Abschlussbericht WIEN MODERN 2015: Bright days, partly cloudy

„The final days are bright days“, hieß es auf den Abend-Programmzetteln der finalen WIEN-MODERN-Woche ab Mittwoch, den 25. November 2015. Dem scheidenden Intendanten Matthias Lošek kann darin weitgehend zugestimmt werden, versuchte man doch, durch unvorhersehbare, neue Wege der Programmierung dem Festivalmotto „Pop.Song.Voice“ insofern gerecht zu werden, als dass man es wagte, sich dem Thema „Pop und Neue Musik“ auf überraschende Art anzunähern. Schon das Konzert des ENSEMBLES  KONTRAPUNKTE im MUSIKVEREIN am Sonntag, dem 22. November, brachte Auseinandersetzungen mit der Popmusik mit sich, besonders etwa GERHARD E. WINKLERS „Anamorph Va: 3 Rocktänze“ für Ensemble, die auf drei Größen der Rockgeschichte Bezug nahmen: FRANK ZAPPA, MILES DAVIS und BILL HALEY.

Den Auftakt des Konzerts gestaltete die Geigerin Annelie Gahl mit dem Stück „nach Aussen“ für Violinsolo und Elektronik von Peter Jakober, eher weniger ansprechend gerieten „Risimusette“ – eine Studie über Lachsequenzen – von Maria Gstättner und Ying Wangs „Groovulation“ (mit Elektronik). Spannender gelang Christian Diendorfer das Cembalokonzert „Electric Psi“ mit der Solistin Maja Mijatović am elektrisch verstärkten E-Cembalo. Den vergnüglichen Abschluss bildete „Draculas Sommernachtstraum“ von dem Südtiroler Hubert Stuppner, der einen Vampir „Tänze“ wie Tango, Boogie-Woogie, Ragtime oder Walzer mit den illustren Gästen Josephine Baker, Marlene Dietrich, Marilyn Monroe, Ava Gardner oder Eva Perón vollführen und gekonnt auch Stan Laurel und Oliver Hardy und schließlich Charles Chaplin an diesem Geschehen teilhaben ließ.

Inszenierung und Visuals

Die finalen Tage waren meist mit zwei Konzerten an verschiedenen Orten pro Abend bzw. Nacht bestückt, was an jene, die alles hören wollten, nicht unbeträchtliche Anforderungen stellte. Partly cloudy, also wolkenverhangen, wirkte da das mit Spannung erwartete Uraufführungsstück „The Lichtenberg Figures“ von Eva Reiter im MuTh-Konzertsaal der Wiener Sängerknaben, das mit einem enormen Inszenierungsaufwand in Szene gesetzt wurde. Die Protagonisten der elf beteiligten Instrumente des Ensemble Ictus und die Stimmkünstlerin Juliet Fraser, die Sonette von Ben Lerner als sieben „Songs“ vortrug, waren auf illuminierten Podesten in dem imposanten Bühnenaufbau versammelt und wurden in einer ausgeklügelten Lichtdramaturgie szenografisch beleuchtet und in verschiedenen Farben koloriert. Dazu kam der von Eva Reiter vorab aufgenommene elektronische Kontext. Vieles, sehr vieles vom intendierten roten Faden der Bedeutungen blieb für die ZuhörerInnen dennoch im Dunkeln und vermittelte einen zwiespältigen Eindruck des Ganzen. Trotz aller Bemühung, sich dem allem mit „offenem Bezugssystem“ hinzugeben, was sich Eva Reiter wünschte, blieb es schwer, das Koordinatensystem dieses tönenden „Maschinenparks“ und dessen Konstruktionen und Metaphern zu durchschauen. Die Musik blieb rätselhaft – oder wie eine Rezension der Zeitung „Der Standard“ von Stefan Ender unter dem Titel „Klangraumschiff mit Stroboskop“ etwas ratlos befand: „Rocky Horror Sound Show. Monsteratemgeräusche. Ein Hauch von Hard Rock. Psychedelisch oft, halluzinierend. Ein ins Trudeln geratenes Klangraumschiff. Space Odyssee. This is ground control to Major Eva.”

