Dieter Kaufmann ist vom 9. bis 18. September zu Gast beim KomponistInnenforum Mittersill. Das folgende Porträt ist ein gekürzter Auszug aus dem Kapitel „Wirken und Wirkung“ aus dem im Verlag Österreichische Musikzeit edition in der Reihe Komponisten unserer Zeit erschienenen Buchs von Sabine Reiter: Dieter Kaufmann. Ich gehe im Himmel der Pfützen. Die Biograpie und Werkschau über den österreichischen Komponisten Kaufmann ist in den Jahren 2007/2008 auf der Grundlage von Interviews mit Dieter Kaufmann und Archivmaterialien entstanden und wurde im Jahr 2010 herausgegeben.
Dieter Kaufmann – Brücke und Brüche
Es gibt Komponisten, die sich in ihr stilles Kämmerlein zurückziehen, und sich nur der Produktion ihrer Werke widmen. Und es gibt einige, die sich, abgesehen von ihren Werken, auch noch für andere Dinge einsetzen. Letztere sind für eine lebendige Musikwelt unentbehrlich. Dieter Kaufmann ist so jemand, eine Persönlichkeit mit einer besonderen Energie und einer besonderen Besessenheit, ein „Aktivposten im Spektrum der österreichischen Gegenwartsmusik.“ [1]
Er ist oder war auch noch Dirigent, Regisseur, Veranstalter, Organisator, Initiator, Lehrer, Literat, Kurator, Radiomitarbeiter, Präsident, Feuilletonist, Politiker, Musiker, Sänger, Darsteller, Dekan, Ehemann und Familienvater: Es scheint fast zuviel für ein einziges Leben und doch schafft Kaufmann das Unmögliche, nämlich seinen Tag so zu dehnen, dass dies alles Platz hat. Seine Tätigkeiten stehen immer unter dem Zeichen der Veränderung bestehender Zustände. Seine Kompositionen, ebenso wie seine Aktivitäten auf anderen Gebieten sind immer getragen von der Hoffnung auf eine Verbesserung des Gegebenen, von einer grundsätzlich kritischen Haltung, vom Widerstand gegenüber dem Etablierten und vom ständigen Hinterfragen des einmal Erreichten.
Sein Werk hat so viele verschiedene Aspekte, dass es nicht reicht, auf ein paar Stücke einzugehen, um diese kompositorische Welt zu erklären. Bei Kaufmann sind auch Werke der gleichen Kategorie immer wieder von unterschiedlichen Ideen und Herangehensweisen getragen. Ein wesentlicher Aspekt ist aber auf jeden Fall die „Widerständigkeit“ gegen vorherrschende Dogmen, auch, oder vielleicht gerade dann, wenn es sich um jene der Neuen Musik handelt – das Unterlaufen von Erwartungen, wenn er etwa in Donaueschingen Tonalität einbringt, anstatt seriell zu sein, wenn er in seiner Komposition für das Klangforum zu einfach ist, und für andere wieder zu schwierig. Dieses Widerstandsverhalten Kaufmanns war seiner Karriere nicht immer förderlich. Er findet mit seinen ungewöhnlichen Besetzungen und unkonventionellen Stücken nur schwer einen Verlag, und als er endlich bei Schott ist, gibt es auch schon Unstimmigkeiten über den Opernstoff, dem Kaufmann sich widmen soll.
„Die Aversion Kaufmanns gegen Bevormundungen jedweder Art spiegelt sich aber ab dem Beginn seiner schöpferischen Tätigkeit auch in seiner stilistischen Offenheit wider, die sich bewusst gegen eine Diktatur des Geschmacks richtet, mag dieser nun aus den Reihen der Reaktion oder auch von den Hütern des „Fortschritts“ kommen; diese Offenheit wurde bisweilen (allgemein, also nicht nur auf Kaufmann bezogen) sogar bösartig als „postmoderne Beliebigkeit“ apostrophiert, stellt aber in Wirklichkeit eine Erweiterung von Materialstand und Idiomatik dar, die für das Einbauen von breiten politisch-gesellschaftlichen Assoziationsfeldern geradezu notwendig erscheint.“ [2]
Die Fähigkeit und auch der Mut zur kritischen Haltung, gepaart mit dem Rüstzeug zum Literaten, führen über das Erlebnis der Studentenrevolution in Paris geradezu von selbst in eine politische, engagierte Richtung. Sind es zunächst noch jugendlich-romantische Gedichte, werden nach und nach politische Anliegen zum Gegenstand seiner Schriften. Auch seinen Kompositionen kommt dieses Talent zugute, wovon nicht nur die phantasievolle Namensgebung für seine Werke zeugt. Mit Kaufmanns politisch intendierten Texten könnte man ein eigenes Buch herausbringen. Sein politisches Engagement konkretisiert sich unter anderem in seiner Tätigkeit als Grün-Politiker im Gemeinderat in Feldkirchen in Kärnten.
Paris 1968 ist auf jeden Fall auch in musikalischer Hinsicht ein Wendepunkt, wovon seine „Evocation“ op. 11 eindrucksvoll Zeugnis ablegt. Sein kompositorisches Schaffen durchläuft einige Wandlungen, von der „romantischen“ Phase der frühen Werke hin zum humorvollen Schöpfer elektroakustischer und experimenteller Stücke, und zur politischen Motivation, die in fast jedem seiner Musikstücke wirksam wird. Der Elektroakustiker Kaufmann trifft mit seinen Tonbandkompositionen im gemütlichen, den Entwicklungen der großen Welt hinterher hinkenden Österreich zunächst auf ablehnendes Staunen über eine derartige Zumutung. Kritiker aus der Frühzeit schreiben oft unfreiwillig komisch, etwa über „Energies incluses“: „Hier ließen sich in der montierten Geräuschkulisse deutliche Kompositionsmerkmale feststellen.“[3]
Dass diese Musik und die Art des experimentellen Umgangs für Österreich neu waren, konnte man an den Skandalen erkennen, die es sogar bei einer Avantgardeveranstaltung wie dem „musikprotokoll“ des Steirischen Herbst gegeben hat. Hier kommt wieder das magische Stichwort „Widerstand“ ins Spiel, denn gerade diese ablehnende Haltung reizt Kaufmann natürlich umso mehr, hier mit elektroakustischen, experimentellen und engagierten Werken dagegenzuhalten und auf jede ihm mögliche Weise für diese Art Musik zu kämpfen.
