WOLFGANG KOGERT ist Organist der Wiener Hofburgkapelle und unterrichtet an der Universität Mozarteum in Salzburg. Auf seinem aktuellen Solo-Album „HORIZON“ präsentiert er neues Repertoire für Orgel ab dem Jahr 2000 – eine sehr persönliche Auswahl von neun Stücken, die zum Teil extra für diese pure, mikrokosmische Orgel-Aufstellung komponiert wurden. Mit Michael Franz Woels sprach er über ein musikalisches Erweckungserlebnis bei einer Aufführung im Rahmen Neuer Musik, über die Freundschaften zu einzelnen Komponist:innen und über den Zeitpunkt, an dem die Stille unerträglich werden kann.
Dein zeitlicher Horizont, den du orgelgeschichtlich bespielst, geht zurück bis zum Robertsbridge Codex. Was ist das Besondere an diesen Musikstücken?
Wolfgang Kogert: Der Robertsbridge Codex enthält die frühesten Aufzeichnungen von Tastenmusik. Die Kompositionen aus dem Jahr 1330 – größtenteils zweistimmige Tanzsätze – wurden in der Abtei Robertsbridge in England entdeckt. Ich finde es unglaublich interessant, wie aktuell diese alte Musik klingt: unmittelbar ansprechend, rhythmisch-tänzerisch, energetisch-packend. Generell faszinieren mich Stücke, die durch ihre Gestik und Rhetorik einen direkten, affektgeladenen Bezug zum Menschen herstellen können.
Und für das Publikum, das diese alte Musik nicht kennt, ist sie ja auch „neu“. Die Jahrhunderte, die zwischen alter und neuer Musik liegen, werden durch die geweckten Emotionen verbunden. Ich finde es sehr beglückend, durchdachte Programme zu entwerfen: Alte Musik abwechselnd mit Neuer Musik, um Kontraste zu erzeugen und so ungehörte Klangwelten in beide Richtungen – alt und neu also – zu präsentieren.
Friedrich Cerha eröffnet mit einer Toccata deine CD „HORIZON“. Er hat in sehr spätem Alter das Komponieren für die Orgel entdeckt. Was denkst du, wirst du im späten Alter noch musikalisch entdecken? Wird es dann eventuell von dir auch ein paar Kompositionen für Orgel geben?
Wolfgang Kogert: Wenn ich etwas komponieren würde, dann wären das eher Stücke für den Unterricht. Module, um die Orgel improvisatorisch zu begreifen und spielerisch zu ertasten. Größere Kompositionen würden mir zu viel Zeit kosten. Durch das Bedenken der unzählig vielen Möglichkeiten würde ich nicht so schnell vorwärtskommen. Und ein Stück definitiv abzuschließen, das würde mir sehr schwerfallen.
Ich hoffe, ich entdecke auch im hohen Alter immer noch Musik, die mich sofort beim ersten Kontakt durch ihre Form und Textur inspiriert. Und ich hoffe, ich bleibe neugierig auf die viel jüngere Generation. Zum Teil spiele ich ja auch jetzt schon Stücke von Komponist:innen, die um zwanzig Jahre jünger sind. So kann man am Puls der Zeit bleiben.
„DAS PURE KLANGSPEKTRUM DER ORGEL IST JA SCHON RECHT REICHHALTIG.“
Kannst du bei der jüngeren Generation an Komponist:innen gewisse Tendenzen bei den Stücken feststellen?
Wolfgang Kogert: Die Pluralität ist in allen Generationen extrem groß. Ab und zu bin ich in Jurys für Kompositionsförderungen, Preise und Wettbewerbe. Der Anteil an konzeptionellen Stücken, an Stücken mit gesampelten Geräuschen ist sehr hoch. Die Komponist:innen, die noch sehr viel Wert auf Harmonie, Rhythmus und Form legen – also unter Anführungszeichen auf eher traditionelle Aspekte, die sind fast in der Unterzahl. Auf meiner CD „HORIZON“ gibt es kein einziges Stück mit Elektronik, Stimme oder anderen Instrumenten. Das pure Klangspektrum der Orgel ist ja schon recht reichhaltig.
Die einzelnen Orgel-Stücke auf deinem Album „HORIZON“ verdeutlichen unterschiedliche Charaktere von Komponist:innen. Und du hast ja auch alle Komponist:innen im Rahmen der Aufnahmen kennengelernt?
