Uli Fussenegger bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik

Uli Fussenegger ist seit vielen Jahren ein wichtiger und prominenter Vertreter der modernen Musik in Österreich. Als Solist, Ensemblemusiker und Mitglied des Klangforums Wien ist er nicht nur, wie er selbst sagt, „gut vernetzt“, sondern hat auch viele Projekte initiiert, mit zahlreichen Musikern kollaboriert (von Franz Koglmann über Eugene Chadbourne und La Monte Young bis hin zu Gideon Kremer oder Sophie Rois) und war an zahllosen Musikproduktionen beteiligt. Sehr oft ist Fussenegger auch im Bereich der freien Improvisationsmusik tätig. Eine ihrer wichtigsten Prämisse, sich auf ein musikalisches Gegenüber einzulassen, prägt auch seine grundsätzliche Herangehensweise zu neuen Projekten. „Oft gehe ich mit Musikern ins Studio oder spiele mit ihnen eine Zeitlang gemeinsam und entscheide dann erst, ob daraus ein bestimmtes Projekt wird“, so Fussenegger.

Für das bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik aufgeführte Stück „San Teodoro 8“ lief der Entscheidungsprozess jedoch anders, was wiederum mit der jahrzehntelangen Begeisterung Fusseneggers für den italienischen Komponisten Giacinto Scelsi zusammenhängt. Scelsi, ein gebürtiger süditalienischer Graf, galt zu Lebzeiten eher als Enfant terrible in der modernen Musik. Er studierte in den 1930er Jahren bei zwei Schülern von Arnold Schönberg Musik, entwickelte aber erst in den 1950er Jahren, nach einem von Krisen und Auslandsaufenthalten dominierten Leben, seinen eigenen Stil, der von vielen Zeitgenossen jedoch ignoriert oder als dilettantisch abgetan wurde. Erst in den 1980ern begann eine geläuterte Scelsi-Rezeption, die bis heute ungebrochen ist.

„Scelsi war seiner Zeit im Grunde weit voraus“, erzählt Fussenegger, „denn es gab in den 1950er Jahren nicht im Entferntesten die Möglichkeit, seine Stück niederzuschreiben. Im Bereich der Mikrotonalität gab es nicht das Handwerkszeug. Das finde ich einen tollen und kreativen Ansatz, eine Musik zu kreieren, von der er wusste, dass man die nur mit einem sehr groben Pinsel aufzeichnen/niederschreiben kann.“ Scelsi komponierte seine Stücke, indem er sie auf Band einspielte, teilweise auch durch Verwendung freier Improvisation. Er verwendete dazu eine Ondiola (bzw. Ondioline), eine frühe Keyboardvariante, die man stimmen konnte, womit sich durch überlagerte Tonaufnahmen mikrotonale Effekte erzielen ließen. Diese Bänder ließ er nachträglich durch andere Komponisten in Notenschrift übertragen. „Aber“, so Fussenegger, „ich habe bei meinen Recherchen viele Stücke im Ondiola-Original entdeckt, Stücke, die als Streichquartette oder Ensemblestücke umgesetzt sind, und dabei bemerkt, dass die Transkriptionen teilweise nur Annäherungswerte sind, weil Scelsis Mikrotonalität so raffiniert und fein gestaltet ist.

Ein Großteil des von Scelsi erspielten Materials befindet sich darum auf Tonbändern. Insgesamt 900 listet der Nachlass auf. Im Zuge seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem italienischen Komponisten reiste Fussenegger 2011 nach Rom und hörte sich durch 600 Stunden des Scelsi-Nachlasses. „Dort finden sich ganz unterschiedliche Stücke, mal reines Improvisationsgeklimper, mal mitgeschnittene Radioprogramme, mal Hörproben, aber auch penibel ausgeführte musikalische Ideen, großartige Stücke, bei denen Scelsi wie ein klassischer Heimstudiomusiker erst eine Spur bespielt hat, dann eine zweite Spur dazu aufgenommen hat, eine dritte, eine vierte. Das alles untermalt allerdings von einem damals unvermeidlich lauten Rauschen.“ Diese Auseinandersetzung mit dem Oeuvre von Giacinto Scelsi wurde für Fussenegger eine wichtige musikalische Erfahrung, die seine gesamte Musikalität prägte.