Es ist hauptsächlich Kaufmanns Verdienst, dass sich die elektroakustische Musik in Österreich etablieren konnte. Als Komponist und Veranstalter wirkte und wirkt er unermüdlich an der Vermittlung dieser Kunst. Als Lehrer und später Professor und Leiter des Instituts für elektroakustische Musik weist er nicht nur einen einzigen Weg, sondern zeigt, wie sein Lehrer Messiaen, verschiedene Möglichkeiten auf. Als Vermittler elektroakustischer Musik in Österreich wurde er so wichtig und richtungsweisend, dass Pierre Schaeffer ihn zu einer Zeit zum Institutsleiter erklärte, als er noch gar nicht in dieser Position war: „Das Hauptzentrum für die elektroakustische Musik in Österreich ist das Institut für Elektroakustische Musik an der Wiener Musikhochschule, das (…) seit 1970 unter der Leitung des Komponisten Dieter Kaufmann steht, der dem Studio eine neue Richtung gegeben hat.“ [4]
Fast die gesamte jüngere Komponisten-Generation in Wien hat bei ihm entweder im Lehrgang für elektroakustische Musik, oder überhaupt bei Kaufmann als Professor studiert. Auch als Veranstalter fördert Kaufmann seit den Siebziger Jahren bis heute die elektroakustische Musik. Vor allem die französische Schule, mit ihren Hochburgen Paris und Bourges, macht er in Wien bekannt. „Auch durch seine Lehrtätigkeit wachsen Komponisten heran, denen ein möglichst weiter Horizont mitgegeben wird und denen musikalische Engstirnigkeit fremd sein müsste“. [5]
Kaufmann geht den Dingen gerne auf den Grund, auch in seinen Kompositionen. Viele Werke stellen selbstreflektierend die Frage nach dem, was sie eigentlich sind, beispielsweise wenn im Ballett „Warten auf Musik“ die „Musik für den Tanz“ zum betrachteten und verarbeiteten Objekt wird. Mit seiner Musik baut Kaufmann Brücken zum Hörer, indem er bekanntes Material verwendet, getragen vom Willen, mit dem Hörer auf einer verständlichen Ebene zu kommunizieren, entfernt sich aber gleichzeitig von den heiligen Hallen von Serialität und Klangkomposition. In den Siebziger Jahren gilt er, zusammen mit Komponisten wie etwa Gruber, Zykan oder Schwertsik, als Komponist der Neuen Einfachheit. Da er es aber niemandem allzu leicht machen will, lässt er diese Brücken nicht einfach stehen, sondern bringt eben Brüche ein, verfremdet, zerstört und lässt seine „objets trouvés“ aus der Musik vergangener Jahrhunderte und aus der Umwelt in einem neuen Licht sehen.
Sein Objekt, die Musik, hinterfragt Kaufmann in seinen Kompositionen ständig. Den Anstoß gibt oft etwas, das ihn stört, beispielsweise die Verwendung von Popmusik anstelle zeitgenössischer Musik in der Kirche, oder das ungenierte, die Struktur der Musik außer acht lassende „Betanzen“ durch das Ballett. Auch die Beschäftigung mit Literatur oder mit Musik ist sehr oft der Ausgangspunkt einer Komposition. Text bzw. Sprache spielen überhaupt eine wichtige Rolle in seinem Oeuvre. Dies hat auch noch einen anderen Grund: Mit seiner Frau, der Schauspielerin Gunda König, hat Kaufmann eine kongeniale Partnerin an seiner Seite, die seine Sprach-Kompositionen in ihren Interpretationen zum Erblühen bringt.
Der Unterricht bei Karl Schiske vermittelte natürlich zunächst die Vermeidung tonaler Zentren, ein Prinzip, das Kaufmann in den ersten Werken zwar weitgehend, aber nicht ausschließlich befolgte. Die Verwendung von Tonalität und Dodekaphonie als Versatzstücke, nicht als durchgehende Kompositionsprinzipien, findet sich schon in Op. 1 und 2. Später erhält Kaufmann durch das französische, durch François Bayle vermittelte Objektdenken für seine Haltung ein theoretisches Fundament. Frankreich 1968 ist in musikalischer Hinsicht gekennzeichnet durch die allgemeine Revolte gegen das serielle Dogma, die bereits zu Anfang der 60er Jahre begonnen hatte.[6] Messiaens allen Strömungen gegenüber offener Unterricht trägt hier das Seine bei. Von ihrer Stilistik her sind Op. 1- 8 noch mitteleuropäisch gefärbt, während die Mallarmé-Lieder bereits in eine andere, wenn man so will, „französische Richtung“, weisen. Von hier aus geschieht dann der Aufbruch in verschiedene Richtungen: Elektroakustik, Musiktheater, engagierte Musik.
Bei François Bayle trifft Kaufmann schließlich auf jenes Objektdenken, das in Grundzügen bereits in den ersten Werken vorhanden war. Die Komposition mit „objets trouvés“ wird zum bestimmenden Merkmal der Musik Kaufmanns. So ein musikalisches Objekt kann eine Aufnahme eines Klangereignisses sein, aber auch die Tonalität oder die Zwölftönigkeit können, wie bereits erwähnt, zu musikalischen Objekten werden. In den in der Pariser Zeit konzipierten und entstandenen Werken Op. 12 – 18 stellt sich im Kern schon dar, was später noch wichtig für Kaufmann bleiben sollte: Philosophisch-theoretische Ansätze wie in Warten auf Musik, kompositionstechnisch-konstruktivistische Fragen bearbeitende Konzepte wie in Chute oder Wiener Werkel, multimediale Verarbeitung einer Thematik wie in Singular und natürlich politisches Engagement wie in Evocation.
