizieren.

Christian Reiner beim Saalfelden Jazz Fest 2020 (c) Michael Geißler
Christian Reiner beim Saalfelden Jazz Fest 2020 (c) Michael Geißler

So bleibst du einerseits mit den meisten Musikerinnen und Musikern, die du ausgewählt hast, in deiner Komfortzone, andererseits verlässt du diese mit all den Premieren. Warum hast du dich entschieden, in Saalfelden alles neu zu machen?

Christian Reiner: Ein zentrales Thema in meinem Leben und vor allem in meinem künstlerischen Ansatz ist die Improvisation. Ich glaube, dass die Elemente Neuheit, Erwartungslosigkeit und Freiheit mehr oder weniger die Schlüsselelemente sind, die für meinen sogenannten „Erfolg“ verantwortlich sind. Denn ich weiß, dass ich am besten funktioniere, wenn ich völlig frei bin.

„Ein zentrales Thema in meinem Leben und vor allem in meinem künstlerischen Ansatz ist die Improvisation“

Es ist eigentlich ziemlich psychologisch. Erwartungen sind wie ein Käfig, und Improvisation ist der Schlüssel, der dich rauslässt.

Christian Reiner: Genau.

Diese Residency ist also wirklich ein Showcase von deiner Person. Und was andere vielleicht als „mutig“ bezeichnen – ein Premierenprogramm zu kreieren – ist für dich ein Raum der Geborgenheit.

„Ich bin immer auf der Suche nach neuen Kommunikationswegen, denn das ist mindestens die Hälfte der Arbeit“

Christian Reiner: Ja. Und bedenke das Gegenteil – es wäre sehr stressig, wenn ich mich auf fünf vorgefertigte Projekte vorbereiten müsste, mit all den Arrangements, Änderungen, Texten zum Auswendiglernen usw. Das heißt nicht, dass ich mich nicht vorbereiten müsste. Das muss ich natürlich. Eine Menge. Aber die Vorbereitung ist völlig kostenlos und viel dynamischer. Ich meine, ich nehme einige Texte mit, die ich auswendig gelernt habe. Aber der größte Teil ist die Kommunikation mit den anderen Künstlerinnen und Künstlern, darüber, was sie sich vorstellen können, wie sie es machen oder machen wollen. Ich bin immer auf der Suche nach neuen Kommunikationswegen, denn das ist mindestens die Hälfte der Arbeit. Denn beim Improvisieren sind nicht mehr die Noten wichtig, sondern die Menschen. Manchmal ist ein Kaffee-Trinken wichtiger als eine Probe.

Jim Black beim Saalfelden Jazz Fest 2020 (c) Michael Geißler
Jim Black beim Saalfelden Jazz Fest 2020 (c) Michael Geißler

Daher hast du dich für Menschen entschieden, die du gut kennst. Aber es gibt tatsächlich ein paar neue Spielerinnen und Spieler im Mix. Der eine ist der in Berlin lebende amerikanische Schlagzeuger Jim Black, den du tatsächlich bei einer Improvisations-Session in Saalfelden letztes Jahr kennengelernt hast. Wie kam es dazu, dass du ihn eingeladen hast, die Band „Fünf“ zu vervollständigen?

Christian Reiner: Nun, ich hatte die Idee eines Ensembles, das meine Wurzeln im Heavy Metal und Rock verbindet, aber auch mit dieser Improvisation und lyrischen oder poetischen Note. Also wollte ich ein sehr breites Spektrum an musikalischen Möglichkeiten haben. Ich hatte in der Vergangenheit mehrere Ensembles, mit denen ich das erreichen konnte. Dieser Teil von mir – dieser Sound – ist also irgendwie in verschiedene Projekte von mir eingesickert. Aber die Zeiten ändern sich, und ich wollte eine neue Besetzung, die mit Philip Zoubek, Richard Koch und Christian Weber begann – der einer meiner absoluten Lieblingsspieler ist.

Warum das?

