Dieses Porträt von Mercedes Frühberger entstand im Zuge der Lehrveranstaltung „Ästhetischer Diskurs, Reflexion, Kritik: Schreiben und Sprechen über Neue Musik“ von Monika Voithofer im Wintersemester 2022/23 am Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien und wird als Teil einer Kooperation mit mica – music austria hier im Magazin veröffentlicht. Für diese Aufgabenstellung konnten die Studierenden frei eine aufstrebende Persönlichkeit aus dem Bereich der neuen Musik wählen.
Nava Hemyaris Suche nach einer Kompositionsästhetik lässt sich durch Intimität, aber auch das Abstrakte, durch Höhen und Tiefen charakterisieren. Die Faszination für das Undefinierbare, Unbeschreibbare der Musik, aber auch verschiedene Stufen des Konkreten, abhängig von den verwendeten Medien, begleiten sie auf ihrem Weg. Seit nunmehr drei Jahren hat Nava Hemyari ihr Studium am Institut für Elektroakustische Komposition an der mdw–Universität für Musik und darstellende Kunst Wien abgeschlossen, wo ihr Wolfgang Suppan und Karlheinz Essl wertvolles Werkzeug in die Hand legten, mit dem sie lernte, ihre Arbeiten zu strukturieren. Nun kann die gebürtige Iranerin des Jahrgangs 1993 darauf zurückblicken, mit 18 Jahren Wien zu ihrer Wahlheimat zu machen, die Podcast-Serie Punctum in Conversation zu starten, das Punctum Collective Ensemble mitzubegründen, an der Universität für angewandte Kunst Wien und der Filmakademie Wien zu studieren und zahlreiche Kompositionsaufträge zu realisieren. Nun richtet sie ihren Fokus auf das nächste Ziel: den Kompositionsauftrag für das diesjährige Osterfestival Imago Dei mit Aufführungen in der Minoritenkirche Krems beziehungsweise im Palais Mollard und dem Polnischen Institut Wien mit dem Motto „Balance“. Für ein Gespräch mit der Künstlerin bot sich das Wiener Café Jelinek an.
Wieso „Neue Musik“?
Wann sie das erste Mal mit Klaviertasten in Berührung kam, daran kann sich Nava Hemyari nicht erinnern. Doch mit einer Klavierlehrerin als Tante war Musik allgegenwärtig, so lange sie zurückdenken kann. Während ihrer Schulzeit schwankte sie zwischen der Entscheidung zu einer Karriere als Programmiererin oder einer musikalischen Karriere, hatte sie doch auch ihre Begeisterung für Gesang entdeckt. Durch den Vorbereitungslehrgang zu Komposition an der mdw fand sie schließlich ihr Interesse an zeitgenössischer Musik, die ihr zuvor fremd gewesen war. „Wir hatten einen Lehrer, Herbert Lauermann, mit einer ganz speziellen Art und Weise. Viele von uns waren ziemlich neu im Umgang mit zeitgenössischer Musik, aber er hat uns immer neugierig gemacht. Deswegen gibt es kein einzelnes Stück, bei dem ich sagen kann: Dadurch bin ich zur Neuen Musik gekommen. Es war eher eine Sammlung von Stücken, die mir vorgestellt wurden.“
Ästhetik und Lehrer
Seit diesem ersten Kontakt mit zeitgenössischer Musik hat sich Hemyaris musikalische Welt deutlich weitergedreht. Bereits 2020 schloss sie ihr Kompositionsstudium bei Karlheinz Essl ab. „Seitdem bin ich viel unabhängiger geworden; oder besser gesagt“, fügt sie hinzu, „sei nicht mehr erkennbar, von welchem Mentor welcher Einfluss stammt. Idealerweise hat man bis zu dem Punkt, an dem ich mich gerade befinde, seinen eigenen Klang gefunden.“ Karlheinz Essl habe ihr sehr geholfen, zu erarbeiten, wie sie ihre Kompositionen strukturieren müsse. Sie beschreibt ihn als einen disziplinierten Menschen, als jemanden, der immer Ordnung aufrechterhalten könne. „Denn ich bin zwar eine Chaotin, aber er hat mir einiges beigebracht, was Notation angeht, die nachvollziehbar und ausdrucksvoll auch für die Interpretierenden sein soll.“ Der analytische Zugang zur Musik entstammt den Lehrjahren bei Wolfgang Suppan: Er zeigte ihr, wie man mithilfe eines Algorithmus komponiert. Ein gefundenes Fressen für eine Studentin, die beinahe Programmieren bzw. Informatik studiert hätte. „Das Programm dient nur mir selbst, nicht dem Publikum“, betont sie. Wenn man mit einem Algorithmus komponiert, dann erschafft man eine Maschine, die einem Welten an Material eröffnet. Dieses einfach unbearbeitet zu lassen, entspricht nicht dem Ziel: „Dann hätte der Komponist nichts Eigenes zum Stück beigetragen. Man kann das Ergebnis jedoch zur Materialgewinnung oder für das Bestimmen von Formelementen nehmen“, erläutert Hemyari.