Paris 1968 bedeutet für Kaufmann auch das Kennenlernen der erst zwanzig Jahre alten elektroakustischen Musik. 1948 hatten Schaeffers Experimente mit der Wiederholung von Aufnahmesegmenten einer Schallplatte begonnen. Ein Klangfragment, ein „objet trouvé“ wird durch das Wiederholungsprinzip seiner natürlichen Umgebung enthoben. Schaeffer verwendet anfangs durchaus anekdotische Klänge, also solche, die einen hohen Grad an außermusikalischer Information mit sich bringen, und er verwendet in einem Stück auch mehrere verschiedene solcher Klänge, die dann nebeneinandergesetzt werden. 1951, nachdem das Tonbandgerät in die Studios des ORTF [7] Einzug gehalten hatte, beginnt bereits eine zweite musikästhetische Richtung der Pariser elektroakustischen Musik. Manche Komponisten beschränken sich auf die Verwendung nur eines Klangs in serieller Organisation, dies bleibt aber für die Groupe de Recherche Musicale (GRM) de l’ORTF untypisch.
1968, als Kaufmann in die „stage“ der GRM eintrat, hatte Schaeffer sich bereits vom anekdotischen Klang abgewandt, und einen Weg hin zu größtmöglicher Abstrahierung und Klassifizierung des Klangmaterials beschritten. Für Dieter Kaufmann war allerdings die besondere Entdeckung die Möglichkeit des anekdotischen Klangs. Beeinflusst ist er in dieser Hinsicht auch von Olivier Messiaen, der ebenfalls mit in der Natur vorhandenen Materialien arbeitete, diese allerdings in Instrumentalstücken einsetzte.
Mit der elektronischen Musik Kölner Prägung verbindet Kaufmann gar nichts, mit Luc Ferraris anekdotischer Musik dagegen sehr viel: Kaufmann geht es darum, akustisches Material mit außermusikalischem Informationsgehalt gleichberechtigt mit „herkömmlichem“ kompositorischem Material zu verwenden. Die elektroakustische Musik eröffnet nun eine Fülle von Möglichkeiten, mit dem Informationsgehalt von Klängen zu arbeiten. Kaufmann weist darauf in seinem Artikel „Konkrete Musik – Phänomen und Bewältigung“ selbst hin: „Man hat lange genug geglaubt, in Tonhöhen, Tondauer, Tonstärke, Tonart und Klangfarbe – also in rein ästhetischen Werten – die musikalische Erscheinung eines akustischen Ereignisses definieren zu können. Das Tonband und damit die Möglichkeit der Reproduktion müsste diesen Parametern den „konkreten Informationsgrad“ hinzufügen.“ [8]
In einigen Werken besteht das zugrundeliegende Material ausschließlich aus Klängen eines Instruments (Gefängnisse: Orgel, Paganihilismo: Violine), hinsichtlich des Materials ebenso konzentriert zeigen sich La Mer, op. 75., wo Kaufmann nur Debussys Komposition mit dem Rauschen des „echten“ Meers kombiniert, oder Air op. 91. In dieser sehr sinnlichen Arbeit werden die Maschinenklänge eines Industriemuseums durch Bachs Air gewissermaßen gestimmt, wodurch man sich die Maschinengeräusche zu Klängen „zurecht hören“ kann, was zu eindrucksvollen Effekten führt.
Die Verarbeitungsweise der Klänge ist unterschiedlich, die Palette reicht von sehr strengen, nach geometrischen und arithmetischen Reihen organisierten Klängen wie in Chute, op 14a, bis hin zu freien Formen wie in Kaufmanns meistaufgeführtem Werk. Herbstpathetique op. 22. Viele Komponistenkollegen, unter ihnen auch Schaeffer, schätzen diese Arbeit sehr: „Unter den Werken für Tonband allein sind zwei sehr persönliche und poetische Kompositionen zu nennen, die in Bourges, im Studio der GMEB realisiert wurden: Herbstpathetik (1972) und Portrait einer Frau im Spiegel (1973)“ [9]
Die graphische Notation wird seit den frühen 70er Jahren zu einem wichtigen Teil in Kaufmanns Schaffen, in verschiedenen Erscheinungsformen: Von graphischen Einsprengseln in einer sonst „normal“ notierten Komposition, wie etwa das Zerreißen von Papier in Kirilenko, bis hin zur musikalischen Graphik, die größtmögliche Interpretationsfreiheiten lässt, findet sich die ganze Bandbreite graphischer Notation. Bis heute ist die graphische Notation für Kaufmanns Schaffen wesentlich: „Ich wollte immer in der Partitur das Resultat sichtbar machen, und nicht nur den Ausführungsplan. Das ist schwierig, denn im Grund genommen ist die Partitur nur für den Dirigenten, aber ich möchte, dass er den Sinn der Komposition auch sofort graphisch erkennt, und nicht erst mühsam aus der Entschlüsselung der konventionellen Notation herausarbeiten muss. Insofern notiere ich auch die Instrumente in der Reihenfolge, wie sie eine Form bilden und nicht immer dort, wo sie normalerweise in der Partitur ihren Platz haben sollten, das hat aber bis jetzt noch zu keinen Schwierigkeiten geführt.“
Viele Kompositionen Kaufmanns sind religiös inspiriert und einige davon entstehen aus dem Bedürfnis des als Organist in das religiöse Leben involvierten Komponisten, in der Kirche die Neue Musik, wenn schon nicht zu etablieren, so doch zumindest bekannt zu machen. Die Kirche war immer ein Ort, an dem die Musik eine Funktion hatte und gebraucht wurde, und zu jeder Zeit außer in den letzten hundert Jahren, hat die Kirchenmusik auch die jeweilige Zeit gespiegelt. Und, was noch wesentlicher ist, diese neu komponierte Kirchenmusik wurde auch gespielt. Für den Komponisten des 20. Jahrhunderts war es keinesfalls eine Selbstverständlichkeit, in der Kirche gespielt zu werden. Die zeitgenössische Kirchenmusik befindet sich seit dem 20. Jahrhundert bis heute nicht auf dem höchsten musikalischen Niveau der Zeit, sondern versucht eher, ihre Attraktivität über den Einsatz von Popularmusik zu erhöhen. Deswegen ging Kaufmanns kompositorische Tätigkeit für die Kirche mit einer animatorischen einher: Die Aufträge und die Aufführungsorte für Neue Musik mussten erst gefunden werden. Entsprechende Initiativen wurden von Kaufmann immer wieder gesetzt. Gerade der Evangelischen Kirche, der Kaufmann angehört, fehlt natürlich die materielle Basis für einen Ausbau ihres kirchenmusikalischen Repertoires [10]. Und wenn das Geld für Kompositionsaufträge da gewesen wäre, wer von den ehrenamtlichen Kirchenmusikern wäre in der Lage gewesen, derlei Werke zu spielen?