„Ich fühle mich mit ihm auf der Bühne genauso sicher wie auf der Straße“

Christian Reiner: Wir haben so viele Gemeinsamkeiten und kommen aus dem gleichen musikalischen Hintergrund der 80er. Mit ihm weiß ich, dass wir alles schaffen können. Wir spielen jetzt seit 20 Jahren zusammen, in vielen verschiedenen Szenarien. Er ist wirklich jemand, dem ich vertrauen kann und mit dem ich völlig frei sein kann. Für mich ist er also ein sehr sicherer Musiker. Er sieht genauso aus. (Kennst du ihn? Er ist zwei Meter groß.) Ich fühle mich mit ihm auf der Bühne genauso sicher wie auf der Straße, wenn ein paar Typen Ärger machen oder so. [lacht]

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Also ist er für dich eine Art Leibwächter, in mehr als einer Hinsicht?

Christian Reiner:  Ja, er ist mein Bodyguard! [lacht] Er fängt jeden Ton ein. Ich habe das Gefühl, egal was ich tue, wenn er mit mir spielt, ist es richtig. Ich kann mich nicht irren, denn er macht es richtig.

Dann ist da noch der Gitarrist Martin Siewert, mit dem ich viel zusammenarbeite. Er würde es nicht mögen, wenn ich es sage, aber er stellt auch eine Verbindung zu meinen Heavy-Metal-Wurzeln dar. Zum Beispiel hat er all meine ECM-Sachen aufgenommen. Und ich habe ein Duett mit ihm, das sehr laut und verrückt ist. Also habe ich diese vielfältige Palette auch bei Martin. Und Philip Zoubeck, der Pianist, war von Anfang an dabei. Und zum Beispiel haben Martin und Philip noch nie zusammen gespielt. Das ist also ein neues Element. Dann war da noch die Frage nach dem Schlagzeuger, der eigentlich Eric Schäfer aus Berlin sein sollte. Und das Lustige ist, dass Eric irgendwann als der “neue Jim Black” bekannt wurde, wie er in einem deutschen Artikel oder so genannt wurde.

Martin Siewert Impro Sessiojn Saalfelden Jazz Fest 2020 (c) Michael Geißler
Martin Siewert Impro Sessiojn Saalfelden Jazz Fest 2020 (c) Michael Geißler

… und dann zog Jim Black nach Berlin, also gab es Konkurrenz …

Christian Reiner: [lacht] Nein, da bewegten sich beide schon in ihre eigenen Richtungen, es gab also keine Konkurrenz. Eric hatte sowieso keine Zeit, also dachte ich darüber nach und fragte schließlich Jim. Ich kannte ihn vom letzten Jahr, und dort habe ich auch diese Art von Vibe gespürt, die ich suche, und Martin war auch Teil dieser Impro-Session. So ist es einerseits neu, aber ich habe auch die Erfahrung mit ihnen als Trio. Und ich kenne seine musikalische Sprache. Tatsächlich ist eines meiner absoluten Lieblingsalben eines von Jim, „Alas No Axis“, das mich und meine Musik sehr inspiriert hat, da es ein Jazz-Feeling mit einem Rock- oder Grunge-Feeling kombiniert. Es ist eine Platte, die ich sehr gut kenne und ich liebe sein Schlagzeugspiel.

(c) Jim Black - Alas No Axis Album Cover
(c) Jim Black – Alas No Axis Album Cover

Neben Premieren und Improvisation zieht sich ein weiterer Faden durch das Programm: die Nummer 5.

Christian Reiner: In der Tat. Einerseits taucht es als Titel eines der Ensembles in der Residency auf, andererseits ist es die Anzahl der Projekte, die ich insgesamt auf dem Festival aufführe – die ich wirklich bewusst ausgewählt habe – neue Programme oder neue Formationen, aber mit alten Kumpels. Es ist für jeden etwas dabei. Und dadurch bin ich auf die Zahl von fünf Projekten gekommen. Und fünf ist einfach meine Nummer. Es ist eine gute Zahl. Fünf geht vorwärts. Es hört nicht auf. Fünf ist gut.

