„ALTE IKONISCHE EMOTIONSAUSLÖSER, DIE ERPROBTERWEISE FUNKTIONIEREN“ – GEORG NUSSBAUMER IM MICA-INTERVIEW

Der Komponist und Konzeptkünstler GEORG NUSSBAUMER wurde 1964 in Linz geboren und lebt in Wien mit Blick über den Wallensteinplatz. Seine Arbeiten bewegen sich zwischen Komposition, Installationskunst, Performance und Musiktheater und werden national und international auf Festivals, in Opern-, Kunst- und Theaterhäusern gezeigt. GEORG NUSSBAUMER arbeitet sowohl mit hochspezialisierten Performer:innen und Musiker:innen, genauso selbstverständlich aber auch mit Sänger:innen von Laienchören, mit Bogen- und Prangerschützen, Apnoetauchern, Motorradfahrern oder Kühen.

Im Rahmen der Kulturhauptstadt Europas Bad Ischl Salzkammergut 2024 werden im Laufe des Jahres vier Projekte (Projektträger: ARGE Hallschallzeit, gemeinsam mit Norbert Schweizer) unter dem übergeordneten Titel „Salzkammer(sc)hall“ als lustvolle Ver-Rückungen von traditionellen Klängen wahrnehmungserweiternd in die Landschaft gesetzt: hör- und sichtbare, subtile Irritationen, akustisches Kultursalz im Spannungsbogen zwischen Salzkammerschall und Salzkammerhall. Am Sonntag, 9. Juni 2024 von 15:05 bis 15:31 Uhr folgt als zweiter Teil „Der langsame Schuss“.

Das Salzkammergut ist ja vor allem auch bekannt als Ort der Sommerfrische. Wie hältst du es mit der Sommerfrische?

Georg Nussbaumer: Ich stamme ja aus Grünau im Almtal, auch eine teilnehmende Gemeinde der Kulturhauptstadt Salzkammergut Bad Ischl 2024. Ich habe als Kind und Jugendlicher alle meine Sommer bei meiner Oma verbracht, die eine Frühstückspension betrieben hat. Und ein Schulfreund im Musikgymnasium in Linz hat es tatsächlich geschafft, dass er eine Zeitlang in der Kaiservilla in Bad Ischl gewohnt hat. Er hatte darin zwei riesige Zimmer, die er nicht heizen konnte, und wir haben beim offenen Backrohr getrunken und geraucht.

Ich habe also durchaus eine sehr enge Beziehung zu der Landschaft und vor allem zu den Sommern dort. Ich war schon auch Schifahren, aber ich würde sagen, Schifahren ist nicht so spezifisch landschaftsbezogen – rundherum ist ja nur Wald, Schnee oder nix.

Aber: die vielen Recherche-Fahrten mussten wir mit dem Auto absolvieren, und auf jedem Streifen Schotter stehen schon Autos. Das zeigt, wie überfüllt diese Gegend mit Tourist:innen ist. Und es stand von vornherein fest, dass im Sommer nur sehr begrenzte Kapazitäten für Projekte vorhanden sind, weil einfach keine Unterkünfte für Besucher:innen zur Verfügung stehen.

Deine vier Salzkammer(sc)hallProjekte finden im Zeitraum von Jänner bis Oktober 2024 statt. Es startet am 19. Jänner mit einer kinetischen Klangskulptur auf Schienen, deiner mit 107 Kilometern bisher längsten Komposition …

Georg Nussbaumer: Das Projekt „DER GLÖGGLWAGGON“ wird mit der Lehrlingswerkstätte der ÖBB in Linz entwickelt und gebaut. Voraussichtlich werden auch die Klimaministerin und der ÖBB-Generaldirektor mitfahren. Das Projekt wurde durch das Engagement der ÖBB stark ausgeweitet ‒ das wäre mit unserem Budget nicht annähernd möglich gewesen ‒ ursprünglich geplant als Draisine, die auf einem Abstellgleis ein paar Mal hin- und herfährt.

