„Abhängig von der entsprechenden ästhetischen Einstellung kann man alles Klingende als Musik rezipieren“ – MARCO DÖTTLINGER und ALEXANDER BAUER (START 2020) im mica-Interview

Unter dem Titel „CORPUS – STADT. Klanginterventionen im öffentlichen Raum für akustische Instrumente, Fieldrecordings und Raumresonanzen findet das diesjährige stART-Projekt vom 18. bis zum 20. September in Salzburg statt. Bespielt wird dabei die Stadt als akustischer Stadtraum im Spannungsfeld zwischen Zentrum (der von den FESTSPIELEN, dem Tourismus und den Sakralbauten geprägten Altstadt) und Peripherie (den eher urban geprägten Randbezirken). Dabei soll es laut ARGEKULTUR auch um den Diskurs zwischen „[z]wei Realitäten, diametral entgegen gesetzt, die eine ausgeschlossen von der anderen“ gehen. „CORPUS – STADT“ stellt sich aber auch die Frage, wie Peripherie und Zentrum klanglich miteinander in Verbindung gesetzt werden können. Hierzu werden in Form von musikalischen Interventionen Field Recordings von ortsspezifischen Klängen auf die Musikerinnen und Musiker des ŒNM treffen, um „die Altstadt in Resonanz“ zu versetzen. Didi Neidhart hat sich mit den Initiatoren MARCO DÖTTLINGER und ALEXANDER BAUER zum Gespräch getroffen.

Wie seid ihr auf die Idee gekommen, die Stadt- bzw. den Stadtraum als Resonanzkörper zu thematisieren?

Marco Döttlinger: Die Idee, den Stadtraum als Resonanzkörper zu behaupten, geht eigentlich auf eine Reihe von Stücken mit Instrumenten und Live-Elektronik zurück, die ich das letzte Jahr gemacht habe. Diese Reihe mit dem Titel „corpus“ versucht, die Situation einer Konzert- bzw. Aufführungsraumakustik nicht nur anzunehmen, sondern maßgeblich gestaltend mit einzubeziehen.
Das geht so weit, dass jede Aufführung eines dieser Stücke an jedem Ort harmonisch anders klingt und die Beschaffenheit, Eigenart und Persönlichkeit, wenn man so will, des architektonischen Ortes wahrnehmbar macht. Als wir dann am Konzept für dieses Projekt gearbeitet haben, schien es naheliegend zu sein, diese Arbeit mit Resonanzfrequenzen auf die Stadt als öffentlichen Raum anzuwenden bzw. auszuweiten. Und das Ganze sollte dann nicht von akustischen Instrumenten zum Resonieren gebracht werden, sondern von konkreten alltäglichen Klängen und Klangsituationen, die wir an den unterschiedlichsten Plätzen an verschiedenen Tages- und Nachtzeiten in dieser Stadt aufgenommen haben. Diese Aufnahme-Sessions, quasi inkognito mit binauralen In-Ear-Mikrofonen, über viele Wochen und an Orten, an denen wir vorher auch noch nie waren, wurden als akustische Recherche angelegt.
Und daraus haben wir dann unser gesamtes Material, auch die instrumentalen Übertragungen für die Musikerinnen und Musiker des oenm abgeleitet.

„Je mehr man aber ins Detail geht bzw. hört, findet man Klänge, die vielleicht nicht sofort zu verorten sind, aber deswegen umso interessanter sind.“

Wie klingt ein Stadtraum?

Alexander Bauer: Ganz unterschiedlich und vielschichtig. Einerseits finden sich die für den Stadtraum typischen Klänge wie Verkehr, Menschengruppen, Radfahrerinnen und Radfahrer, Kirchenglocken … Je mehr man aber ins Detail geht bzw. hört, findet man Klänge, die vielleicht nicht sofort zu verorten sind, aber deswegen umso interessanter sind. Straßenmusikerinnen und -musiker, Lüftungen, Gesprächsfetzen … Die meisten interessanten Dinge passieren zufällig bzw. man entdeckt sie erst im Nachhinein beim Auswerten des Materials.

Wie sehr hat Corona euer Konzept beeinflusst? Wenn man während des Lockdowns mit dem Fahrrad durch Salzburg gefahren ist, gab es – vor allem in der Innenstadt rund um den Dom – fast nur Stille, aber auch riesige Flächen ohne Menschen und brachliegende Räume.

Alexander Bauer: Es gibt in diesem Projekt keinen direkten Corona-Bezug, zumindest war das nicht unser Ziel. Ein Problem war natürlich, dass die Stadt während des Lockdowns ganz anders, viel stiller klang als sonst. Unsere Aufnahmen sind im Mai und Juni entstanden, also in der Zeit, als sich das soziale Leben in der Stadt wieder entwickelt hat, die Bars geöffnet wurden etc.
Die Corona-Thematik wird insofern Teil des Ganzen sein, als dass in den Gesprächsfetzen, die Teil vieler Aufnahmen sind, die Krise oft Gegenstand war.
Eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Thematik steht allerdings nicht im Vordergrund – bei einigen Stationen beziehen wir uns sehr stark auf Gesprächsfetzen, die durch einen Zufallsgenerator ausgewählt wurden, um eine gewertete Auswahl zu vermeiden. Was da gesagt wird, hat natürlich für sich und eventuell auch im Kontext Bedeutung, vielleicht sogar Sinn – es ist aber keiner, den wir ausgewählt bzw. inszeniert haben.