Die Werke Kaufmanns hätten es im regulären Messen-Betrieb auf jeden Fall auch aus dem Grund schwer gehabt, da sämtliche seiner von der Religion inspirierten Kompositionen auch ein kirchenkritisches Element in sich tragen. Auch Kaufmanns einzige Messe, in diesem Fall nach dem Modell der katholischen Messe, scheut keine Kritik: Als Litanei bringt Kaufmann im „Gloria“ die Aufzählung heutiger kirchlicher „Vergehen“. Bei der Aufführung im Rahmen von Bruder Boleslaw in der Stiftskirche von Ossiach, ließ der zuständige Kärntner Bischof Kapellari der künstlerischen Freiheit ihren Lauf, bestand aber auf den abschließenden Worten: „dennoch wollen wir dich loben“.
Ein sehr großer Teil des Oeuvres Kaufmanns ist der sogenannten „Musik über Musik“ gewidmet. Musik über Musik zu machen, bedeutet in seinem Fall allerdings nicht einfach die Verwendung von Zitaten oder eines bekannten Themas als Ausgangspunkt einer Komposition. „Musik über Musik“ hat ein eigenes Konzept: Kaufmann komponiert tatsächlich seinen Kommentar zur musikalischen Vergangenheit. Er selbst bringt als Vergleichsbeispiel zu dieser Vorgangsweise den Film Satyricon von Fellini, bei dem am Schluss die jungen Lebenden ihre alten Toten aufessen. Mitkomponiert ist in „Musik über Musik“ immer auch die Kritik am Umgang unserer Gesellschaft mit der musikalischen Vergangenheit, die höher bewertet wird als das Schaffen der zeitgenössischen Komponisten. Kaufmanns kompositorische Beschäftigung beispielsweise mit der virtuosen Violinmusik eines Paganini in Paganihilismo meint also bildlich gesprochen das „Aufessen der Toten“, das „Sich-Einverleiben“ des Alten unter den Vorzeichen des Neuen.
Dass ein Nebeneffekt dieses Einsatzes bekannten musikalischen Materials die leichtere Rezeption ist, war von Kaufmann durchaus so intendiert. Durch die Verwendung bekannter Materie kommt er seinem Zuhörer einen Schritt entgegen, durch die Art der Verarbeitung derselben hält er kritische Distanz und fordert zum neuen Hören des Bekannten auf, also zur Veränderung der Wahrnehmung. Da ist zunächst unterschiedliches Material, vom zitierten oder selbst komponierten Ohrwurm über das Stilzitat bis hin zum bloßen Einsprengsel, das oft nur mehr entfernt an Bekanntes erinnert. Die Verarbeitungstechniken sind sehr verschiedenartig, zum Teil nützt Kaufmann die Möglichkeiten der Elektroakustik, manchmal überträgt er auch dort gefundene Prinzipien auf die Instrumentalmusik. Der Wiedererkennungsgrad differiert ebenfalls stark, von der bloßen Färbung, wie in Es ist genug, bis hin zur fast vollkommenen Unkenntlichkeit in Brandschaden.
Ein Schwerpunkt im Werk von Dieter Kaufmann liegt auf seinem musiktheatralischen Schaffen. Es umfasst fünf große und eine Vielzahl kleinerer Stücke. Diese Werkgruppe ist nicht leicht auf einen Nenner zu bringen, zu unterschiedlich sind Grundidee und Konzeption der einzelnen Werke. Zu versuchen, nach Kategorien wie Musiktheater, musikalisches Theater oder Performance zu trennen, hieße, gerade das, was er zusammenbringt, wieder auseinander zu nehmen. Bestenfalls lassen sich gemeinsame Elemente in den Werken herausfiltern; etwa die Verwendung der Elektroakustik seit dem Studium in Frankreich; der bevorzugte und oftmalige Einsatz der Sprechstimme, die Verfremdung bekannter Materie und die Kombination verschiedenartiger, oft gegensätzlicher, musikalischer Mittel.
Nach der ersten Arbeit, Termiten op.6, Termiten, ein jugendlich-romantisches Drama um die Entwicklung des Einzelnen aus der Masse heraus, folgt op.8, Prova e Concerto, eine Arbeit die bereits tiefer in den Grundlagen der Ballett-Materie schürft. Unzufrieden mit der Nonchalance, mit der Tänzer Musik „benutzen“ und ungeniert über musikalische Details hinweg tanzen, schafft Kaufmann ein Werk, in dem jedem Instrument ein Tänzer zugeordnet ist. Das bringt eine größere Klarheit in der Verbindung von Tanz und Musik und verhindert das bloße Hintanzen auf Höhepunkte, das Kaufmann so stört. Drei Jahre später erhält er den Auftrag für eine TV-Oper. Das Kontaktspiel Singular, 1970 noch während des Frankreich-Aufenthalts entstanden, markiert den Beginn der Multimedia-Laufbahn Kaufmanns. Hier geht er mit seinem Anliegen, nicht bloß eine musikalische Folie für die visuelle Darstellung zu liefern, noch einen Schritt weiter: Musik, Tanz und Sprache sollen einander nicht interpretieren, sondern zueinander bzw. miteinander sprechen.