„Fünf ist einfach meine Nummer. Es ist eine gute Zahl. Fünf geht vorwärts. Es hört nicht auf. Fünf ist gut“

Wenn man sich die fünf Formationen ansieht, bist du für jede der sogenannte „Bandleader“? Oder sind sie eher demokratisch oder kollaborativ?

Christian Reiner: Das ist von Projekt zu Projekt unterschiedlich. „Lavant“ zum Beispiel existierte schon eine Weile. Wir haben schon daran gearbeitet und kleine Auftritte gemacht, aber die übliche Schlagzeugerin ist Judith Schwarz, die an diesem Tag nicht spielen konnte. Also haben wir es neu arrangiert und so ist es zu diesem neuen Ensemble mit Katharina Ernst gekommen. Aber wir haben auch noch nie das Programm gespielt, das wir dort machen werden. Es ist also eine weitere Saalfelden-Premiere.

Lavant (c) Philip Leitner
Lavant (c) Philip Leitner

Wie du bereits erwähnt hast, obwohl jedes Projekt ein Element der Neuheit hat sind einige der musikalischen Beziehungen im Progamm wirklich lang und stark.

Christian Reiner: Ja, zum Beispiel das Kinderprogramm „TeTeTe“. Es ist mehr oder weniger das, was wir immer getan haben. Und als solche binden wir immer neue Spieler ein. Für Saalfelden haben wir Astrid Wiesinger, Beate Wiesinger und Katharina Ernst hinzugefügt. Aber ich habe schon viel mit diesen dreien gespielt, also gibt es auch dort eine Komfortzone. Und das Neue ist auch, dass wir mit diesen drei Musikerinnen eine neue Geschichte – oder neue Charaktere zum Improvisieren – entwickelt haben.

(c) Christian Reiner / Tetete Bienenkino
(c) Christian Reiner / Tetete Bienenkino

In diese Residency fließt viel. Was erhoffst du dir davon mitzunehmen?

Christian Reiner: Zum einen wären fünf gute Konzerte toll. Außerdem plane ich, alles aufzunehmen. Also, wenn da etwas ist, das Potenzial für eine Weiterentwicklung birgt (was die meisten sowieso sein werden), dann wäre es natürlich großartig. Klar ist aber, dass zumindest zwei der Projekte – „Luft“ und „Fünf“ –nur in größeren Festival- oder Konzertumgebungen realisiert werden können, weil es Lotte Anker aus Dänemark und andere internationale Musikerinnen und Musiker braucht, und wegen ihrer Größe . Es ist also nicht einfach zu organisieren.

Apropos „Luft“, es ist wirklich ein interessantes Projekt; nicht nur wegen des musikalischen Konzepts – ein 6-köpfiges Ensemble ausschließlich aus Blasinstrumenten –, sondern auch wegen des Titels selbst „Luft“. Der Begriff war schon immer mit Redewendungen und Assoziationen beladen, hat aber gerade jetzt ein noch größeres Gewicht (Corona und Transmission, Treibhausgase und Klimawandel etc.) Was können wir also vom Auftritt von „Luft“ in Saalfelden erwarten? Etwas Leichtes und „Luftiges“ oder etwas Heimtückisches?

Christian Reiner: Am Ende kann die einzige Antwort sein: Ich weiß es nicht! [lacht] Aber sicher ist, dass der Trompeter Richard Koch eine wichtige Rolle spielen wird. Auch zu ihm habe ich ein sehr enges Verhältnis. Wir haben zusammen in Berlin gelebt. Er war einer der ersten Menschen, die ich während meines Studiums in Stuttgart kennengelernt habe. Angefangen habe ich in München mit Rockmusik. Dann habe ich das Fach an der Universität in Stuttgart gewechselt. Dort traf ich die Jazzmusiker, darunter auch Richard. Und mit ihm begann ich wirklich zu improvisieren. Davor waren Musik und Text immer getrennte Einheiten. Da hatte ich Gedichte, die ich rezitierte, und die Musikerinnen und Musiker neben mir waren frei. Also sagte ich eines Tages: „So nicht mehr. Entweder sind wir beide frei, oder wir arbeiten beide mit Kompositionen.“ Also habe ich mich natürlich für ersteres entschieden.