Bild Marco Döttlinger
Marco Doettlinger (c) Andreas Hechenberger

Ein theoretischer Ausgangspunkt ist das Stück „I Am Sitting in a Room“ von Alvin Lucier. Worum geht es da genau und wie wollt ihr das in Salzburg umsetzen?

Marco Döttlinger: Luciers „I Am Sitting in a Room“ von 1969/1970 war der Ausgangspunkt meiner „corpus“-Reihe. Dieses Stück, so überzeugend in seiner Einfachheit – Lucier spricht einen Text, nimmt diesen auf, spielt die Aufnahme wieder ab und nimmt diese wieder auf, spielt sie wieder ab und so weiter und so fort –, zeigt nicht nur, dass Räume gewisse Charakteristika haben, z. B. indem sie bestimmte Frequenzen unterstützen und andere unterdrücken.
Bei seiner Performance wird nach und nach die Sprachverständlichkeit überführt in reine Töne, eben jene sehr sinusoidal klingenden Raumeigenfrequenzen. Was mich dabei immer interessiert hat, waren Fragen der Wahrnehmung, des hörenden Decodierens dieser Loops, die Differenz des Vorherigen zum jetzt Klingenden. Also zwei Seiten desselben Objektes vielleicht, zeitlich vermittelt oder überhaupt erst als Zeitliches beschreibbar.
Genau dieses Prinzip verwenden auch meine „corpus“-Stücke und wir übertragen es nun in die Stadt, wobei wichtig ist, dass, während der Aufnahme- bzw. Wiedergabe-Prozess läuft, immer wieder neuer Klanginput hinzukommt – Field Recordings, aber auch Instrumentalpassagen. Auf diese Weise wird der „Resonanzkörper“ ständig angeregt und es entstehen dichte Sound-Layer, in denen die zuvor sukzessiv präsentierten konkreten und instrumentalen Klänge als resonierender Hörraum verdichtet werden.

„Wenn der Ort als Resonanzkörper verwendet und begriffen wird, kann er als eigenständiger ‚Interpret‘ und Partner der Musikerinnen und Musiker fungieren […].“

In einer Vorab-Mail schreibt ihr davon, dass es bei der jeweiligen „Resonanzcharakteristik“ weniger um „viel Hall, wenig Hall“ geht, sondern um „die Faktur des Stücks“. Was ist unter dieser „Faktur“ zu verstehen?

Marco Döttlinger: Es geht hier darum, ob man den Aufführungsort – möglichst weit gefasst – nur passiv hinnimmt, also als unterstützend oder störend für eine Aufführung, oder ob man ihn in die Komposition, also auch den jeweiligen Satz, die Faktur mit einbezieht. Wie wirkt er sich auf die Musikerinnen und Musiker aus?
Die Frage, die sich gestellt hat, war also jene nach den Kommunikationsmöglichkeiten zwischen dem Klingenden, also den Musikerinnen und Musikern, und dem architektonischen Raum, in dem sich dieser Klang spezifisch ausbreitet bzw. von dem er maßgeblich abhängt. Wenn der Ort als Resonanzkörper verwendet und begriffen wird, kann er als eigenständiger „Interpret“ und Partner der Musikerinnen und Musiker fungieren, z. B. indem der Notentext den Spielerinnen und Spielern vorgibt, abhängig von Resonanzfrequenzen relativ notierte Gestalten zu interpretieren. Die Spielerinnen und Spieler haben, vereinfacht gesagt, ein kleines Set an möglichen Gesten zur Verfügung, die sie abhängig von den Referenzfrequenzen, die der Ort anbietet, ausführen.

Ein Grundkonzept bei all dem besteht darin, dass die Spielerinnen und Spieler den Resonanzen zuhören und dann ausgehend davon etwas machen. Wie frei sind die dabei bzw. wie streng muss hier genau hingehört werden?

Marco Döttlinger: Sie sind eigentlich nicht viel freier, wenn man den Grad der Freiheit mit anderer Partitur-Musik vergleicht. Was bei dieser Art, eine Stimme zu notieren, ein wenig ungewohnt oder vielleicht unbequemer ist, ist das Zusammensetzen im Moment des Spiels. Die Musikerinnen und Musiker hören den Resonanzen erst zu, dann nehmen sie einen Ton ab und bilden ausgehend von dieser Tonhöhe die relativ notierten Module etc.
Zeitlich sind sie dabei viel flexibler als bei konventionelleren Praktiken, es ist aber entscheidend, dass sie den Ort als Spielpartner ernst nehmen, d. h. die richtigen Resonanz-Tonhöhen finden. Das ist nicht immer einfach, die ganze Geschichte bekommt aber dadurch eine gewisse Spannung, nicht zuletzt auch durch das sehr genaue Zuhörenmüssen.