Ein anderer Ansatz, aber ähnliche Grundlagen finden sich bei Pax. Im gleichen Jahr wie Singular entstanden, ist diese Komposition „kein Werk, sondern das Sichtbarwerden der Entstehung eines Werkes“[11]. Diese Inszenierung eines Konzerts ist als Auseinandersetzung mit Machtprozessen, die durch die mediale Inszenierung der Wirklichkeit entstehen, gedacht. Dieses „musikalische Theater“ im Sinne Kagels ist Ausgangspunkt für weitere inszenierte Konzerte, wie etwa Concertomobil. Dieses „Porträt eines Instrumentalkonzerts als Wettkampf“ lässt gewisse, für Instrumentalkonzerte typische Stereotype wie etwa die Virtuosenmusik, gegeneinander antreten. Trotz aller Gegenstimmen findet Kaufmann gerade mit diesen beiden Werken endlich einen Verlag (Schott).
Ebenfalls 1971, teilweise noch in Frankreich, entsteht wieder ein Ballett. „Warten auf Musik“ geht einen Schritt weiter in der Mitbestimmung des choreographischen Geschehens durch den Komponisten und in der Frage der Bedeutung der Musik für den Tanz, es ist wiederum ein Porträt, nämlich das eines „Balletts mit der Musik“. Bei diesem „Bildnis“ werden mit einem Augenzwinkern Musik und Tanz und ihre Beziehung zueinander dargestellt, hinterfragt und schließlich ad absurdum geführt.
Das Jahr 1970 kennzeichnet einen wichtigen Wendepunkt im Schaffen von Dieter Kaufmann. Er lernt seine spätere Frau Gunda König, eine Schauspielerin, kennen. Ihre außergewöhnliche Bühnenpräsenz und die Musikalität ihrer Sprache geben den Ausschlag für das Einbeziehen der gesprochenen Sprache in eine große Zahl von Kaufmanns ab dieser Zeit entstandenen Kompositionen. Es ist, als wäre er unter nun geänderten Voraussetzungen wieder dort angelangt, wo er schon einmal hinwollte: bei der Literatur.
In Pupofon, dem nächsten musiktheatralischen Werk, zeigen sich die Anfänge dieser Entwicklung. Pupofon ist außerdem der Prototyp der Produktionen des einige Jahre später [12] von Dieter Kaufmann und Gunda König gegründeten K&K Experimentalstudios.Diese Gemeinschaftsarbeit mit dem Pupodrom von Erwin Piplits und Kaufmanns Frau Gunda König ist ein Meilenstein auf dem Gebiet der musikalischen Performance und auch für die Entwicklung des zeitgenössischen Musiktheaters. Erwin Piplits geht mit bildnerischen Objekten ähnlich um wie Kaufmann seinerseits mit musikalischen Objekten. Angeregt durch diese ganz andere Art des Theatermachens, versucht Kaufmann sich später im Rahmen seines K&K Experimentalstudios selbst erfolgreich als Regisseur. Mit den Produktionen des Experimentalstudios wird K&K ganz Europa aber auch Nord- und Lateinamerika sowie Ägypten bereisen. Ganz in der Tradition der alten Wanderbühnen werden die Produktionen so gestaltet, dass Requisiten und Bühnenbild eine gewisse transportable Größe nicht überschreiten. Im Fall von K&K musste alles im eigenen Kombiwagen Platz finden.
Während der fünf Jahre dauernden Arbeit an seiner ersten Oper, der Volksoper, entsteht eine Serie von „Porträts“. Diese exemplarischen Werke porträtieren einerseits einen bestimmten Interpreten, andererseits auch die jeweils dazugehörige Gattung, etwa Musik für Cembalo oder Flöte. Zum musikalischen Theater können diese Porträts deswegen gezählt werden, weil es hier immer um die „Darstellung“ des Porträtierten geht. Ebenfalls vor Fertigstellung der „Volksoper“ entsteht Music Minus One. Szenen zum Beethoven-Jahr, das die Beethoven-Rezeption kritisch aufs Korn nimmt.
Ab 1975 entstehen die ersten Produktionen des K&K Experimentalstudios, auch aus dem Wunsch heraus, das Hören der elektroakustischen Musik durch eine sichtbare Aktion zu erleichtern. Diese Haltung, eigentlich den Pariser Akusmatikern diametral entgegengesetzt, entsteht durch Erfahrungen bei Konzerten in eben jener akusmatischen Manier, nämlich im Dunkeln. Kaufmann bemerkt, dass diese Konzerte für viele Zuhörer nur schwer zu ertragen sind, da Klänge, die scheinbar aus dem Nichts kommen, dem Zuhörer Angst machen können. So verlegt er seine Konzertreihe mit elektroakustischer Musik ins Planetarium und lässt das Publikum bei den Konzerten den Sternenhimmel sehen. Die ersten K&K Aufführungen sind dann inszenierte Musik, ebenfalls aus dem Wunsch entstanden, der schwierigen Rezeption elektroakustischer Musik eine andere Grundlage zu geben.
Nach einigen kleineren Werken für das K&K Experimentalstudio stellt Kaufmann 1978 endlich seine erste abendfüllende Oper fertig.
„Umgestülpte Operette“ nennt Carl Dahlhaus die Volksoper [13]. Schon Gert Jonkes Theatertext-Vorlage „Die Hinterhältigkeit der Windmaschinen“[14] nimmt diese „Umstülpung“ vor: Er lässt die Bühnenarbeiter, die sonst hinter der Bühne verborgen sind, zu den tragenden Personen seiner „Volkstragödie“ werden. Auch die Musik stülpt sozusagen die Hinterbühne auf die Vorderbühne. Auf der Hinterbühne regieren Schlagermusik und Operette, und genau das bekommt man zu hören: „Zitate“ aus Opern und Operetten, allerdings in Form von selbst komponierten Ohrwürmern. Natürlich belässt Kaufmann es nicht beim Abspulen schnöder Popularmusik, sondern nimmt Verfremdungseffekte vor, die ein genussvolles Abtauchen in die Welt des Wohlklangs effizient verhindern und gleichzeitig darauf verweisen, worauf es eigentlich ankommt: dass hier nichts so ist, wie es eigentlich zunächst aussieht.