Luft (c) Bernd Backmund
Luft (c) Bernd Backmund

Und diesen Weg hast du gemeinsam mit dem Trompeter Richard Koch beschritten?

Christian Reiner: Ja, ich hatte ein Duett und habe viele Experimente mit ihm gemacht. Und dabei haben wir herausgefunden, dass es eine sehr gute Methode ist, die Punkte zu finden, an denen gesprochenes Wort und Musik zusammenkommen. Denn wir machen dasselbe – wir arbeiten beide mit Luft. Es kommt aus unserer Lunge. Und es klingt ein bisschen dramatisch, aber Tatsache ist, dass es uns am Leben hält. Und das ist durchaus sinnvoll, vor allem, wenn man es künstlerisch reflektiert. Wir fanden dann recht schnell eine gemeinsame Sprache zwischen Musik und Sprechen. Also haben wir dieses Ding namens „Oral Office“ gegründet. Aber aus verschiedenen Gründen mussten wir irgendwann über eine Namensänderung nachdenken. [lacht]

Aber zurück zum aktuellen Projekt – ich wollte dieses Wort „Luft“ drin haben, weil es mir so wichtig ist. Während sich manche Leute esoterische Dinge wie diese Astrologie-Scheiße ansehen (man sieht meine Meinung dazu), konzentriere ich mich immer auf Luft, Luft, Luft. Es ist mir sehr wichtig. Außerdem wollte ich eine erweiterte Version dieses Projekts haben, die Leute, die noch nie zusammen gespielt haben, in neuen Formationen zusammenbringt. Aber wie gesagt, ich weiß noch nicht, was das ist. Wir werden sehen!

„Ich konzentriere mich immer auf Luft, Luft, Luft“

Eine weitere scheinbar neue Ergänzung der Crew ist Mona Matbou Riahi. Oder habt ihr schon mal zusammen gespielt?

Christian Reiner: Nein! Mona war der Robbie Williams dieses Projekts! [lacht] Ich meine, ich hatte schon eine Vorstellung davon, wen ich hier einbringen möchte. Ich hatte meine Liste. Und dann dachte ich: Was fehlt mir? Was will ich noch? Und dann dachte ich: ein Aerophon. Dann ging ich zu meinem Label und fing an, den Katalog von ECM durchzusehen. [lacht] Und plötzlich sah ich Mona und war wirklich daran interessiert, was sie tat. Und dann sah ich, dass sie mit Kolleginnen und Kollegen von mir zusammenarbeitet, und mir wurde klar, dass sie sogar in Wien lebt! Da dachte ich mir: „Was zum Teufel?“ Und dann wurde mir klar, dass ich sie erst drei Tage zuvor kennengelernt hatte. Also rief ich sie an und lud sie zu dem Projekt ein.

Mona Matbou Riahi (c) Hanna Fasching
Mona Matbou Riahi (c) Hanna Fasching

Kannst du mir etwas über „Lavant“ erzählen und was dich dazu inspiriert hat, dich so ungewöhnlich ausdrucksstark mit den Gedichten von Christine Lavant auseinanderzusetzen?

Christian Reiner: Ja, normalerweise habe ich beim Lesen von Gedichten einen sehr reduzierten Stil, bei dem ich versuche, mehr oder weniger nichts zu tun – oder so wenig wie möglich, aber gerade genug, damit die Worte herauskommen. Und natürlich kommt auch ein bisschen Stil heraus, mit meinen Pausen und der Langsamkeit meiner Rede. Aber ich versuche ihnen keine Farbe zu geben und so offen wie möglich zu sein. Es ist eines meiner Werkzeuge – mich nicht zu sehr auf den Text einzulassen und Platz zu lassen.