Der Glögglwaggon (c) Montage Georg Nussbaumer
Der Glögglwaggon (c) Montage Georg Nussbaumer

„ICH HABE MIR URSPRÜNGLICH GEDACHT, ES WÄRE SPANNEND, WENN EVENTUELL KIRCHENGLOCKEN AUF DIESE GLÖGGLWAGGON-FAHRT ANTWORTEN BZW. REAGIEREN KÖNNTEN.“

Es gibt ja die traditionellen Glöcklerläufe in Ebensee und Bad Ischl. Diese Glöckner tragen riesige, bedrohlich laute Schellen am Rücken und am Kopf von innen her beleuchtete, riesige Kappen. Diese zeigen Bilder aus dem Handwerk, aus der Ortsgeschichte, aus dem Religiösen. Es ist etwas sehr Archaisches, Heidnisches. Und diese Tradition mit den Lichtkappen gibt es glaube ich auch nur in dieser Region. Ein verstorbener Freund von mir war der Ebenseer Dichter Walter Pilar. Von ihm stammt das Gedicht „GLÖGG LA“.

GLÖGG LA

Weisze F
weisze FI
weisze Flo
weisze Flockn;
a Stecka,
a weisze Gattehosn &
weisze Sockn.

GI-gl-gl-gl-gl-gl-gl-glöck
-öck-öck-öck-öck-öck
gl – la gl – la glöckl – Ia glöckl – la
glöck – la glöckö – la glöcklla
ahh
die gleckla bittadn um a gloane spendt!

Nachbemerkung zu die „Glögg la“: Obiges gedicht versucht mit den mitteln der konkreten poesie so ein regionales phänomen wie den alten brauch des glöcklerlaufens im Salzkammergut synästhetisch zu vergegenwärtigen. & wer hätte es sich vor 2009 vorstellen können, daß jemals eine reine ‚weiwapaß bei den ca. 30 männlichen glöcklerpassen mitlaufen würde. Durch die ‚normative kraft des faktischen (Herbert Marcuse) aber gibt es nun weibliche kappenmotive, welche auch sagen (z.b. d’ berigweiwön), handwerkliches tun (stichwort: Ebenseer Kreuzstich) od. märchen aufzeigen, wie sie männliches dominanzgehabe & -e vorstellungskraft nie dargestellt hätten.
Walter Pilar, Lebenssee ~
Ritter Verlag 1996

Ich habe mir ursprünglich gedacht, es wäre spannend, wenn eventuell Kirchenglocken auf diese Glögglwaggon-Fahrt antworten bzw. reagieren könnten. Und jetzt ist es sogar so, dass alle an der Strecke liegenden Kirchen von Attnang-Puchheim bis Steinach-Irdning ein zweiminütiges Festgeläute abhalten. Es wird also diese Glögglwaggon-Fahrt an diesem Freitag-Nachmittag einen irren Schwall an kirchlichem Glockengeläute auslösen. Das ist schon unglaublich, und auch, dass wir einen Slot für diese Waggonfahrt bekommen haben.

Woher hast du die Glocken für diese fahrende Klangskulptur?

Georg Nussbaumer: Ja, ich musste mich ‒ wieder einmal ‒ um Glocken umsehen. Für mein Projekt im Flachgau 2021 hatte ich drei riesige, ausgemusterte Kirchenglocken aus Passau ausgeliehen. Im Carport des Glockengießers sehe ich jetzt ein gigantisches Carillon, mit über 40 Tönen das größte mobile Carillon Europas. Da haben wir uns dazu entschlossen, eine große Glocke und dieses Carillon zu verwenden. Und von einer weiblichen Glöcklergruppe aus Ebensee, der ersten Frauen-Glöcklerpasse, konnten wir sämtliche Schellen leihen.

Dann gibt es auch noch Paddel, die vom Fahrtwind nach hinten gekippt werden und damit die Glockenklänge auslösen. Um zu experimentieren, haben die Maschinenbauer extra einen Autoanhänger organisiert und sind testweise damit am Werksgelände gefahren.

Warum die Paddel?

Georg Nussbaumer: Die Salzgewinnung hat ja auch mit der Flößerei und der Traunseeschifffahrt zu tun.

Der Titel des zweiten Projektes klingt paradox: „DER LANGSAME SCHUSS“.

Georg Nussbaumer: Da gibt es auch wieder eine interessante Genese dazu. Der ursprüngliche Gedanke war, dass Jäger – deren Schüsse man in der Dämmerung im Salzkammergut manchmal hört – in einer schnurgeraden Linie durch das ganze Salzkammergut aufgereiht stehen und nacheinander einen Schuss abgeben. Ich habe dann auf einer Landkarte zwei Linien gefunden, eine Verbindungslinie vom Donnerkogel nach Hörbach. Und eine vom Knallstein zum Hollerberg. Diese beiden Linien kreuzen sich zufällig in Bad Ischl. Bad Ischl galt ja einmal als Zentrum des Kaiserreiches – auch geografisch gesehen mit den gleichen Abständen zu den einzelnen Ländergrenzen.