Dass das Black Page Orchestra, das seinen Namen einem Song Frank Zappas verdankt, anschließend in der anregenden Atmosphäre des Porgy & Bess einen Perspektivenwechsel mit zeitgenössischen Kompositionen der überwiegend  jüngeren Generation unternahm, machte neugierig, und für diese Neugier wurde man auch belohnt. In Chirurgenkostümen starteten die drei Performerinnen eine detaillierte Untersuchung eines Organismus, dessen Organe in Elena Rykovas „101 % mind uploading“  durch die verwendeten Gerätschaften und Instrumente zum Klingen gebracht wurden. Stefan Prins verwendete in „Piano Hero # 1“ Midi-Keyboard und Live-Elektronik samt Videozuspielung (Visualisierungen spielten in den Konzerten der letzten Festivalwoche immer wieder eine große Rolle), wobei die Bewegungen des Pianisten auf der Tastatur auf einen Computer übertragen wurden. Der hölzerne Resonanzkörper des Klaviers wurde durch Lautsprecher ersetzt, es wurde zum digitalen Instrument eines Live-Processing. Ähnlich anregend verwendete auch Mirela Ivičević in ihrer Ensemblekomposition „The F SonG (dominosa VII)“ Elektronik, erlaubte aber auch die Expressivität der Interpreten (unter anderen Florian Fennes auf Klarinetten und Saxofonen). Die Hitzewelle („Heat Wave“) von Oliver Weber, ein WIEN-MODERN-Kompositionsauftrag, die Bassklarinette, E-Gitarre, Klavier, Violine und Elektroniker Matthias Kranebitter evozieren mussten, sprach weniger an, wiewohl Kranebitter später mit seiner Komposition „Dead Girl (Requiem E)“ für Flöte, Gitarre und Elektronik überzeugen konnte. Alexander Schubert beendete den Abend mit einem durchaus lustig anzusehenden Video namens „Hello“ mit einer „beliebigen Anzahl von Instrumenten“, Live-Elektronik und Video. Ein anregender und vergnüglicher Abend war dieser späte Termin am 25. November.

Elektronik und Hits von Satie bis Xenakis

„A Phenomenology of Pop“ boten Pia Palme, Electric Indigo und Jorge Sánchez Chiong am Donnerstag, dem  26. November, im Berio-Saal des Konzerthauses, wobei Palme in der einleitenden Komposition „Under Elephantine Skin“ das Geschehen mit einer Art Improvisation beginnen ließ, die in eine minimalistische Klangskulptur mit den Instrumenten der alten Musik – Countertenor, Theorbe und Laute, Barockoboe, Blockflöten plus Elektronik – mündete, die den Boden kaum unter den Füßen verlor. Electric Indigo verschmolz ihre elektronische Computermusik „Barry Dufman“ mit rätselhaft-atmosphärischen filmischen Untermalungen der Videokünstler Louise Linsenbolz und Thomas Wagensommerer (TER). Jorge Sánchez-Chiong setzte an den Turntables zusammengetragenes Material von erstplatzierten Billboard-Charts der Jahre 1958 bis heute (!) neu zusammen und griff zusammen mit dem Schlagzeuger David Christopher Panzl auch live in das solcherart Komponierte ein.

„Hits“ der Neuen Musik boten im Fluc am Praterstern Pianist und Dirigent Jaime Wolfson und das Ensemble Platypus, das angefangen von Morton Feldman, Pierre Schaeffer, György Ligeti, Steve Reich, Galina Ustwolskaja und Iannis Xenakis quasi Kammermusikalisches für Klavier und weitere solistisch eingesetzte Instrumente wie Flöte, Violine, Violoncello, Bassklarinette und Posaune bot, aber auch Ensemblestücke etwa von Mathias Spahlinger, Annie Hui-Hsin Hsieh, Eun-ji Anna Lee, Oxana Omelchuk und Slobodan Kajkut.

„Bad Trip“ und Musik für Instrumente und Geräte

Das Remix Ensemble Casa da Música aus Porto brachte unter dem Dirigat von Peter Rundel am Freitag, dem 27. November im Konzerthaus im ersten Teil Stücke, die sich explizit auf die Spuren der Sounds zweier berühmter Popbands der Sechziger- und Siebzigerjahre bezogen: The Velvet Underground und Pink Floyd. Der schottische, in Manchester lebende Komponist David Horne orientierte sich in „Restless Feeling“ an einem Velvet-Underground-Rockalbum, das sich in seiner Musik eher „rhapsodisch“ und mit ruhenden „Schönklängen“ widerspiegelt und eigentlich weder den Eindruck von Pop-Allusionen, noch den von Neuer Musik hinterließ und eher zu vergessen war. Der Remix von Interstellar Overdrive aus dem Album „The Piper at the Gates of Dawn“ von Pink Floyd, das 1967 entstand, noch ehe der Gitarrist, Sänger und kreative Kopf der britischen Band Syd Barrett durch seine Drogensucht die Kontrolle verlor, wurde eigens von Vítor Rua für das Konzertprogramm komponiert, das das  Ensemble „Pink Velvet’s Bad Trip“ nannte. Denn auch „Professor Bad Trip: Lesson III“ von Fausto Romitelli handelte als Lektion vom Drogenrausch mit Meskalin, die der Poet Henri Micheau beschrieb, und von der Übertragung der Phänomene Ebbe und Flut in Klang- und Musikbewegungen. Romitellis wirklich tolles Stück war das Beste des an diesem frühen Abend gebotenen Programms des Ensembles, das zu dem durchaus hörenswerten letzten Stück „go next“ wieder in die Gegenwart führte. Wolfgang Mitterer ließ darin alle Electronics live von den Musikern spielen, die Lautsprecherverstärkungen von Klavier, Schlagwerk und Streichern stützten mikrodynamische Klänge, der Dirigent diente „als phasenauslösende ground-beat-maschine“ (Mitterer).

