Alpen statt Appalachen – die österreichische Bluegrass-Szene im mica-Porträt

Bluegrass – das ist vermutlich die kleinste Musikszene Österreichs, sie umfasst etwa ein Dutzend Bands. Es gibt kaum mediales Interesse, wenig bis gar kein Airplay im Radio und dennoch scheint die Abstinenz von jeglichem Mainstream für gute Vitalität zu sorgen: Manche Bands gibt es seit mehr als fünfundzwanzig Jahren. Die Szene ist überschaubar und familiär, man kennt sich. Eine Spurensuche im Windschatten der Alpen, nicht der Appalachen.

„Wenn man durch den Osten von Kentucky fährt und sieht, wie arm diese Gegend ist, dann kriegt man schon einen Draht dafür, wie die Lieder gemeint sind.“ (Helmut Mitteregger, Nugget)

„Wir haben die Band vor rund acht Jahren gegründet und sind seit fünf Jahren live unterwegs“, sagt der Banjo-Spieler Andreas Hartl. Wir befinden uns im Backstage-Bereich des St. Pöltner Freiraums, es ist der 7. November 2015 und es haben sich drei heimische Bluegrass-Gruppen angekündigt: Nugget, Carolina Ramblers und The Gallows Fellows, deren Bandleader Andreas Hartl ist. Er hat den Abend organisiert. Die Gründung von The Gallows Fellows hat sich zufällig ergeben, als sich Hartl mit zwei Musikerkollegen getroffen hat und gemeinsam überlegt wurde, welche Musik man – mit Banjo, Geige und Gitarre – spielen könnte: „So sind wir in die Bluegrass-Schiene gekommen, weil für mich Country und Bluegrass schon in früheren Jahren ein Thema waren.“ Die Grenzen zwischen den Genres verlaufen nahtlos, The Gallows Fellows spielen Country-Songs genauso wie irische Nummern oder sie stecken das Waylon-Jennings-Stück „Back to the Barrooms“ in ein Bluegrass-Gewand. Klassiker wie „Man Of Constant Sorrow“, das Ralph Stanley zugeschrieben wird, und „Blue Moon of Kentucky“ hat die Gruppe ebenfalls im Repertoire. Oder „Salty Dog Blues“. „Das ist ein Klassiker“, weiß Hartl. „Es gibt kaum eine Bluegrass-Band, die die Nummer nicht gespielt hat.“

Züge, Minen, Felder

Als Musikrichtung entstand Bluegrass in den 1930er- und 1940er-Jahren im Osten der USA und baute damals auf Stücken auf, die zum Teil bis ins 19. Jahrhundert zurückreichten. In den 1930er-Jahren wurde Bluegrass insbesondere vom Mandolinen-Spieler Bill Monroe geprägt und mit seiner Band The Bluegrass Boys umgesetzt. Im Jahr 1945 spielte Monroe mit zwei weiteren Säulenheiligen des Bluegrass ein Konzert in Nashville, das für die Geschichte des Bluegrass von Bedeutung ist: Begleitet von Earl Scruggs am Banjo und Lester Flatt an der Gitarre wurde gleichsam die Basis für die weitere Entwicklung des Bluegrass gelegt.
Inhaltlich arbeiten sich die Stücke des neuen Genres an Themen wie Liebe, Beziehungen, Arbeit – auf den Feldern oder in Kohleminen – und Eisenbahnen ab. Auch Bezüge zum Amerikanischen Bürgerkrieg oder zum Wilden Westen („The Ballad of Jesse James“) werden in den Liedern hergestellt und in den Bluegrass-Gospels geht es um religiöse Inhalte.

„Die Verbreitung von Bluegrass ist in Österreich nicht sehr groß und Bluegrass wird meist als Teilbereich von Country gesehen“, sagt Andreas Hartl, der ein Spätberufener ist und erst vor etwa zehn Jahren begonnen hat, Banjo zu spielen. „Aber spätestens seit Ende der 1960er- beziehungsweise Anfang der 1970er-Jahre wird Bluegrass auch in Österreich gespielt.“ Altgedient ist auch der zweite Act an diesem Abend in St. Pölten: Carolina Ramblers.
„Wir spielen hauptsächlich Lieder aus der goldenen Zeit des Bluegrass, aus den 1950er-Jahren, aber auch Bluegrass-Gospelsongs“, sagt Bandleader und Sänger Alfred Linsbauer, der mir im stylischen Country-Hemd gegenübersitzt und gleich auf die Bühne gehen wird. Gespielt wird akustisch, die Instrumente werden mit Mikrofonen abgenommen. Die Carolina Ramblers stehen dabei nicht alle um ein Großmembran-Mikrofon herum, wie es früher traditionell gemacht wurde, sondern jeder der vier Musiker hat je ein Mikrofon für sein Instrument und den Gesang. So könnte man Bluegrass als Vorreiter für den Unplugged-Boom der 1990er-Jahre sehen. Live bestechen die Carolina Ramblers durch mehrstimmigen Gesang, so verwundert es nicht, dass die 1984 in Mautern in Niederösterreich gegründete Gruppe von der Austrian Country Music Federation (ACMF) bereits fünfmal zur „Bluegrassband des Jahres“ gewählt worden ist.