Zusätzlich wird auch mit Field Recordings gearbeitet. Wie kommen die ins Spiel bzw. welche Funktionen haben diese?

Bild Alexander bauer
Alexander Bauer (c) Fabian Schober

Alexander Bauer: Die Field Recordings sind sozusagen die Hauptakteure des Projektes. Aus ihnen wurde quasi das gesamte musikalische Material, welches die akustischen Instrumente spielen, abgeleitet. In einigen Stationen werden unterschiedliche klangliche Facetten der Stadt in Szene gesetzt, wobei jeweils unterschiedliche Field Recordings die klanglichen Ausgangspunkte sind. Das ihnen inhärente Material wird von den Musikerinnen und Musikern fortgesponnen und verändert. Da die Field Recordings an sich klanglich äußerst reichhaltig und interessant sind, ist das, was von uns kompositorisch hinzukommt, eher ein Verdeutlichen, ein Verweis darauf, was ohnehin schon vorhanden ist.

Stichwort Zentrum versus Peripherie. Im Konzept heißt es: „Die Salzburger Altstadt gehört dem Tourismus, den Festspielen und den sakralen Repräsentationsbauten. Außen herum: die städtische Peripherie, die ein weit diverseres Salzburg zeigt als die Altstadt dies vermuten lässt.“ Geht es euch auch darum, die Peripherie in das Zentrum einbrechen zu lassen?

Marco Döttlinger: Vielleicht ist „einbrechen“ ein zu großes Wort dafür, aber es geht schon darum, wie es auch im Pressetext heißt, ein diverseres Salzburg anzudeuten. Das Ursprungskonzept mit den Begriffsfeldern Zentrum vs. Peripherie haben Theresa Seraphin und Sebastian Linz [ARGEkultur Salzburg; Anm.] entwickelt und wir haben diese Ideen dann gemeinsam adaptiert und auf eine klanglich-musikalische Darstellungsform gebracht. Natürlich gibt es diese soziologische oder sozial-räumliche Komponente, vor allem, weil wir die gesamte Arbeit von Klängen der Peripherie, des Zentrums und der Menschen komprimieren und diese dann verwenden, um einige Orte im Zentrum damit anzuregen.
Deswegen soll das Ganze auch „klangliche Intervention“ heißen, die Field Recordings – Gespräche, Streitereien, Nächtliches der Menschen, urbane Soundscapes etc. – bringen einige Kulissen des innerstädtischen Bereichs zum Resonieren, die Musikerinnen und Musiker greifen das Geschehen auf und spinnen es fort.

Das Konzept eines „Einbruchs“ peripherer Außengeräusche in ein geschlossenes Inneres finden wir schon bei Erik Satie, wenn er schreibt, dass die Straßengeräusche, die beim Öffnen einer Kaffeehaustür ins Café dringen, Teil der Komposition sind. Schwingt das bei euch auch mit?

Marco Döttlinger: Vielleicht nicht direkt. Aber Satie bringt durch sein Konzept einer Musique d’ameublement schon etwas auf den Weg, was ein anderes Hören anbahnt und vor allem einen Diskurs darüber hervorbringt, was überhaupt als gestaltbares musikalisches Material gilt.
Abhängig von der entsprechenden ästhetischen Einstellung kann man alles Klingende als Musik rezipieren – wenn man sich darauf einlässt – oder eben nur als Provokation verstehen. Wir sind gespannt, wie die Besucherinnen und Besucher mit dieser Frage umgehen.

Wenn ihr davon redet, dass das alles eher Flashmob als Konzert sein wird, wie erfahre ich eigentlich, wann und wo was passiert?

Alexander Bauer: Die genauen Standorte und Zeiten werden auf Social Media unter dem Hashtag #findcorpusstadt angekündigt. Vielleicht läuft man auch zufällig vorbei …

Wie finanziert sich so ein Projekt?

Marco Döttlinger: Soweit ich weiß, wird das Projekt vom Verein stART getragen und zusätzlich vom Land Salzburg und dem BKA Wien unterstützt.

Herzlichen Dank für das Gespräch! 

Didi Neidhart

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stART 2020
CORPUS STADT – Klanginterventionen im öffentlichen Raum für akustische Instrumente, Fieldrecordings und Raumresonanzen
Fre, 18.09.2020 – Son, 20.09.2020
Stadtraum Salzburg

Konzept und Komposition: Alexander Bauer, Marco Döttlinger Produktionsleitung: Katrin Petter
Musiker*innen Theodor Burkali (Klarinet- te), Zoran Curović (Trompete), Gergely Gerhardt (Trompete), Jaehyung Kim (Horn) , Stefan Konzett (Posaune), Dušan Kranjc (Posaune), Fritz Kronthaler (Bassklarinette), Karin Küstner (Akkordeon), Bettina Leitner (Orgel), Josef Steinböck (Tuba), Rupert Struber (Schlagwerk)
Projektleitung Anna Maria Pammer, Sebastian Linz

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