Die Mittel der Montage und der Verfremdung, Übertreibung und Überspitzung durchziehen die ganze Oper und schaffen ein Stück absurden Theaters, dessen Inhalt wieder ein gesellschaftspolitisches Thema aufs Korn nimmt: eine verwaltete, unterdrückte Gesellschaft, deren Tun und Trachten auf die Erfüllung ihrer Aufgabe gerichtet ist, nämlich den Aufbau der Bühne für ein Staatstheater. Eine Aufgabe, die sich als ebenso absurd erweist, wie die Restriktionen, denen die Bühnenarbeiter unterworfen sind, etwa die Pflicht, sich bei Sturm an Windhilfsgestellen festzuhalten. Eine Parabel über die Wirklichkeit, dargestellt in einem Theater, das deren Absurdität überhöht.
Aber dieses Stück absurdes Theater ist noch etwas anderes. Es ist eine Oper über die Oper, womit auch hier der Porträtgedanke zum Ausdruck kommt. Hier wird ein Opern-Exempel statuiert, und zwar ein umgestülptes – eben ein Porträt der Oper aus der Sicht eines Bühnenarbeiters. Das Porträt des Phänomens an sich, das über sich selbst hinaus auf unsere Gesellschaft verweist. Die Oper wird abgebildet, wie ein Maler ein Bild malt, wie in vielen anderen Werken Kaufmanns das Werk auf sich selbst verweist. „Die Komposition inszeniert gleichsam die Materialien, die sie aufgreift.“ [15]
Die Reise ins Paradies nach Robert Musils Textfragment aus dem „Mann ohne Eigenschaften“, geht von der Idee aus, Sprache in jeder Form zu verwenden: gesprochene, solistisch und chorisch gesungen, elektroakustisch verändert und mittels Diaprojektor projiziert, also lesbar. Das vokale Theater entsteht während einer sehr textlastigen Schaffensperiode und ist eigentlich ein „untypischer Kaufmann“. Anstatt Aktionen einzubringen, widmet er sich hier ganz der Sprache und der Musik. Durch die Konzentration auf nur ein zu komponierendes Element, die Stimme, erreicht Kaufmann eine Luzidität, die jener von Musils Sprache und dem Inhalt seines Texts entspricht. Diese Beschränkung auf das Wesentliche, die beiden Elemente Sprache und Musik, wird belohnt. Die „Reise ins Paradies“ bringt Kaufmann im Jahr 1990 den Ernst Krenek Preis der Stadt Wien.
Auch Bruder Boleslaw überraschte so manchen Kaufmann-Kenner. Kammermusikalisch besetzt und in einem Ausmaß mit kirchenmusikalischen Versatzstücken arbeitend, wie noch bei keinem seiner Kirchenmusikstücke zuvor, gelingt Kaufmann hier wieder ein großer Wurf. Eine Kritiker lobt die kammermusikalische Besetzung und den a-cappella Satz und wundert sich, so etwas von Kaufmann zu hören: „Das ist doch bemerkenswert bei einem Komponisten, der in seinen Anfängen eher als Bürgerschreck in Erscheinung trat und im Musiktheater des gemeinsam mit Gunda König gegründeten K&K Experimentalstudios mit maliziöser Lust Anti-Oper produzierte.“ [16]
Ist die Volksoper eigentlich eine Operette, so ist die Operette Dolores [17], nach einem Theaterstück von Georg Maria Hofmann, eigentlich überhaupt nicht komisch. Die durchaus ernste Thematik wird in ein operettenhaftes Gewand gekleidet. „Banalität gepaart mit Ironie und das noch mehr oder weniger durchkomponiert – also nicht als „Nummern-Oper“ – so dass die Operette immer nur durchblitzt, wie das Gradl beim abgewetzten Anzug, das wollte ich erreichen.“ [18]
Erst zehn Jahre später entsteht mit Requiem für Piccoletto, beruhend auf dem Text „Natura morta“ [19] von Josef Winkler, wieder ein großes Musiktheaterwerk, eine „wort/spiel/tanz/bild-Oper“. Die feinen Strukturen und die komplexe Gestaltung wirken nie überkonstruiert, die Musik bringt den hyperrealistischen, erzählenden Text Winklers in Theaterregionen und deckt eine Dramatik auf, die beim Lesen noch hinter den Zeilen verborgen ist.
Die fünf großen Musiktheaterwerke könnten unterschiedlicher nicht sein und haben doch gemeinsame Züge: Kaufmann arbeitet in allen auf verschiedene Art mit „objets trouvés“, sei es aus dem Fundus der Musikgeschichte, oder sei es, dass er eigene Stücke in umgearbeiteter Form wieder einbringt. In vier von fünf dieser Werke spielt die Elektroakustik eine wesentliche Rolle, nur in Bruder Boleslaw ist ihre Rolle eher die einer Bühnenmusik.
Der Begriff der „engagierten“ oder „politischen“ Musik ist bei Kaufmann wesentlich weiter zu fassen, als man dies üblicherweise tut. „Veränderung“ ist das Schlüsselwort, das hier angebracht erscheint, und zwar Veränderung nicht nur in gesellschaftspolitischer Hinsicht, sondern auch Veränderung der Wahrnehmung. Kann ein Komponist die Welt ändern, und wenn ja, wie? Kaufmann selbst schreibt dazu: „Der Anspruch der Kunst wird immer daran zu messen sein, wie weit es ihr gelingt, die Wirklichkeit zu verändern (…).“[20] Dieses „Veränderungspotential“ von Kunst ist der Gradmesser für Kaufmanns engagiertes Oeuvre, ähnlich wie bei Schnebel: „Die Frage der gesellschaftlichen Wirksamkeit von Kunst selbst entscheidet sich daran, wie und wie weit sie in der Lage ist, Vorgänge anzustoßen – oder wenigstens zu begünstigen – in welchen sich Emanzipation, neues und richtiges Bewusstsein, sowie emotionale Bereicherung herstellen.“[21]
Kaufmanns Lieblingsbeispiele für das Gelingen einer gesellschaftspolitischen Wirkung durch Kunstwerke sind die „Staatsoperette“ von Otto M. Zykan, und aus dem Bereich des Theaters Bernhards „Heldenplatz“. Beides sind explizit politische Stücke und die Wirkung beider Werke beruht vor allem auf ihrem Inhalt, also auf sprachlicher Information. Als politischer Komponist befindet sich Kaufmann in Österreich in Gesellschaft von Komponisten wie Wilhelm Zobl und Luna Alcalay, die sich ebenfalls der engagierten Musik verschrieben haben, und solchen wie eben Otto M. Zykan, der politische Themen, wie in der „Staatsoperette“, von der ironischen Seite her angeht.
