40 Jahre Wittener Tage für neue Kammermusik – ein Wochenende lang Uraufführungen.

Vom 25. bis 27.April fanden sie zum 40. Mal statt, die Wittener Tage für neue Kammermusik. Veranstaltet werden sie vom Westdeutschen Rundfunk. Ähnlich wie bei der zweiten großen “Fachmesse für zeitgenössische Musik” in Deutschland, den herbstlichen Donaueschinger Musiktagen, wurden die Wittener Kammermusiktage von einem enthusiastischen Komponisten und Lehrer begründet.

 Raummusik zum 40. Geburtstag

 

Robert Ruthenfranz wollte neueste Kompositionen in der Kleinstadt Witten zu Gehör bringen, denn das zwischen Bochum und Dortmund im Ruhrgebiet liegende Städtchen war (und ist) nicht gerade als kulturelle Weltstadt bekannt. Er rief die Kammermusiktage, die zunächst nur unregelmäßig stattfinden konnten, 1936 ins Leben. 1963 begann der WDR mitzuschneiden und die Konzerte zu senden, seit 1969 ist er offizieller Mitveranstalter. Seither sind die Konzerte der Wittener Tage für neue Kammermusik auch über diverse Rundfunkanstalten weltweit zu hören.

 

Die Wittener Tage für neue Kammermusik in Zahlen: In 288 Konzerten wurden 1220 Werke von 469 Komponistinnen und Komponisten aufgeführt, 583 von ihnen als Uraufführung. Der künstlerische Leiter des Festivals, der Redakteur für neue Musik im WDR, Harry Vogt, berichtet, wie das diesjährige Festival an die vergangenen 40 Jahre erinnert:
40 Jahre Witten, was heißt das für uns? Wir haben in diesem Jahr in verschiedenen Programmpunkten versucht, darauf zu reagieren, auf den 40. Geburtstag, z.B. mit einer Ausstellung im Märkischen Museum, die verschiedenste Dokumente aus den 40 Jahren Kammermusik in Witten vorstellt. Das ist ein Punkt. Der andere ist auch auf den Geburtstag gemünzt; einige Konzerte finden im Märkischen Museum statt. Das märkische Museum in Witten war nämlich früher der zentrale Tatort für die Konzerte in den Anfangsjahren 1969 bis Mitte der 70er Jahre.

 

Im Märkischen Museum fand nicht nur eine Installation mit wechselnden Live-Musikern von Franz Martin Olbrisch statt, sondern auch eines der Hauptkonzerte: Rebecca Saunders “Chroma IX”. Harry Vogt:
Der Komponistin Rebecca Saunders galt in diesem Jahr schwerpunktartig ein Portrait mit zwei größeren Werken und einem Portraitkonzert / Gespräch. Das Museumsstück Chroma, das im Märkischen Museum gezeigt wurde, bespielt gezielt die einzelnen Ausstellungsräume. Saunders fordert das Publikum auf, sich zu bewegen und die Hörperspektive ständig zu ändern, dabei nicht nur die Musik aus verschiedenen Blickwinkeln kennen zu lernen, sondern auch das Museum, den Raum ganz neu zu erkunden.

 