Form spielt immer noch die zentrale Rolle in Hemyaris Komposition: Meist baut sie, nachdem sie drei bis fünf Motive gefunden hat, eine Art Refrain ein, den sie häufig am Anfang eines Stückes platziert und weitere Male im Stück zur Strukturierung einsetzt. Dann sucht sie den Sound für das Material und entwickelt dieses weiter, spinnt es fort, bis es sich weit vom Ursprung entfernt hat, um wieder mit dem Refrain anzuschließen, um der Komposition, aber auch den Hörenden einen Anker zu geben. Dabei komponiert sie ein Stück chronologisch von Anfang bis zum Ende durch. Zudem gibt es noch ein anderes wesentliches Element, mit dem sie intensiv arbeitet: die Klangfarbe. „Form und Klang sind fast gleich wichtig“, klärt sie auf: „Die Klangfarbe ist meine zweite Entscheidung im Kompositionsprozess, gleich nachdem ich mir Figuren ausgesucht habe. Das ist die Art und Weise, wie ich ein Stück entwickle, ich suche sehr bald nach der Klangfarbe.“ Mit Klangfarbe referenziert Hemyari auch auf den Begriff der Fragilität „Die Musik von Sciarrino ist sehr fein und fragil – die Komponistin Daniela Terranova, eine Freundin von mir, unterrichtet Komposition in Triest. Bei einer Folge meines Podcasts spricht sie auch von dem Potenzial der leisen Klänge. Diese haben sehr viel Energie in sich“, ihr fällt sogleich ein Beispiel ein: „Im Konzert, wenn es so ruhig ist, kann man nicht husten. Alles ist voll Aufmerksamkeit und Energie. Was mich interessiert, ist dieses Feine, Zarte, bei dem man ruhig sein muss, um es zu empfinden.“
Schon bevor sie begann, digitale Kunst zu studieren, war Hemyari Teil des Ensembles Punctum Collective, mit dem sie für den Podcast zusammenarbeitet, aber auch selbst eine Vortragsreihe – blinds – in Kooperation mit dem Wiener Künstlerhaus konzipierte. Hierbei ist das Publikum dazu eingeladen, die erste Hälfte des Konzerts mit verbundenen Augen wahrzunehmen. Vortragsreihen und Serien an Stücken bereiten Nava Hemyari Vergnügen, da sie immer neue Ideen findet. Eine solche Serie nennt sich „names“. Dazu zählt das Stück „Mario“ (2019), das ihren ersten Kompositionsauftrag darstellt, den ihr Jaime Wolfson für sein Platypus Ensemble erteilte, mit dem sie auch bei Imago Dei zusammenarbeiten wird.