So ein Projekt ist ja genehmigungstechnisch ein Wahnsinn. Beim Nachdenken, wen wir kontaktieren könnten, ist Norbert Schweizer auf die sogenannten Prangerschützen gestoßen. Die Prangerschützen sind Weltkulturerbe – die dürfen, wo sie wollen, zu jeder Tages- und Nachtzeit ballern. Das heißt, man braucht keine Genehmigung für ihren Einsatz. Und wir hatten dann plötzlich mehr als ausreichend Prangerschützen zur Verfügung. 2024 gibt es zufällig auch ein Europäisches Prangerschützentreffen – die Szene geht bis Belgien rauf – am Mondsee, bei dem 30.000 Schützen erwartet werden.

Georg Nussbaumer: Der langsame Schuss
Georg Nussbaumer: Der langsame Schuss

„UND DER GEDANKE IST, DASS DER NACHHALL DER LANDSCHAFT JA GANZ UNTERSCHIEDLICH IST UND DIESER UNTERSCHIEDLICHE NACHHALL- UND ECHOSCHWALL DURCH DIE GEGEND ZIEHT.“

Vereinfacht gesagt: Sie stehen in einem Abstand von etwa 700 Metern. Alle 15 Sekunden nach einem Schuss erfolgt somit der nächste. Und jeder Schütze feuert insgesamt mehrmals – wobei man bedenken muss, dass sie über zwei Minuten zum Nachladen des Schwarzpulvers benötigen. Es sind verschiedene Abfolgen geplant – und übrigens auch Schützinnen dabei, das wurde uns versprochen. Und der Gedanke ist, dass der Nachhall der Landschaft ja ganz unterschiedlich ist und dieser unterschiedliche Nachhall- und Echoschwall durch die Gegend „zieht“. Auch die Sichtbarkeit des Einzelschusses durch den Rauch finde ich sehr schön. So ein Stutzen wiegt übrigens an die fünfzehn Kilo, die werden mit Schwarzpulver gestopft – sie haben kein Projektil. Der Prangerstutzen ist ein Vorderlader, er ist bereits eine sublimierte Form einer Waffe, weil man damit nicht zielen kann. Ist sozusagen aus dem Bedürfnis und der Freude am Lärm entstanden …

Bei deinem dritten Projekt „DER GESUNGENE HORIZONT“ ist einer der Ausgangspunkte ein Ausspruch von Gustav Mahler, bezogen auf das Bergpanorama am Attersee. „Da brauchen Sie gar nicht mehr hinsehen, das habe ich schon alles wegkomponiert“, soll der Komponist zum Dirigenten Bruno Walter gesagt haben.

Georg Nussbaumer: Mittlerweile ist das Komponierhäuschen mit einem Klavier in Steinbach am Attersee mitten in einem Campingplatz gelegen. Etwas absurd. Der Basisgedanke, den ich elaborieren möchte, ist, dass sich eine große Gruppe von singenden Menschen gemeinsam im Kreis dreht und den Horizont absingt.

„DER VOLKSMUSIKFORSCHER HANS GIELGE HAT DIE THEORIE VERTRETEN, DASS VIELE JODLER ABGESUNGENE BERGPANORAMEN DARSTELLEN.“

Im Zuge der Recherche hat mich ein Musiklehrer aus Bad Aussee auf einen gewissen Herrn Hans Gielge hingewiesen. Dieser Volksmusikforscher in Bad Aussee hat die Theorie vertreten, dass viele Jodler abgesungene Bergpanoramen darstellen. Er veranschaulicht das mit aquarellierten Bergeszacken-Vignetten. Und ich finde das eine wahnsinnig schöne Idee, denn parallel geführte Jodler entsprechen dann hintereinander gelagerten Bergpanoramen.

Am Offensee haben wir den idealen Aufführungsort für „DER LANGSAME SCHUSS“ gefunden. Rundherum gibt es ein Bergpanorama, die Felsenberge vom Toten Gebirge, auf der anderen Seite bewaldetere Berge. Dieser langsamdrehende Riesenchor orientiert sich an einem analogen Cursor-Zeiger.