Im Zuge des Quellenstudiums kam es zur Gründung des Projekts „Giacinto Scelsi Revisited“, das mittlerweile beachtliche Dimensionen angenommen hat. Neben der Fondazione Isabella Scelsi und dem Klangforum Wien, sind auch das Institut für Elektronische Musik und Akustik Graz, das Internationale Musikinstitut Darmstadt und die Musikhochschule Basel involviert. Im Zuge dessen wurde an acht Komponisten der Auftrag erteilt wurde, ausgehend von den Scelsi-Originalbändern jeweils eine Komposition anzufertigen (Ragnhild Berstad,  Georg Friedrich Haas, Fabien Levy, Tristan Murail, Michael Pelzel, Michel Roth und Nicola Sani). Drei dieser Stücke werden bei den Wittener Tagen aufgeführt, die Gesamtaufführung wird jedoch bei den Darmstädter Ferienkursen im Sommer dieses Jahres stattfinden. Das Projekt, das mittlerweile auch eine musikwissenschaftliche Begleitung inkl. nachträglich publizierter Auswertung vorsieht, hat allerdings bereits einiges internationales Interesse erregt, so dass es in den nächsten Jahren zu mehrfachen Aufführungen kommen wird, wie Fussenegger bestätigt.

Das von Fussenegger komponierte Stück „San Teodoro 8“ basiert auf einem 32-minütigen Zusammenschnitt von originalen Scelsi-Aufnahmen auf der Ondiola, die von reinem Klang bis zu ausformulierten musikalischen Ideen reichen. Gegen Ende dieses Mitschnitts steigen die vier Musiker schließlich ein. „Dieser Übergang ist musikalisch sehr genau organisiert, und dann beginnt das Konzept immer offener zu werden und man wird sehen, wo wir landen werden.“ Und weiter: „Das Originalband ist ja schon eine Arbeit über Musik, meine Komposition ist dann eine Arbeit über die Arbeit mit Musik, darum war es mir wichtig, mit der Improvisation darüber eine dritte Ebene einzufangen.“

Als Musiker hat sich Fussenegger dazu Martin Siewert an der Gitarre, Mike Svoboda an der Posaune und Ernesto Molinari an der Kontrabassklarinette ausgesucht. Zum einen aus sehr persönlichen Gründen, wie er sagt, alles großartige Musiker, mit denen er seit langem zusammen arbeitet, zum anderen ist diese in eher tiefen Registern angesetzte Instrumentation notwendig, um das gesamte Klangspektrum abzudecken, was bei Scelsi-Stücken unerlässlich ist. „Durch die langsamen Glissandi in seiner Musik ändern sich die Spektren ständig und kommen sich sogar in die Quere. Das lässt sich live eher mit diesem Instrumentarium generieren.“

Was bei den Wittener Tagen zu hören sein wird, ist also nichts weniger als die Vorabpremiere des bislang ambitioniertesten Projekte zum Ausnahmekomponisten Giacinto Scelsi. Oder um es mit dem Understatement von Uli Fusseneger zu sagen: „Es erwarten sie 50 Minuten Musik von denen die ersten 24 Minuten vom Band kommen.“ Aber auch dieses Understatement passt perfekt zu Scelsi, der laut Fussenegger die eigenen Tonaufnahmen mitunter einfach überspielte. Diesen beinahe punkigen Aspekt sollte man bei all dem Aufwand, der zu Ehren des Komponisten betrieben wird, vielleicht nicht ganz unter den Tisch kehren. Apropos Aufwand: Da die Scelsi-Aufnahmen mittlerweile als italienisches Kulturerbe gelten, begleiteten langwierige rechtliche Verhandlungen das Projekt, in denen penibel festgelegt wurden, unter welchen Bedingungen jede einzelne Minute der Scelsi-Aufnahmen abgespielt werden dürfen. Ein anstrengender Prozess, der mitunter auch die Lust an der Beschäftigung mit dem Komponisten gehörig dämpfen konnte, wie Fussenegger bestätigt. Dass es nach den vielen Jahren Vorbereitungszeit und den doch beträchtlichen Komplikationen nun zu diesen Aufführungen kommt, ist darum umso mehr als Ereignis einzustufen.

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