Wolfgang Kogert: Ich habe mit allen Komponist:innen im Zuge der Aufnahmen persönlich zusammen gearbeitet. Manche kenne ich schon seit vielen Jahren. Bei Friedrich Cerhas Toccata fasziniert mich diese Frische und Lebendigkeit, diese Virtuosität und Motorik, die kontrastreiche Struktur. Er hat das Stück mit über neunzig Jahren geschrieben. Ich habe damals für die Uraufführung, auch bei der Notenherstellung, sehr eng mit ihm zusammengearbeitet. Es ist faszinierend, mit welcher Unnachgiebigkeit er sich jeden Ton akribisch überlegt und genau kontrolliert. Er gibt auch ungeniert direkte Rückmeldungen.
In seinen Orgelstücken verzichtet er auf alle Spezialeffekte, setzt auf ganz pure, idiomatische Klänge. Für das Fest zu seinem 95. Geburtstag habe ich mit ihm die Toccata erarbeitet, es war auch ein gemeinsamer Prozess mit dem Notensetzer. Ich habe ihm auch Probenaufnahmen geschickt, von Registrierungen und Artikulationen. So wurde die Uraufführung im Rahmen des Festkonzerts 2021 im ORF RadioKulturhaus Wien vorbereitet. Es war eine sehr schöne und erfüllende Arbeit mit ihm, über Wochen und Monate hinweg.
„DAS ORGELSPIEL AN SICH IST ABER OFT EIN RECHT EINSAMES UNTERFANGEN.“
Du kombinierst Orgelklänge immer wieder auch gerne mit der menschlichen Stimme. Die menschliche Stimme ist das wohl transportabelste Instrument, die Orgel wiederum ein sehr riesiges Instrument, auf dem man hantiert. Was fasziniert dich daran? Wie setzt man sich mit dieser schieren Größe auseinander? Ein Fun-Fact, der mir beim Recherchieren untergekommen ist: Die größte Orgel der Welt wiegt angeblich unfassbare 150 Tonnen, ist allerdings nur zum Teil funktionsfähig. Sie steht, wenig überraschend, in Amerika (Atlantic City).
Wolfgang Kogert: Das Füllen großer Räume durch Klänge hat mich immer schon interessiert. Aber eigentlich waren es vor allem die Klangfarben. Ich kann mich noch erinnern, was mich als Kind unglaublich fasziniert hat: Wenn der Organist in der Kirche bei der letzten Strophe die Mixtur – diese helle, strahlende Klangfarbe – ziehen wollte, dann habe ich das von unten immer schon vorher gesehen, da er sich mit dem Oberkörper stark nach rechts gebogen hat um das Register zu erreichen. Ich habe mich dann immer sehr auf diesen speziellen Klang gefreut, und natürlich auch immer auf die tiefen Pedaltöne. Das hat mich sehr angezogen. Das Orgelspiel an sich ist aber in erster Linie oft ein sehr einsames Unterfangen – beim Üben wie beim Spielen.
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„weißbärtig. mond.“ klingt auch nach Einsamkeit. Das zweite Stück auf deinem Album mit diesem poetischen Titel wurde von Klaus Lang komponiert. Dieser spricht bei seinen charakteristisch eher statischen Klangflächen von „hörbar gemachter Zeit“. Du kennst Klaus Lang schon sehr lange, oder?
Wolfgang Kogert: Ich kenne Klaus Lang schon viele Jahre, damals war er noch gar nicht so bekannt wie heute, eher ein Geheimtipp. Er wird ja mittlerweile auf der ganzen Welt, von Amerika bis Japan oder auch im Iran gespielt. Das freut mich unglaublich. Ich habe seine Musik von Anfang an sehr gerne gespielt, weil es eine Freude ist, die Orgel auf diese Art und Weise zum Klingen zu bringen. Klänge bekommen Zeit, sich auszudehnen. Unglaublich schöne und tragende Klangfarben und Harmonien werden in Ruhe abgehandelt. Er gibt mir bei unseren Proben immer eine wunderbare Anleitung aus Freiheit und konkreten Anregungen.
Ein Höhepunkt in unserer Zusammenarbeit war sicher auch die Aufführung von „tönendes licht“ im Rahmen von Wien Modern im Wiener Stephansdom [2020, Anm]. Klaus Lang schreibt ja permanent und sehr viel, und manchmal auch ohne Auftrag, weil ihn bestimmte Dinge reizen. Das war auch bei „weißbärtig. mond.“ so. Dieses Stück, ursprünglich für zwei Harmonien geschrieben, wurde von ihm für die Orgel transkribiert, erweitert und von mir in der Wiener Jesuitenkirche uraufgeführt. Das Stück ist sehr streng auf einen Doppelkanon aufgebaut. Ich freue mich schon auf die zukünftigen Vorhaben mit Klaus, unter anderem sind zwei CDs geplant.