In Kaufmanns Oeuvre sind die „engagierten“ Werke hinsichtlich der Beschaffenheit ihres Engagements breit gestreut. Explizit politische Thematik (Der Tod des Trompeters Kirilenko, Still ist das Land, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte), Gesellschaftskritik (Music minus One, Volksoper), vom Animationsgedanken getragenen Stücke und Projekte (Try – try to make your own music, Studie nach der Natur, Ständchen für einen Potentaten, Meine Welt, ich sehe keine andere). Wie die Staatsoperette schlagen auch einige Aufführungen von Kaufmanns Stücken Wellen, etwa Pax oder Music minus one. Skandal und Erregung sind für einen Künstler immer Zeichen dafür, dass seine Kunst zumindest nicht gleichgültig lässt.
Aber was macht eigentlich Kaufmanns Werke zu engagierter oder politischer Kunst? Er selbst geht in einem Referat der Frage nach, inwieweit Musik an sich engagiert sein kann und bezieht sich dabei auf René Leibowitz, der revolutionäre Musik allein aus der musikalischen Revolution hervorgehen sieht und auf Sartre, der noch einen Schritt weiter geht und der Musik das Potential „politisch“ zu sein, überhaupt abspricht: „..wir wissen zur Genüge, dass der „musikalische Satz“ keinerlei Gegenstand bezeichnet: er ist selbst der Gegenstand.“ Jean Paul Sartre, der zwischen Sinn und Bedeutung eines Objekts unterscheidet, sieht die Musik allenfalls als Objekt, das einen Sinn haben kann, keinesfalls aber eine bestimmte Bedeutung. „Eine schöne Stumme mit Augen voll Sinn“ wie die „Mona Lisa“, ist die Musik für Sartre: „Von einem Objekt sage ich, es besitze einen Sinn, wenn es die Verkörperung einer Wirklichkeit darstellt, die zwar darüber hinausgeht, aber nicht außerhalb von ihm greifbar und wegen ihrer Unendlichkeit durch kein Zeichensystem adäquat auszudrücken ist; immer handelt es sich dabei um eine Totalität: Totalität einer Person, eines Milieus, einer Epoche, der menschlichen Natur. Das Lächeln der Mona Lisa bedeutet für mich nichts, aber es hat einen Sinn…“[22]
Dieser Haltung scheint die Auffassung einer „Musik als Botschaft“ im Sinne von Constantin Floros diametral gegenüber zu stehen. Unter dem Begriff „Botschaft“ versteht Floros „eine außermusikalische Idee, eine seelisch-geistige Erfahrung, einen Sinngehalt, der durch das Medium der Musik vermittelt wird.“[23] Meinte man nach 1945, nur durch Zwölftönigkeit kritische Distanz zu den Geschehnissen der Nazizeit ausdrücken zu können, so galten ab 1968 andere Regeln. Das musikalische Material darf wieder, nach Jahren der „Abstraktion“, semantische Spuren tragen, darf Aussagen treffen. Wichtiger Mittler dieser neuen Haltung war sicherlich auch Kaufmanns Lehrer Messiaen.
Musik will sich wieder verständlich machen – insbesondere jene, die von revolutionären Gedanken getragen ist. Eine Revolution, die der Arbeiter nicht versteht, kann nicht funktionieren, Zwölftönigkeit und Serialität sind zu elitär, um für die Revolution geeignet zu sein. Die Komponisten, die wie Nono teilweise auch direkt zu den Arbeitern gehen, sehen ihre Mission darin, allen Menschen die Freuden des Komponierens zu ermöglichen. „Für sie (die Arbeiter) ist Kunst mehr als ästhetische Kontemplation, nämlich eines der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, die Welt, in der sie leben, zu erkennen und zu verändern. An einem Kunstwerk interessiert sie vor allem, ob es ihnen Einsichten zu vermitteln vermag, ob es sie berührt, vor Alternativen stellt, also auf eine Art zur Veränderung der Wirklichkeit beiträgt.“[24]
Auch Hans Werner Henze zeigt sich von der vor allem in Italien starken Animazione-Bewegung beeinflusst: „Ich könnte mir vorstellen, dass Komponieren etwas wird, das alle Menschen tun können, einfach dadurch, dass man ihnen die Hemmungen nimmt. Ich denke, es gibt eigentlich gar keine unmusikalischen Menschen.“[25] Komponisten wie Nono oder Lachenmann vertreten eine gegensätzliche Richtung. In ihren Werken verlangen sie vom Zuhörer eine Haltung, die es ermöglicht, ästhetische Gewohnheiten zumindest zu befragen, wenn nicht zu ändern, und so zu neuen Denkmustern zu gelangen.[26] Kaufmanns Oeuvre vermittelt in vielen Werken zwischen beiden Positionen.