 
“Chroma” von Rebecca Saunders ist als Wandelkonzert konzipiert, das dem Aufführungsraum immer wieder neu angepasst wird. Die erste Version fand 2003 in der Londoner Tate Modern statt. Im Wittener Märkischen Museum und seinen halbgeschlossenen Ausstellungsräumen waren mehrere kleine Ensemblegruppen verteilt. Rebecca Saunders versteht es meisterhaft, Klangbalancen auszutarieren und mit Nähe und Ferne zu spielen. Ob ein impulsives Klavier-Schlagzeug-Trio, ein Trompetensolo, ein mikrotonal gegeneinander verschoben gestrichene Linien intonierendes Kontrabassduo, ob subtile Klangfarben-Verschmelzungen von E-Gitarre, Klarinette und Cello ganz am anderen Ende des Museums oder die vielen kleinen Spieluhren, Saunders Markenzeichen – nichts ging im Klang unter. Rebecca Saunders nennt ihr Stück Chroma auch eine Klangskulptur oder eine Klangcollage. Dabei verwendet sie Gestaltungsmittel, die auch in ihren anderen Werken die Grundlage ihres Komponierens bilden: mikrotonal verschobene, flirrende Klangflächen, die immer wieder durch Akzente und Tremoli eingeleitet werden, Ausbrüche, gefolgt von Repetitionsfiguren und energetischen Klanggesten. So raffiniert auch dieses Werk ausbalanciert ist, so gekonnt Saunders mit energetischen Gesten und dazu kontrastierenden flirrenden Liegetönen kompositorisch umzugehen vermag, ist es eine Musik, die mit einem mittlerweile in vielen Werke angewandeten Set von Techniken so spontan gefällt und gefallen will und die gerade weil diese Expressivität so offen daliegt und im Vordergrund steht, auf Dauer nicht recht befriedigt.

In ihrer zweiten Wittener Uraufführung, in “Company” für fünf ebenfalls im Raum verteilte Solisten, bilden von Impulsen eingeleitete Tremoli die Basis – auch das ein immer wieder kehrendes, theatralisches Wirkungsmuster ihrer Stücke wie der antiphonale Aufbau des Stückes. Diese Tremoli führt Saunders allerdings selten zu sich überlagernden Klangflächen zusammen. Sie ließ die Einzelklänge im Raum wandern und zog, metaphorisch gesprochen, Klanglinien durch den Raum. Die Aufgabe, den jeweiligen Anfangsklang zu markieren, hatte die Komponistin dabei meist dem Countertenor Kai Wessel übertragen.

 

Linien

Die Linie zieht sich durch alle möglichen Programme und Stücke durch. Es ist aber kein Oberthema. Es hat sich vielmehr rauskristallisiert als ich mehr und mehr Stücke vor mir liegen sah, meint Harry Vogt. Es war ein gemeinsamer Nenner, der spürbar war und sichtbar wurde. Das andere Thema waren “Mundstücke”. Das war ein Thema, das in den Performances verfolgt wurde.

 

Die hervorragende Blockflötistin Dorothee Oberlinger interpretierte Kompositionen von Luciano Berio, Dai Fujikura, Erin Gee und Jorge Sánchez-Chiong. Johannes Kretz komponierte eine “urban gypsies suite”, abgeleitet aus seiner Filmmusik und ließ den Oboisten neben kurzen Klangimpulsen, ganze Motivfetzen und lyrische Passagen spielen, die Kretz in einem elektronisch generierten vielfachen Hallraum veränderte. Eine weitere Solo-Mundstück-Performance gestaltete die Vokalartistin Isabeella Beumer, eine kraftvolle Stimmperformerin. Ihre sich auf der Höhe heutiger Vokalartistik bewegende Technik imponierte, doch die Virtuosität war auch hier, wie so oft, ein Fluch: Was als halbstündiges “Werk” angekündigt war, war de facto ein Katalog von akrobatischen Klangproduktionstechniken, die sie noch dazu wie rituelle Beschwörungsformeln präsentierte und durch archaisierende Gesten unterstützte.

 

Neben dem Klangforum Wien als Interpretenensemble, das ein regelmäßiger Gast bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik ist, waren zwei weitere Österreicher bzw. in Österreich lebende Komponisten mit größeren Arbeiten vertreten. Die von der amerikanischen Westküste stammende einstige Kompositionsstudentin von Beat Furrer, Erin Gee, beschäftigt sich seit einigen Jahren mit einer Werkserie, die sie “Mouthpieces” nennt. Die Besetzung variiert, die Klanglichkeit und das Prinzip der Klanggestaltung allerdings ähneln sich stark. Ausgangspunkt für diese Serie waren Solostücke, in denen sie Klänge und Klangfolgen aus einem Sanskrittext in eigene Laute übersetzte. In Witten uraufgeführt wurden “Mouthpieces X” für Stimme und Ensemble.