Zweimal Europas beste Bluegrass-Band

Hoch dekoriert ist auch der Haupt-Act an diesem 7. November: Nugget wurde zweimal zur besten Bluegrass-Band Europas gewählt, von der ACMF gab es schon mehr als zwanzig Auszeichnungen. „Heute ist eine einmalige Gelegenheit“, freut sich trotz aller Lorbeeren die Sängerin und Bassistin Katarina Mitteregger im Backstage-Bereich des Freiraums. „Heute ist ein besonderer Abend“, stimmt ihr Ehemann Helmut Mitteregger zu. Die beiden sind die Hälfte von Nugget. Die Band gibt es in wechselnden Besetzungen seit 1976. Damals war Helmut Mitteregger 14 Jahre alt und sein Bruder drückte ihm mit den Worten „Du lernst das jetzt!“ eine Ukulele in die Hand. Heute spielt Mitteregger, Gitarre, Ukulele, Banjo und Mandoline und ist über all die Jahre dem Genre treu geblieben. „Es ist eine sehr authentische, pure Musik. Eine einfache Musik, die in der bäuerlichen, ländlichen Gegend entstanden ist“, sagt er.
Nugget spielen einerseits eigene Lieder und schöpfen andererseits aus einem Fundus von einigen Hundert Liedern, auf die viele Bands zurückgreifen. „An den älteren Songs fasziniert mich, dass sie oft mit ganz wenigen Textzeilen sehr viel aussagen. Die Texte sind sehr genau am Punkt“, sagt Katarina Mitteregger. „Die Musiker hatten auch nicht die Sprache etwa eines Bob Dylan und haben nicht politisiert“, ergänzt Helmut Mitteregger. Stattdessen wird das Leben als Bauer, die harte Arbeit in den Minen und die Freude am Musikmachen thematisiert. „Wenn man sich mit den Texten beschäftigt, landet man automatisch in der amerikanischen Geschichte und in der Musikgeschichte“, bestätigt Andreas Hartl von The Gallows Fellows.

„In den USA, im Mutterland des Bluegrass, zu spielen, wäre natürlich ein Traum.“ (Alfred Linsbauer, Carolina Ramblers)

Immer wieder begeben sich die österreichischen Bluegrass-Bands auch ins Ausland. The Gallows Fellows agieren von St. Pölten aus und spielen hauptsächlich in Niederösterreich, Wien und Oberösterreich, aber heuer hat ein Auftritt die Band nach Portugal geführt. Die Carolina Ramblers haben schon in Deutschland, in Ungarn und in der Schweiz aufgespielt. „In den USA, im Mutterland des Bluegrass, zu spielen, wäre natürlich ein Traum“, meint Alfred Linsbauer. Diesen Sprung über den großen Teich haben Nugget bereits viermal geschafft. „Als europäische Band hat man einen kleinen Bonus, wenn man in den USA Bluegrass authentisch spielt“, erzählt Helmut Mitteregger. „Früher haben Nugget immer wieder in den USA gespielt und dort auch die Musikergenerationen nach den Erfindern von Bluegrass kennengelernt. Da versteht man dann schön langsam die Themen. Wenn man durch den Osten von Kentucky fährt und sieht, wie arm diese Gegend ist, dann kriegt man schon einen Draht dafür, wie die Lieder gemeint sind.“ Solche Toure-Erfahrungen haben sich für ihn auch positiv auf die Entwicklung der Band ausgewirkt: „Ich glaube, jedes Mal, nachdem wir in Amerika waren, singen wir ein bisschen authentischer.“