Musik aus einem politischen Bewusstsein heraus zu komponieren, bedeutet für ihn zunächst auch, sie so zu komponieren, dass sie sich nicht politisch missbrauchen lässt. Eine Komposition soll sich durch ihre ästhetische Erscheinungsform der Vereinnahmung durch politische Systeme widersetzen, und das ist nur der Fall, wenn die Musik es dem Hörer nicht zu leicht macht, sondern eine wache und kritische Rezeptionshaltung fordert. Politisch ist er aber auch in seiner ablehnenden Haltung gegenüber jeglichem Mainstream, auch jenem der Neuen Musik. Bemerkenswert ist, dass Kaufmann in einigen seiner frühen experimentellen Werke (Pax, Concertomobil) das Politische direkt durch die Art der Umsetzung thematisiert – eben nicht durch den Text, sondern durch direkte Umsetzung politischer Prozesse in musikalisch/gestisch/sprachliche Aktionen. Die Kritik an der medialen Verwaltung des Menschen und an Machtstrukturen, denen dieser ausgeliefert ist, wird weder durch den Text, noch durch die Musik, sondern durch die Art der Aktionen des Chors auf der Bühne und die Interaktion mit dem Dirigenten sozusagen „dargestellt“. In seiner Volksoper findet Kaufmann wiederum einen anderen Weg. Die Bedeutung ergibt sich hier weder aus dem Text allein, noch aus der Musik allein. Beide haben für sich noch nicht die Bedeutung, die sich erst durch die Kombination beider Ebenen ergibt, die quasi aufeinander verweisen und durch ihre Kombination erst ihre neue Bedeutung erhalten. Carl Dahlhaus sieht die „Volksoper“ als erfolgreichen Versuch, „zwischen musikalisch-dramaturgischer Avanciertheit und politischem Engagement zu vermitteln, also die These zu widerlegen, dass entweder das Engagement die Musik oder umgekehrt die Musik das Engagement erstickt.“[27]
Am Ende dieser Betrachtung soll ein anderer oppositioneller Kopf aus Österreichs kreativen Kreisen zu Wort kommen. Der – für seine strengen Kritiken gefürchtete – Schriftsteller und Theaterkritiker Hans Weigel drückt seine Anerkennung in einem Brief so aus:
Verehrter Dieter Kaufmann,
vor allem: Sie sind ein großer Komponist.
Sie sind nicht mehr Avantgarde.
Sie sind Garde.
1. Lothar Knessl, Österreichisches Komponistenpanorama. Über die Generation nach Cerha und Haubenstock-Ramati, in: Neue Zeitschrift für Musik 140 (1979), Heft 1, S.31f.
2. Hartmut Krones, Dieter Kaufmann: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. In: ÖMZ 11-12/2000, S.41-43
3. Ho., Ziemlich chaotisch und nihilistisch. Musikforum Ossiach: Konzert „Contemporary Contact”. In: Kleine Zeitung, 1.7.1969, S18
4. Pierre Schaeffer, Musique concrète. Von den Pariser Anfängen um 1948 bis zur elektroakustischen Musik heute, Stuttgart 1974, S.85
5. Lothar Knessl, Österreichisches Komponistenpanorama. Über die Generation nach Cerha und Haubenstock-Ramati, in: Neue Zeitschrift für Musik 140 (1979), Heft 1, S. 31f.
6. Barbara Barthelmes, Die 68er Revolte und ihre Auswirkungen auf das Musikleben/Spektrale Musik. In: Helga de la Motte-Haber (Hg.), Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1975-2000, Laaber 2000, S. 245
7. Office de Radiodiffusion Télévision Française
8. Dieter Kaufmann: Konkrete Musik – Phänomen und Bewältigung. In: ÖMZ (Österreichische Musikzeitschrift), Wien, 26. Jg., April 1971, Heft 4, Seite 211-216.
9. Pierre Schaeffer, Musique concrète. Von den Pariser Anfängen um 1948 bis zur elektroakustischen Musik heute, Stuttgart 1974, S.85
10. Christian Glanz, in: Musikgeschichte Österreichs, Bd. 3 Von der Revolution 1848 zur Gegenwart, Wien 1995, S.310
11. Dieter Kaufmann, Pax. In: Musikprotokoll 1970, Programmtexte, Graz 1970
12. 1975
13. Dahlhaus, Umgestülpte Operette. In: Volksoper. Programmheft zur Uraufführung bei den Wiener Festwochen. Wien 1984
14. Gert Jonke, Die Hinterhältigkeit der Windmaschinen oder Ein Schluck Gras löscht jeden Durst im Inland und im Ausland auch., Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1972
15. ebd.
16. Manfred Blumauer, Ossiach: Uraufführung beim Carinthischen Sommer. In: Opernwelt. Panorama, Oktober 1989, S.45f.
17. Maria Georg Hoffmann, Dolores, ein Heldenleben, oder Jedem sein Krieg!, Thomas Sessler Verlag, Wien, 1996
18. Dieter Kaufmann, Die Operette findet statt. In: Kunstpunkt. Zeitschrift der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien. Nr.12/1996, S.17
19. Josef Winkler, Natura morta. Eine römische Novelle, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2001
20. Dieter Kaufmann, Der Sieg über die Sonne 1913 – und der Sieg der Sonne 1991? In: Ton (Herbstton 91)
21. Dieter Schnebel, Autonome Kunst politisch. In: Ders., Denkbare Musik. Schriften 1952-72, Köln 1972, S.474
22. Jean-Paul Sartre, L’artiste et sa conscience, in : Portraits und Perspektiven, Hamburg 1971, zitiert nach Dieter Kaufmann, Musiktheater gegen den Strich, 1993
23. Constantin Floros, Musik als Botschaft, Wiesbaden 1989
24. Luigi Nono, Gespräch mit J. Villain 1973. In: Jürg Stenzl (Hg.), Nono, Texte, Studien zu seiner Musik, Zürich 1975, S.297
25. Hans Werner Henze, Musik ist nolens volens politisch, Gespräch mit J.A. Makowsky). In: Ders., Musik und Poltitik. Schriften und Gespräche, München 1976, S.142
26. Helmut Lachenmann, Musik-Konzepte 61/62, Hg. H.K.Metzger und R.Riehn, München 1988, S.12-18
27. Carl Dahlhaus, Umgestülpte Operette. In: Programmheft zur „Volksoper“ für die Aufführungen bei den Wiener Festwochen, Juni 1984