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„BIS DIE STILLE BEI HÖREN QUASI IMMER LAUTER WIRD …“
Jean-Pierre Leguay, ein Schüler von Olivier Messiaen, ist ein weiterer Komponist, der auf deinem „HORIZON“-Album vertreten ist. Von ihm stammt das Bonmot „Crescendo du silence“, die Vorstellung eines Crescendo der Stille. Was hat es damit auf sich?
Wolfgang Kogert: Ich liebe seine Stücke, sie liegen einfach wunderbar in den Händen. Er ist selbst ein hervorragender Organist, war jahrzehntelang in Paris in der Kathedrale Notre-Dame tätig. Er ist blind, daher sind das Greifen und die taktilen Abläufe seiner Stücke wahnsinnig intensiv. Man fühlt sich sehr eng verbunden mit der Orgel. Das Vorbereiten von Positionen und Griffen, die Läufe, das alles ist angenehm logisch und organisch.
Ich habe mit ihm mehrfach in Paris geprobt, auch das Stück „Péan IV“. In der Probe haben ihn vor allem die Übergänge interessiert. Er hat mir gesagt, dass er sich beim Verklingen eines Tones oder Akkordes gerne auf die Stille konzentriert. Wie die Stille beim Hören quasi immer lauter wird und auf einmal den Nachhall quasi verschlingt. Man fragt sich: Wann wird die Stille unerträglich? In dem Stück „Péan IV“ gibt es viele größere und kleinere Pausen. Vor allem in einer Kirche mit sehr großer Akustik sind solche farbenprächtigen Stücke sehr interessant anzuhören.
Es gibt ein zeitgenössisches Stück einer Komponistin im Programm. Die gebürtige Südkoreanerin Younghi Pagh-Paan lebt mittlerweile schon lange in Deutschland. Der Titel „Seht die Lilien an, wie sie wachsen“ entstammt einer Bibel-Passage. Warum hast du dieses Stück von ihr ausgewählt?
Wolfgang Kogert: Younghi Pagh-Paan ist sehr renommiert in der Szene der Neuen Musik. Trotzdem ist sie sehr bescheiden geblieben. Im hohen Alter wurde ihr die Liebe zur Natur substanziell. In der Mitte des Stückes „hört“ man auch einen befreundeten Mönch und dessen kontinuierliche Arbeitsroutine in Form eines pulsierenden Rhythmus. Sie beweist damit auch Humor. Am Ende verflüchtig sich die Musik in eine nächtliche Stille. Die vielen Triller symbolisieren Bienen, die um die Blüten herumfliegen. Die Pausen im Stück kann man sich wie die Wechsel der Blickrichtung, wenn man sich Pflanzen von einer anderen Seite ansieht, vorstellen. Diese Gedanken helfen auch beim Spielen, um die nötige Ruhe zu finden.
„… UND DIESES STÜCK HAT EINEN UNGLAUBLICHEN EKLAT AUSGELÖST.“
Kommen wir von der Ruhe zur Unruhe … Zwischen dem österreichischen Komponisten Christoph Herndler und dir gibt es ja ganz spezielle Verbindungen. Ein Stück von ihm war ja sozusagen ein Erweckungserlebnis für dich …
Wolfgang Kogert: Schon in meiner Jugend lernte ich durch meine erste Orgel-Lehrerin moderne, dissonante Klänge kennen. Aus heutiger Sicht zwar nicht sehr „modern“, aber es waren nicht nur Stücke von Bach, Buxtehude und Reger, sondern auch Stücke aus dem 20. Jahrhundert, die sie in den Unterricht inkludiert hatte. Später als Studierender war ich einmal auf einem Sommerkurs. Dort gab es auch Präsentationen von Neuer Musik, darunter auch ein Klavierstück von Christoph Herndler. Dieses Stück hat einen unglaublichen Eklat ausgelöst. Ich fand es aber zutiefst beeindruckend im positiven Sinn: zum einen das Stück, und zum anderen auch die Wirkung, die es ausgelöst hatte.
Gibt es also an der Orgel auch Wege, mit den Klängen so zu spielen, sodass es die Leute aufrütteln kann? Eine Beethoven-Sonate zum Beispiel – ein unbestreitbares Meisterwerk – ist natürlich wahnsinnig toll zu erleben, die Wirkung ist meist ein glücklicher und zufriedener Applaus. Dieses emotionale Aufgerüttelt-und-zutiefst-erschüttert-Sein nach dem Herndler-Stück hat mich aber mehr fasziniert. Ich habe danach Kontakt mit ihm aufgenommen und seither arbeiten wir konsequent zusammen. Immer, wenn wir uns am Telefon verabschieden, sagen wir: „In diesem Sinne: Wir machen weiter.“ Mit neuen Stücken, neuen Partituren und neuen Kooperationen.