Im Semperdepot reüssierten danach die phänomenalen Musiker des berlinerisch-isländischen Ensembles Adapter, vor allem der Schlagwerker Matthias Engler bestach mit der atemberaubenden Virtuosität seines Spiels, das er etwa am Marimbaphon und gleichzeitig mit Fußpedal an einer hinter ihm stehenden Basstrommel in komplexesten Rhythmen hervorzubringen imstande war. Von dem mitwirkenden Elektroniker Ketan Bhatti, der in der deutschen Jazz- und Hip-Hop-Szene sozialisiert wurde und in dessen Produktionen und Kompositionen subkulturelle Strömungen und das Wechselspiel akustischer und elektronischer Klanggestaltung eine große Rolle spielen, stammte die eine Hälfte des Programms für Flöte, Bassklarinette, Violoncello, Harfe (!), Schlagzeug, Loopstation und Effektpedale. Bhatti gebrauchte Electronics mit Loopstations und anderen Effekten, wie sie im Jazz zu finden sind (während Elektronik in der Neuen Musik meist über Computer digital bearbeitet wurde und wird), und meinte, dass es dadurch in seinen Stücken „zu einer sehr ‚analogen’ und etwas dreckigeren Klangästhetik“ komme, die er „sehr erfrischend“ finde. Paul Fricks „Destroy Erase Improve“ für Harfe und Schlagzeug ergab auch unter Verwendung von einem Diaprojektor gute Visuals und schöne Beleuchtungseffekte. Alles in allem ein viel Konzentration erfordernder, spannender und langer Abend.

Eine Rave-Night als Abschlussparty

Yaron Deutsch an der E-Gitarre, Schlagzeuger Brian Archinal und Elektroniker Stefan Prins läuteten am Samstagabend, dem 28. November, im Foyer des WUK die finale Party bei WIEN MODERN ein. Auch hier war man im Heute angelangt, denn die Musik der drei Interpreten war bester Jazzrock, der sich auf mitwippende Füße und Beine übertrug, wenn man mit einem lässigen Glas Bier in der Hand stehend zuhören oder einander auch Hallo sagen und sich miteinander unterhalten konnte, ohne dass das störte – denn die Lautstärke aus den Boxen war genau richtig, und wenn Deutsch die Gitarre in schnellen Riffs aufjaulen ließ, kam das sehr gut an. Dazu gab es witzige Videosequenzen mit einem Interview eines Herrn Arnold Schwarzenegger, der die Verwendung von Tanks beim „Crushen“ und Rammen von im Weg liegenden Gegenständen demonstrierte und empfahl.

Im dichten Nebel des zunächst nur ganz schwach indirekt illuminierten benachbarten Großen Saals, in dem die hellen oder weißen Hemden und Westen des eingelassenen Publikums herrlich ultraviolett leuchteten, während alles andere im Dunkeln blieb, konnte man das neben Gitarristen und Schlagzeuger durch Saxofon und Keyboard komplettierte Ensemble Nikel kaum sehen, bevor es – assistiert von der Sängerin Mona Steinwidder (Mohna) und den Klang- und Lichttechnikern vom Ministry of Bad Decisions – mit der Musik von „Supramodal Parser“ von Alexander Schubert loslegte: Mit Stroboskop-Effekten und einer ganzen Reihe anderer visueller und klanglicher Mittel ging da ordentlich die Post ab, die wirklich den ganzen Körper und alle Sinne erfasste und durchrüttelte – Tempo, Reizdichte, Fokus, Lautstärken, Klangeigenschaften, Licht, Nebelstärke, Farben waren in ständiger Variierung begriffen, alles in toller, manchmal vielleicht auch schier beängstigender Clubatmosphäre.

Während im Anschluss dann wieder im Foyer ein DJ dezent auflegte und auf der Leinwand Archivfotos von den Events dieser Ausgabe von WIEN MODERN und auch aus den vergangenen Jahren gezeigt wurden, hielt zwischendurch Matthias Lošek seine Abschiedsrede und bat sämtliche MitarbeiterInnen seiner überwiegend jungen Crew nach vorne, um ihnen allen und auch dem Publikum von WIEN MODERN zu danken. Wie bei „Wetten dass…“  war der Schlussgag, bevor die Party bis nach Mitternacht weiterging, die Befüllung einer kunstvoll aufgebauten Pyramide aus siebzig Glaskelchen, in deren obersten Lošek so lange Sekt eingoss, bis das überlaufende Glas alle darunterliegenden mit Flüssigkeit vollschenkte. Die gefüllten Sektgläser wurden an alle im Raum Befindlichen verteilt, man stieß miteinander an und trank: Das war WIEN MODERN 2015!

Heinz Rögl

Foto Ministry of Bad Decisions (c) Ministry of Bad Decisions
Foto Ensemble Ictus (c) Ensemble Ictus
Foto Remix Ensemble (c) Fundação Casa da Música
Foto Ensemble Nikel (c) Vardi Benesh Raviv

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