Frack und Fliege habe er zum letzten Mal vor 20 Jahren getragen, schmunzelt MARINO FORMENTI. Am Eröffnungsabend von Wien Modern begegnen wir uns zufällig beim Hintereingang des Theaters an der Wien, wo sich Formenti in klassischer Pianistenmontur noch eine Zigarette gönnt, bevor es losgeht. „Diese Kluft trage ich nur, weil das heute ein Konzert voller Ironie werden wird“, erklärt er zwischen Tür und Angel.
Zu einem ausführlichen Gespräch über Musik und ihren Betrieb haben wir einander schon einen Monat zuvor im Kaffeehaus getroffen. Auch da gab Formenti den unmissverständlichen Kritiker des gegenwärtigen Musiklebens. „Sie können das ruhig schreiben: Der Musikbetrieb kränkelt vor sich hin, und das schon seit Längerem“, bemängelt er. „Es herrscht eine absolute Bussi-Bussi-Mentalität und niemand wagt über wen anderen etwas Kritisches zu sagen – das ist der absolute Stillstand.“
Formenti kommt in Fahrt und sagt Dinge, die wohl viele seiner Kollegen denken, sich aber nicht zu sagen getrauen. An Lang Lang entzündet sich das Gespräch – für Formenti ist er der geborene Show-Man, der die unansehnliche Fratze der Musikindustrie nolens volens demaskiert. Seinen französischen Kollegen Pierre-Laurent Aimard rühmt er hingegen als hervorragenden Pianisten, betont aber, seine Klavierabende seien viel zu zahm: „Ich wünschte, ich könnte bestimmte Werke so spielen wie er. Aber seine Programme sind zu wenig shocking – die haben keinen Biss, damit vergibt er sich sehr viel.“
„Ich wünschte, ich könnte spielen wie Aimard, aber seine Programme haben keinen Biss.“
Tatsächlich sind Formentis eigene Programme bisweilen durchaus shocking. Als er etwa vor einem Jahr im Rahmen der Tourneeproduktion “Gólgota Picnic” des kolumbianischen Regisseurs Rodrigo Garçia als Pianist mitwirkte, gingen die Wogen hoch. Formenti saß nackt am Klavier und spielte „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ von Haydn. Das erregte den Unbill katholischer Kreise und sorgte vor allem in Frankreich für hellen Aufruhr. Pro- und Contra-Demonstranten zogen durch die Straßen von Paris, während die Konzerte selbst von gewalttätigen Störungen heimgesucht wurden: „Wir mussten unter Polizei- und Armeeschutz spielen, weil eine Gruppe von katholischen Hooligans den Saal stürmte – ich kam mir vor wie in der Sicherheitszone eines Flughafens.“
Bei Aktionen wie diesen steht für Formenti aber nicht die Provokation als solche im Vordergrund, wie er beteuert: „Um gehaltvolle, komplexe Inhalte präsentieren zu können, muss man aber manchmal zu unkonventionellen Mitteln greifen.“ In der bildenden Kunst oder im Film sei dies ja längst möglich, ohne dass dabei gleich von oberflächlicher Provokation oder Effekthascherei geredet werde. In dieser Hinsicht hinke die Musik anderen Kunstformen weit hinterher. Im Vergleich mit den radikalen Umstürzen in vielen Kunstbereichen würden Aktivitäten mit rein musikalischen Mitteln gründlich verblassen. „Was wir in der Musik treiben, ist lächerlich – sogar ein noch so verrücktes Stockhausen-Konzert muss man als konservativ bezeichnen, wenn man es mit Aktionen aus dem Bereich der bildenden Kunst vergleicht.“
„Was wir in der Musik treiben, ist lächerlich.“
Für Formenti fängt diese Rückständigkeit bereits beim eingeschränkten Professionalitätsbegriff an, der im Musikbetrieb vorherrsche. „Intendanten neigen dazu, alleine schon die Doppelfunktion als Pianist und Dirigent nicht zu akzeptieren“, kritisiert er. Die Ausübung des Musikerberufes werde auf die reine Beherrschung des Handwerks reduziert – das ist Formenti zu wenig. „Wenn man zu lange in seinem eigenen Revier hängen bleibt, ist die Gefahr groß, irgendwann zu versteinern.“ Deshalb hat er neben seiner Tätigkeit als Pianist schon vor vielen Jahren zu dirigieren begonnen. Und vor kurzem gründete er sogar ein eigenes Festival, bei dem er sein eigener Herr und Meister über die Programmgestaltung ist.