Blick über die Grenze

Der Blick über den eigenen Tellerrand hinweg scheint für österreichische Bluegrass-Bands obligatorisch zu sein. Denn Festivals, die sich explizit der Bluegrass-Musik widmen, gibt es bei uns keine. Dafür wird ein solches Festival jedes Jahr in München veranstaltet und im bayrischen Aschau, nahe an der österreichischen Grenze, wird alljährlich ein Bluegrass-Camp abgehalten. Da kommen Bluegrass-MusikerInnen aus ganz Europa zusammen und jammen miteinander oder nehmen an Workshops teil, die von internationalen Größen wie Bill Evans oder Tony Trischka geleitet werden. „Bei solchen Workshops trifft man auch Kollegen aus Österreich wieder“, sagt Andreas Hartl und lächelt. Es bleibt also familiär.
In Tschechien besteht eine große Bluegrass-Szene, die sich seit den 1960er-Jahren entwickelt hat. „Es gibt die Theorie, dass sich die Menschen dort unterdrückt gefühlt haben und hinaus in die Natur gegangen sind und Musik gemacht haben“, erzählt Alfred Linsbauer. Von Folk war es dann nur ein kleiner Schritt zu Bluegrass, heute agieren in Tschechien mit Prucha und Capek gar Instrumentenbauer, die es mit amerikanischen Instrumentenbauern aufnehmen können. So wundert es nicht, dass Katarina, die Frau von Helmut Mitteregger ursprünglich aus Tschechien stammt und dass die beiden Jahoda-Brüder Jaromir (Mandoline) und Zdenek (Banjo), die die zweite Hälfte von Nugget bilden, in Tschechien die erfolgreiche Bluegrass-Band Monogram betreiben.
Die Nachwuchsprobleme in Österreich sind in den letzten beiden Jahren durch zwei Bandgründungen etwas kleiner geworden: Wanjo Banjo, die bereits in einem mica-Interview vorgestellt wurden, spielen im Bluegrass-Stil in den Waldviertler Dialekt übertragene Stücke wie „Lola“ oder „Massachusetts“. Und die New Blue Mountain Crew rund um die Violinistin Claudia Fenzl und den Gitarristen und Sänger Dominik Plangger wusste bei ihrem Auftritt im Rahmen des Americana Music Festival 2015 zu begeistern. Es besteht also Hoffnung, dass sich die heimische Szene weiterentwickelt. Zudem gibt es in Wien und in St. Pölten regelmäßig Bluegrass-Sessions, die für alle Interessierten offen sind. Und auch die Österreichisch-Amerikanische Gesellschaft im 1. Wiener Gemeindebezirk gibt Bluegrass-Gruppen regelmäßig die Möglichkeit, in ihren Räumlichkeiten aufzutreten.

Bei den Bluegrass-Sessions im Café Concerto, die dort in den 2000er-Jahren einmal im Monat stattfanden, lernte der Banjo-Spieler Herbert Schicht Gleichgesinnte kennen. Schicht wandte sich einst dem Bluegrass zu, weil ihn der Klang des Banjos faszinierte. Im Jahr 1991 bekam er ein Banjo geschenkt und begann zu lernen. Banderfahrung mit der Country-Band Salt Lake Village Ramblers hatte er bereits gesammelt und so war der Schritt zu einer eigenen Bluegrass-Band logisch. Die Sessions im Concerto erwiesen sich schließlich als die geeignete Basis für die Gründung der Band Roughroad im Jahr 2006. „Wir spielen mit typischen Bluegrass-Instrumenten, das heißt, wir haben eine Gitarre, die mit Cross-Picking gespielt wird, Mandoline und Banjo dabei. Und für ein paar Lieder, die in Richtung Cajun gehen, spiele ich auch Akkordeon“, sagt Herbert Schicht, dessen Hauptinstrument das Banjo ist. Ergänzt wird der Instrumente-Fuhrpark durch Kontrabass, Maultrommel und selbst gebaute Schlaginstrumente. Eliza Kölbl – wie Richie Hafner ein Gründungsmitglied der Band – hat bis 2015 neben dem Cajon auch die irische Rahmentrommel Bodhrán gespielt. Musikalisch greifen Roughroad auf klassische instrumentale Bluegrass-Stücke wie „Foggy Mountain Breakdown“, „Dear Old Dixie“ oder „Blackberry Blossom“ zurück, doch es werden auch Country-Stücke ins Programm gemischt. Bei der Session, die den Konzertabend im Freiraum beendet, ist Herbert Schicht von Roughroad mit seinem Akkordeon auch mit auf der Bühne.

„Früher haben wir öfters in St. Pölten gespielt, auf der Ruine Hohenegg gab es dreitägige Country-Festivals. Jetzt, nach so vielen Jahren ist das heute wieder ein kleiner Beginn“, hofft Alfred Linsbauer von den Carolina Ramblers. Wer weiß, vielleicht wurde im Freiraum der Grundstein für eine rosige, bluegrass-gefärbte Zukunft in Österreich gelegt.

Jürgen Plank