„Ich konnte diese körperliche Erschöpfung wirklich spüren“

Jedenfalls habe ich das mit den Lavant-Gedichten gemacht und dachte, ja, es ist schön, aber es ist nicht notwendig. Aber dann, eines Tages, war ich allein im Proberaum und fing einfach an zu schreien und zu schreien, drückte drauf und machte Stimmexperimente mit dem Text; und tat es so, dass ich nach einem Gedicht von ungefähr drei Minuten oder so komplett „fertig“ war. Ich konnte diese körperliche Erschöpfung wirklich spüren. Und dann wurde mir klar: „Ah, das hört sich nicht so schlimm an“. Und ich habe festgestellt, dass die Texte, wenn man sie so interpretiert, ein ganz anderes Gefühl haben.

Weißt du, in diesen Gedichten jammert Christine ein bisschen. Ich meine, sie wurde mit vielen Nachteilen geboren und hat in ihrem Leben viel gelitten. Sie hatte es sicher nicht leicht. Und das hört man in ihren Gedichten. Und das ist großartig! Aber ich finde, sobald jemand versucht, es in poetische Form zu bringen, hat es nicht die Kraft, die es braucht. Und so bin ich dazu gekommen, diesen Gedichten eine andere Ausdrucksebene zu verleihen, die ich normalerweise nicht mache. Deshalb wollte ich auch, dass Susanna (Gartmayer) und Schlagzeug (Katharina Ernst) mitmachen. Ich wollte, dass dieser Sound, den ich in meinem Kopf habe, zum Leben erweckt wird – mit Kratzen und Knallen und der Intensität, nach der ich mich sehne.

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Wenn deine Karriere eine Landkarte wäre, was bedeutet diese besondere Stecknadel für dich? Wo findet man diese Residency auf deiner künstlerischen Reise?

Christian Reiner: Ich denke, es ist eine kleine Zusammenfassung dessen, was ich bis jetzt gemacht habe. Und doch habe ich damit sicherlich nie gerechnet. Das war das Letzte, was ich mir vorgestellt hatte – dass sie mich nach einem Artist in Residence für ein Jazzfestival fragen würden. Ich mache keinen Jazz! [lacht]

Stimmt, das habe ich vergessen! [lacht]

Christian Reiner: Ich spiele nicht mal ein Instrument! [lacht] Trotzdem habe ich es als ein tolles Angebot mit viel Potenzial wahrgenommen, um, wie du gefragt hast, zu zeigen, wo ich jetzt stehe. Und damit versuche ich, so „jetzt“ wie möglich zu sein. Also haben sich die Dinge jetzt entwickelt, und ich zeige sie jetzt – alle Aspekte meiner Kunst. Gedichte von Christine Lavant, ganz frische Projekte, Dinge, die ich jahrzehntelang mit meinen besten Kumpels gemacht habe. Es ist eine ideale Position für mich, um die Bandbreite meiner bisherigen Arbeit zu zeigen.

Christian Reiner (c) Saalfelden Jazzfestival 2020/Michael Grießler
Christian Reiner (c) Saalfelden Jazzfestival 2020/Michael Grießler

Anstatt also einen Lebenslauf zu erstellen oder das Archiv auszugraben, ist es eher ein Screenshot der Tabs, die gerade auf deinem Bildschirm geöffnet sind.

Christian Reiner: Ja. Nein, ich möchte keine Christian Reiner Retrospektive machen! Das war nie die Idee. [lacht] Und ich bin dankbar, dass mir das Festival die Möglichkeit gibt, Ideen tatsächlich umzusetzen. Ideen nicht nur zu haben, sondern auch zu leben. Es ist nicht so einfach, Projekte ohne den Kontext und die Organisation zu erstellen, die sie ermöglichen. Daher freue ich mich sehr über diese Chance.

Letzte Frage: Hast du nach dieser stürmischen Residency bereits einen Urlaub oder vielleicht sogar eine Reha [lacht] gebucht?

Christian Reiner: Ja! [lacht] Das habe ich! Grado wird es sein. Das ist für mich der nächste Weg zum Ufer. Ich liebe das Meer. Ich muss das Meer sehen.

Dann, im Voraus, buon viaggio! Und danke für das Interview!

Arianna Fleur

Übersetzung aus dem Englischen Original von Itta Francesca Ivellio-Vellin

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Christian Reiner FB

Saalfelden Jazz Festival