Es geht um die Übersetzung der Stimme in Instrumentalklänge und dann auch darum, wie die Instrumentalklänge die Stimme nachahmen. Das ist interessant für mich, weil das Ensemble den Mundraum quasi erweitern kann, meint die Komponistin. Die Aufgabe des Ensembles (hier des Klangforum Wien) beschränkte sich allerdings auch auf die Aufgabe, die Stimme Erin Gees, die auch als Solistin auftrat, imitierend zu erweitern. Zudem erweitert die Komponistin in ihrer Serie Mouthpieces ihre Gestaltungsmittel nur minimal, ihre Gesten und das Grundprinzip der Komposition war also schon bekannt. Bekannt auch das mehr oder weniger reine “Übersetzungsprogramm” der Sprache in Klänge. Gerade in einem “Mouthpiece” mit Ensemble hätte man sich eine zweite Ebene gewünscht, die dem Orchester nicht nur klangerweiternde bzw. imitierende Aufgaben zuteilt.

 

 

Nachtigallen im Bergwerk

Wie Erin Gee bezieht sich auch Georg Nussbaumer in seinen Arbeiten immer wieder auf eigene Werke. So auch in seiner Installation / Performance “Nachtigall, chtonisch – arboreal – levitiert”, in dem ein Cello und kleine Orgelpfeifchen die Hauptrollen spielten. Mal verwendete Nussbaumer das Cello wie einen Rammbock: (stoisch rammt das Cello seinen Stachel in den Berg), mal als Sonde. Ort des Geschehens: ein aufgelassenes Bergwerk, die Zeche “Nachtigall”. Im ehemaligen Schlot der Zeche ließ Nussbaumer heliumgefüllte Ballons steigen, die beim Abwärtssinken zwitscherten – das Helium strömte durch winzige Orgelpfeifchen aus den Ballonen heraus. Nussbaumer spielte dabei dem Namen der Zeche ebenso wie mit ihrer ursprünglichen Funktion. Er meint:
Mein Ausgangspunkt für meine Arbeit war die Tatsache, dieser Spagat, dass es ein Bergwerk ist, also Unterwelt, aber Nachtigall heißt, also nach diesem Vogel der Romantik, der allerdings auch der Todeskünder ist, in dieser Spannung habe ich auch dann die ganze Installation, das Cellostück auch gemacht, mit diesen beiden Polen gearbeitet.

 

Am Eingang eines Stollens spielte eine Cellistin. Innerhalb des dunklen und feuchten Gangs entdeckte man plötzlich ein Video: Eine Musikerin stach mit dem Stachel eines Cellos in den Boden; Ort des Geschehens diesmal: die Mojahwe-Wüste bei strahlend blauem Himmel (übrigens ein recyceltes Video). Ein paar Meter weiter fungierte ein Cello als Rammbock, eingespannt in eine Apparatur. Nussbaumer spielte mit den offen oder weniger offen liegenden, letztlich aber doch relativ eindeutigen und ungebrochen verwendeten, zum Teil schon klischeehaften Bedeutungsschichten: Bergabbau, weibliche Celloform, Mythen der Unterwelt.

 

40 Jahre Wittener Tage für neue Kammermusik: Das Arditti-Quartett ist wohl die langjährigste Konstante aus der Reihe der unverzichtbaren Interpretenensembles: seit 1980 spielt es in Witten. In diesem Jahr ein britisch-amerikanisches Programm mit Werken von Brian Ferneyhough, Harrison Birtwistle und Jay Schwarz.

 

Dass bei reinen Uraufführungsfestivals recht viel (wenn auch gekonntes) Mittelmaß zu hören ist, liegt in der Natur der Sache. Wirkliche Highlights bleiben die Ausnahme. Auch in diesem Jahr waren viele der Stücke technisch oder klanglich raffiniert konstruiert. Bei einigen erschöpften sich so manche wirkungsvolle Effekte allzu rasch und bei anderen suchte man im Liniengeflecht der Klänge nach der musikalischen Idee.