Dadurch, dass sich diese Serien oft über mehrere Jahre erstrecken, bieten sie auch Fenster zur Selbstreflektion: „Man kann sich auch in der Zeit betrachten. Die Einflüsse, die andere Menschen auf uns ausgeübt haben. Als ich bei Suppan studiert habe, war der analytische Musiker sehr klar in meiner Musik zu erkennen, dann habe ich mich mehr in diesem italienischen Bereich von Sciarrino und Filidei bewegt, in dem man mehr mit Klangfarbe zu tun hat. Dann, irgendwann, ist man eine Mischung – und ein individuelles Wesen“, konstatiert sie ihre Entwicklung. Doch gilt es noch viel zu erforschen, beispielsweise die Mittellage: Viele Kompositionen balancieren zwischen den Abgründen von extrem hohen Lagen und brummenden Basstönen, wie es zum Beispiel in Hemyaris Komposition „et Amputee“ (2022) der Fall ist, während die Kammeroper „Taxidermic“(2020), die mit Sopran, zwei Geigen und Viola besetzt ist, sich gänzlich in ziemlich hohem Frequenzraum bewegt.
Im Schatten zwischen abstrakt und konkret
Für die Wahl ihrer Titel hat die Komponistin, die sich selbst mit einem Augenzwinkern als „Kontrollfreak“ in der Komposition bezeichnet, zwei Zugänge: Entweder, sie beschreibt sehr konkret, was in dem Stück vorgeht, wie in „Euthanasia“(2018), in dem die Musiker:innen ihre Stimmen immer langsamer und langsamer spielen, bis das Stück irgendwann „einschläft“. Diese Art der Namensgebung verfolgt sie in einer Reihe an Stücken, einer Art „Serie“. Die anderen Male benennt Hemyari die Stücke mit einem abstrakten Begriff, der überhaupt nichts mit dem Stück zu tun hat. Das ist vor allem bei Kompositionen der Fall, in denen die Form im Mittelpunkt steht, wie bei dem noch unter Suppan geschriebenen „Allgemeines Verwaltungsrecht“, denen keine Geschichte oder außermusikalische Funktion innewohnt. Das Spekulative, das Abstrakte in der Musik übt auf sie starke Anziehung aus und stellt eine der größten Besonderheiten dieses Mediums dar. „Man kann zwar Zitate nennen, wie zum Beispiel die Dies-irae-Sequenz, aber eigentlich kann man bei einem Stück Musik nicht genau verstehen, was der Komponist oder die Komponistin auszudrücken versucht, sondern man hat immer seine eigene Vorstellung dazu. Und das finde ich schön, ich mag dieses Vage …: Es ist nichts, das etwas aussagt, sondern etwas Schönes. Nicht im Sinne von „schön“ im romantischen Sinn, sondern darin, dass es einen anzieht. Darin liegt keine notwendigerweise tiefe Bedeutung, sondern es ist einfach – da. Es ist lustig: In der bildenden Kunst gibt es sehr häufig konzeptuelle Zugänge, beispielsweise wird man auf der Angewandten motiviert, konzeptuell zu arbeiten, doch manchmal ist das Resultat visuell nicht ganz anziehend. Oft tritt allerdings auch das genaue Gegenteil ein: Vielleicht kennst du es, wenn du in eine Ausstellung gehst: Du siehst etwas und das ist sehr schön – dann gehst du einfach hin – ohne Grund.“
Bild und Sprache hingegen lassen den Eindruck einer Form immer schärfer werden. Eine Ursache, warum Hemyari das Mittel Film entdeckt und gewählt hat: „Manchmal habe ich das Bedürfnis, etwas klar zu sagen, manchmal weiß ich selber nicht, was ich genau sagen will“, schmunzelt sie. Im Musiktheater will sie jedoch immer eine abstrakte Ebene beibehalten und vermeiden, ein bloßes „Musikvideo“ aufzuführen.