„a rose is a rose is …“ habe ich zum Beispiel ursprünglich für meine Hochzeit beauftragt. Die Version auf dem Album „HORIZON“ ist eine neue Einrichtung davon. Partituren von Christoph Herndler können immer unterschiedlich gelesen werden, sie können weiter wachsen. Die Variante, die ich aufgenommen habe, ist von Seiten der Orgelspieltechnik her seine bislang komplexeste Notation. Sie ist sehr anspruchsvoll zu spielen, weil man die Register mit den Händen ziehen und mit den Füßen vier Pedalstimmen spielen muss. Alle Töne, die auf den Manualen gedrückt sein müssen, sind mit Gewichten fixiert.
Diese Spielweise hat nichts damit zu tun, wie man sonst Orgel spielt. Man muss den Zugriff auf das Instrument ganz neu üben und aus der sehr vielschichtigen Partitur herauslesen. Mir ist kurz vor der Aufnahme die Idee gekommen, dass ich das Pedal ja nicht nur tief registrieren kann, um das Geschehen zu grundieren, sondern auch ganz hoch – wie eine Wolke. Die Klang-, Akkord- und Registerfindung war bei der Aufnahmesitzung irgendwie magisch und ein spezieller Glücksfall. Nächstes Jahr werde ich auch eine CD veröffentlichen; nur mit Orgelmusik von ihm.
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„DIESE LANGEN ZEITRÄUME SIND SCHON GEDULDSÜBUNGEN.“
Eine weitere Toccata auf dem Album stammt von Bernd Richard Deutsch. Die „Toccata octophonica“ ist auf eine vom Komponisten entwickelten Achtton-Reihe aufgebaut …
Wolfgang Kogert: Diese selbstgewählte Achtton-Reihe führt zu aus ihr abgeleiteten Intervall- und Akkordstrukturen. Und auch formal werden gewisse Modulationen dadurch gesteuert. Diese Art Modus gibt dem Stück ein Gerüst und führt zu einer großen Tiefe, erzeugt eine leuchtende und vibrierende Harmonik. Bernd Richard Deutsch arbeitet seine Stücke immer wahnsinnig detailliert aus: vielstimmige Akkorde, komplexe Modulationen, rhythmisch drängende Entwicklungen.
Die „Toccata octophonica“ ist bis heute sein einziges Orgelstück. Ein ganz frühes Opus aus seiner Studienzeit. Man merkt schon die orchestrale Geste, die seinen Weg bestätigt: Er wird heute weltweit von den renommiertesten Orchestern gespielt, von Amerika bis Korea. Großdimensionierte und -besetzte Orchesterstücke sind seine Stärke. Das Konzert für Orgel und Orchester von ihm habe ich damals im Wiener Musikverein mit dem ORF RSO uraufgeführt: „Okeanos“ ist eines seiner Meisterwerke.
Bernd Richard Deutsch ist genau wie Klaus Lang, Christoph Herndler, Wolfgang Suppan und Zsigmond Szathmáry ein langjähriger Freund und ich habe ihm schon 2008 versprochen, seine „Toccata octophonica“ zu spielen. Dann hat es aber ewig gedauert, es ist immer etwas dazwischengekommen. Das Stück ist wahnsinnig schwer und komplex, man muss Zeit finden, um es zu erarbeiten. Erst 2019 habe ich es zum ersten Mal spielen können. Diese langen Zeiträume sind schon Geduldsübungen.
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Aufgenommen wurden die einzelnen Stücke zwischen Oktober 2018 und Oktober 2021, in der Jesuitenkirche Heidelberg, der Stiftskirche St. Arnual Saarbrücken, der Kulturkirche St. Johannis Hamburg-Altona und der Salvatorkirche Duisburg. In der Jesuitenkirche Heidelberg hast du „Agencement-Rhizome“ des französischen Komponisten Thomas Lacôte eingespielt. Dieses schwierige Stück basiert auf speziellen dynamischen Effekten. Kannst du das kurz erklären?