Damit der Gesang gerichtet ist, bekommen sie alle auch Schalltrichter. Und wenn der Chor dann zum Beispiel in der Drehung an einer Kirche angelangt, dann wird ein Ausschnitt aus einem Repertoirestück – zum Beispiel einem Kirchenlied – gesungen. Dasselbe passiert, wenn sie ein Wirtshaus oder ein Jagdhaus, einen See oder eine Kapelle am Horizont erreichen. Diese Objekte entlang der großen Linie werden quasi hineinzitiert. Kleinere einzelne Chöre werden andere oder gegengleiche Drehungen machen. Wir wissen noch nicht genau, welche Chöre genau dabei sein werden, daran arbeiten wir mit dem OÖ Chorverband.

Übrigens: Meine erste Kunstreise in diese Gegend war ja ein Vorläufer des Festivals der Regionen. Ich habe da 1991 gemeinsam mit Christoph Herndler, Walter Pilar und Norbert Schweizer die Kunsttagesreise Präbrunft/Postbrunft konzipiert und organisiert.

Kommen wir zum vierten und letzten Teil des SALZKAMMER(SC)HALL-Projektes: „DIE LANDSSCHAFTSORGEL“.

Georg Nussbaumer: Die Geschichte zur Inspiration mag etwas romantisch klingen. Es gibt im Toten Gebirge eine Höhlen-Stelle, die nennt sich „Singende Lücke“. Wenn man dort in dieser Felswüste draußen biwakiert, hört man plötzlich unheimliche, pfeifende Orgel- bzw. Obertöne. Da kam mir der Gedanke, so eine „orgelnde Landschaft“ künstlich mit Musiker:innen herzustellen. Scheinbar zufällige Klangflächen mit verschiedenen harmonischen und nichtharmonischen Strukturen sollten begehbar sein. Zuerst wollte ich die Blasmusik:innen in den aktuellen Schreinen des Mobilitäts-Heiligtums, in den überall verstreut errichteten Carport-Kapellen und Garagen-Kapellen auftreten lassen. Aber dafür sind die Ortsstrukturen leider zu kompliziert und auch die Mitmachbereitschaft ist nicht sehr groß.

Dann hat sich die Idee mit einer Grube ergeben – also der Altausseer See und eine Schottergrube in Vorchdorf. Diese zwei sehr konträren Behälter für die Landschaftsorgel, eine Grube angefüllt mit Wasser und wunderschön. Und die andere Grube ist ohne Wasser und erinnert an das Death Valley in Amerika. Ein Stück, das sich akustisch auffächert und sich dann aus dem Prisma zu einem Unisono-Ton wieder vereint. Auch einzelne Passagen aus Märschen wird es zu hören geben.

Wie würdest du die Gemeinsamkeit der traditionellen Elemente Glocken, Schüsse, Chorgesang und Blasmusik, die in deinen SALZKAMMER(SC)HALL-Projekten vorkommen, beschreiben?

Georg Nussbaumer: Alte ikonische Emotionsauslöser, die erprobterweise funktionieren.

Herzlichen Dank für das Interview!

Michael Franz Woels

++++

Termine:

Georg Nussbaumer: SALZKAMMER(SC)HALL

DER GLÖGGLWAGGON
kinetische Klangskulptur auf Schienen Bahnstrecke von Attnang-Puchheim bis Stainach-Irdning 
Freitag, 19. Januar 2024, Eröffnung in Attnang Puchheim um 15:15 Uhr

DER LANGSAME SCHUSS
Ein temporäres akustisches Relief des gesamten Salzkammerguts aus hunderten Schüssen
Sonntag, 9. Juni 2024, 15:05 bis 15:31 Uhr

DER GESUNGENE HORIZONT
Das Gebirgspanorama am Offensee als imposante Gesangslinie für bis zu 300 Mitsingende
Chorleitung: Alexander Koller
Sonntag, 29. September 2024, 15 Uhr, Offensee 

DIE LANDSCHAFTSORGEL
Das Publikum wandelt durch mächtige Klangflächen, die von bis zu 300 Blasmusik:innen in die Landschaften am Altausseer See und in der Schottergrube Vorchdorf freigesetzt werden.
musikalische Gesamtleitung: Markus ReschBezirksobmann Gmunden Domenik Kainzinger-WebernBezirksobmann Bad Aussee
Vorchdorf und Altausseer See an zweien der drei Samstage 5./12./19.Oktober 2024

++++

Link:
SALZKAMMER(SC)HALL
Georg Nussbaumer