Gedichte der Absurdität
Auf der anderen Seite kann man selbst mit Sprache abstrakte und nicht mit dem Verstand erfassbare Situationen etablieren. Das tritt laut Hemyari ein, „… wenn du konkrete Wörter zu einem Satz verbindest, sie aber auf komische Art und Weise verwendest, die keine Bedeutung hat. Am 9. März, dem Auftakt zum diesjährigen Imago Dei, werde ich singen und Jaime Wolfson wird Klavier spielen. Dafür habe ich vier kleine Gedichte der Absurdität geschrieben. Der erste Satz lautet, aus dem Englischen übersetzt: ,Sie ist eines Tages aufgestanden und sie hat alle Vögel mitgenommen‘. Das ergibt keinen Sinn. Ich fand einfach das Bild schön. Es macht grammatikalisch Sinn, ist aber gleichzeitig bedeutungslos.“
Dann wieder nutzt sie semantische Felder, die schon seit Tausenden von Jahren durchschritten werden: Durch Hemyaris Schaffen zieht sich, ähnlich wie bei ihrem Vorbild Francesco Filidei, der Tod wie ein roter Faden. Vielleicht fühlt sie sich deshalb in Wien so wohl, wo der Tod und der Grabeshumor hier doch fest in der Kultur verankert sind, reflektiert sie in einem Interview mit Roberta Lazo Valenzuela im Podcast der INMUAS. Bereits vor dem Ausbruch der Pandemie verarbeitete sie Themen wie Einsamkeit und Vergänglichkeit in der Oper „Taxidermic“(2020): „Ich bin oft so vertieft in Grübeleien, dass ich mich sehr mit diesem Thema beschäftige. Zum Tod – es ist nicht ganz logisch – hatte ich oft diesen Gedanken, dass man sich, indem man sich damit beschäftigt, was in der Zukunft kommt, darauf vorbereitet.“ Für Hemyari ist diese Angst vor dem Verlust indirekt auch an die Angst vor der Einsamkeit und den Verlust von Intimität geknüpft. Diese Intimität ist es auch, die sie an die Alte Musik bindet: Neben der Neuen Musik liebt die Komponistin Musik des Barock beziehungsweise der Renaissance, so singt sie etwa Lieder von John Dowland mit ihrem Ensemble Lux Brumalis. Auch ihrem Ideal des Zusammenhörens beim Spielen ist das leise, feine Verweben von Klangstrukturen zuträglich. Dem zum Trotz versucht sie, introvertierte und traurige Gedanken mit optimistischeren in Balance zu bringen.
Nochmals zurück zum Festival Imago Dei unter dem Motto „Balance“: Für dieses erhielt Nava Hemyari von Intendantin Nadya Kajali einen Auftrag als Composer in Residence, Jozèf Kofflers Streichquartett „Ukrainische Skizzen“ in einer neuen Komposition zu verarbeiten. Am 25. März 2023 kann man die Uraufführung in der Minoritenkirche in Krems hören. Auch Elektronik wird Teil der Besetzung sein. Aus dem sechssätzigen Werk entstehen vier Miniaturen, zwei davon zitieren die Originalkomposition. Die anderen Sätze sind eher abstrakt, da treten die Sprache und das Konzept in den Vordergrund, beispielsweise Sätze, die etwas mit Menschenrechten zu tun haben, zumal Koffler durch die Nationalsozialisten ermordet wurde und „Menschenrechte“ eines der Kernthemen des Festivals darstellen.
Gleichzeitig schreibt sie an einer Kammeroper, die mit Punctum Collective und unter Mitwirkung Sarah Maria Suns zur Aufführung gelangen soll – diese soll eine ihrer bisher größten Arbeiten sein. Wann und wo sie zur Uraufführung, steht noch in Verhandlung.
Mercedes Frühberger
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Termine:
Donnerstag, 9. März, 2023, 19:30 Uhr
Festival Imago Dei
PROLOG: MUSIKSALON
Concert and Artist Talk
Pallais Mollard
Herrengasse 9, 1010 Wien
Samstag, 25. März, 2023, 19:00 Uhr
NACH LEMBERG!
Festival Imago Dei
Klangraum Krems Minoritenkirche
Minoritenplatz 2, 3500 Krems an der Donau
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Links:
Nava Hemyari
Nava Hemyari (music austria Datenbank)
punctum collective
punctum collective (music austria Datenbank)
„Die Stimme […] ist ein biologisches Instrument.“ – NAVA HEMYARI im mica-Interview.