Wolfgang Kogert: Die dreifache Übereinanderschichtung derselben Klangfarbe – daher der Name Rhizom für die wurzelartige Verflechtung – auf zwei Manualen und den Pedalen in derselben Lage und Klangfarbe ermöglicht sehr interessante Effekte, was die Dynamik betrifft. Man kann an der Orgel plötzlich aus demselben Klang einige Töne akzentuiert herausblitzen lassen. Diese Tiefenschichtung, dieses Verwoben-Sein der drei Ebenen erzeugt ein spezielles „Klang-Gewächs“. Das Werk ist spieltechnisch sehr schwierig, auch wenn es nicht so klingt. Wie in der Alten Musik geht es viel um Anschlagsqualitäten, um Artikulationen wie kurz, lang, akzentuiert, tenuto, legato, leggiero. Es ist sehr anspruchsvoll, die Lebendigkeit des an sich statischen Orgelklangs herauszuholen.
Bei Wolfgang Suppan habe ich das Stichwort Proportionen notiert. Was fällt dir zu diesem Schlagwort ein?
Wolfgang Kogert: Auch ich bin ein begeisterter Beobachter von Formen und Proportionen. Wie dehnt sich ein Stück aus, wie verläuft seine Intensität – wie sind die Verhältnisse von Zeitdauer und Dynamik? Wolfgang Suppan hat jahrelang verschiedenste Orgelstücke studiert, viele Untersuchungen zu Harmonik und Registrierung durchgeführt. Nach diesem Forschen war das Stück „Influx“ dann nach wenigen Tagen komponiert. Ein prägnanter und elegant proportionierter „Wurf“, mit eindrücklich hinunter- und hinaufsteigenden Akkorden und einem lauten Klangbad in der Mitte. Am Ende verflüchtigt sich – charmant in die Höhe tastend – das Stück. Es entspricht wie alle Werke auf der CD auch dem Wesen des Komponisten. Wolfgang ist ein sehr reflektierter Mensch, mit substanziellen musikalischen Äußerungen.
„ALLE STÜCKE SIND MIR GLEICH NAH.“
Der letzte in der Runde deiner Orgelstück-Auswahl ist – du hast ihn als Kultfigur beschrieben – der ungarische Komponist Zsigmond Szathmáry. Könnte man bei den einzelnen Orgel-Stücken auch von musikalischen Psychogrammen sprechen?
Wolfgang Kogert: Wenn du neue Orgelmusik spielst, wenn du dich für dieses Fachgebiet interessierst, dann kommst du nicht an seinem Namen vorbei. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ist er eine prägende Figur, war auch mit György Liegt eng befreundet. Er hat all seine Stücke in unerreichter Weise eingespielt. Ich habe mit Zsigmond immer wieder zusammengearbeitet, viele Stück von ihm gespielt, auch bei einer Einspielung seines Gesamtwerkes mitgewirkt. Ich verdanke ihm sehr viel. Er ist auch im hohen Alter ein energiegeladener, neugieriger Organist. Das Stück „Toccata breve“ hat er extra für mich und die CD „HORIZON“ geschrieben. In dieser Komposition finden sich Aspekte wie Dramatik, Kontraste, ungewöhnliche Klangfarben, Virtuosität – alles Eigenschaften, die auch die Person Zsigmond Szathmáry auszeichnen. Auch die „feurige“ Note, mit diesen ungarischen Akzenten auf der ersten Silbe, also dem ersten Ton einer musikalischen Figur …
War es dir sozusagen wichtig, Referenzaufnahmen unterschiedlicher Komponist:innen auf einer CD versammelt zu haben?
Wolfgang Kogert: Ja, es war mir wichtig, autorisierte Referenzaufnahmen zu schaffen. Alle Stücke wurden circa ab 2000 geschrieben, sie wurden an hervorragenden Instrumenten der Schweizer Orgelbaufirma Kuhn eingespielt, aber die Generationen, die Herkunftsländer und die Stile der Komponist:innen sind bunt gemischt. Alle Stücke sind mir gleich nah. Es gibt kein Hauptstück auf dem Album. Und auch der Vernetzungsgedanke unter den beteiligten Personen – der Orgel- und der Neuen Musik Szene – war mir wichtig. Vielleicht wächst ja mit der Zeit eine kleine Orgelmusik-Anthologie heran, und alle paar Jahre erscheint eine neue „HORIZON“-Platte. Wir werden sehen, ob eine Serie daraus entsteht. Und ich hoffe natürlich auch, dass die Stücke von Kolleginnen und Kollegen entdeckt und nachgespielt werden.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Michael Franz Woels
Termine:
Montag, 13. März 2023, 21:30 Uhr
Musikverein Wien, Goldener Saal
Orgelkonzert „Nachklang“ zum Konzert des Orchestre de Paris. „iv 15 Himmelfahrt“ von Mark Andre für Orgel solo.
Link:
Wolfgang Kogert
Wolfgang Kogert (music austria Datenbank)