In Merate, einer verschlafenen Kleinstadt in der Nähe von Mailand, hob er dieses Jahr einen üppigen musikalischen Veranstaltungsreigen aus der Taufe, bei dem Cross Over-Projekte zur Normalität gehören. Das „nicht gerade kulturschwangere Merate“, wie Formenti den Ort augenzwinkernd bezeichnet, ist als Austragungsort jedoch nicht zufällig gewählt. In Merate ist Formenti aufgewachsen und dorthin kehrte er dieses Jahr „nach zwanzigjährigem selbstauferlegten Exil“ zurück – wenn auch nur für ein paar Wochen im Sommer. Denn seinen festen Wohnsitz hat der umtriebige Pianist in Wien, wohin er als 23jähriger Musikstudent zog. „Ich hatte offensichtlich eine gute Nase: Kurz nachdem ich Italien verlassen hatte, ist Berlusconi an die Macht gekommen,“ erklärt Formenti mit einem Lächeln. Von Mailand aus setzte er seine Klavier- und Kompositionsstudien in Stuttgart fort, bevor er in Wien in die Klasse von Oleg Maisenberg aufgenommen wurde.
Doch freimütig bekennt Formenti: „Mein allerbester Lehrer hat einen noch viel berühmteren Namen: Youtube!“ Mitunter studiere er im Internet minutiös genau die Spielweise von Kollegen, wodurch er sich Inspiration für eigene Interpretationen verschaffe. Doch Formentis Ideal der Interpretation liegt nicht in der Selbstdarstellung des Pianisten, sondern in der musikalischen Vermittlungsleistung: „Man ist geneigt, heute nur noch zum Interpreten hinauf zu schauen und dafür eine Unmenge an Geld hinzublättern! Das ist im Grunde eine unzulässige Instrumentalisierung, ja ein Missbrauch des Komponisten durch die interpretierenden Musiker.“
Sein bester Lehrer heißt Youtube
Formenti bezieht dies auf zeitgenössische wie auf vergangene Musik. Als Universalist kann er mit einer Unterteilung von Musik in neue und alte wenig anfangen. „Nehmen Sie Wagner: Der war ein Fanatiker, ja ein Terrorist in der Musikgeschichte. Und mit Liszt hat die Stunde Null geschlagen.“ Eine derart radikale Abkehr von den Konventionen, wie es die beiden betrieben hätten, sei heute kaum mehr denkbar. Insbesondere gelte dies für die Oper, meint Formenti mit Blick auf Wagner. An ihr würden sich heutzutage die Komponisten samt und sonders ihre Finger verbrennen: „Die Oper ist ein alter, stinkender Elefant, der nicht mehr will.“
Dennoch streitet Formenti nicht ab, dass auch heute noch neue musikalische Wege gefunden werden können. Der umtriebige Pianist gesteht, dass ihn insbesondere mit der Musik von Morton Feldman eine Dauerliebe verbinde. Angetan ist er aber auch von peripheren Gestalten des Musikbetriebs wie dem 2002 verstorbenen Schweizer Komponisten Hermann Meier: „So abgründig wie Ustwolskaja und so abstrakt wie der frühe Cerha,“ assoziiert er. Aber Formenti wäre nicht er selbst, würde er bei bloß musikalischen Referenzen stehen bleiben. Und so liefert er sogleich nach: „Diese Musik klingt wie ein Bild von Mondrian: Sie erscheint als ein ganzflächig ausgefüllter Zeitraum.“ Und schon ist er wieder da, der Blick aufs Gesamte in Kunst und Gesellschaft, die Formentis Zugängen zur Musik erst ihren wirklichen Sinn verleihen.
Fritz Trümpi
Marino Formenti (* 1956 in Italien, lebt in Wien) hat sich insbesondere in der Interpretation Neuer Musik seinen Platz im österreichischen und internationalen Musikleben erspielt. Sein spezielles Interesse gilt unüblichen Konzertformen, etwa tagelanger Repetition ausgewählter Werke z. B. beim steirischen herbst, bei seinen Nachspielen zu anderen Konzerten im Wiener Konzerthaus oder dem Entheben Neuer Musik aus ihrem üblichen Kontext durch die Inszenierung als Musik zu einer Party.
http://www.marinoformenti.com/